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Europäische Frühgeschichte: Das Labyrinth des Minos

Das antike Kreta ist eine der faszinierendsten Hochkulturen der Welt. Einen umfassenden Einblick in die Frühzeit dieser Insel bietet derzeit das Badische Landesmuseum Karlsruhe.


Als der englische Archäologe Sir Arthur Evans im Jahre 1900 in Knossos südlich von Heraklion auf der Insel Kreta die umfangreichen Reste einer bronzezeitlichen Palastanlage entdeckte, stieß er in ein noch unerforschtes Kapitel der europäischen Geschichte vor. Der Legende nach hatte hier einst König Minos regiert, der mit seiner mächtigen Flotte das östliche Mittelmeer beherrschte. Zeus, sein göttlicher Vater, soll durch ihn der Menschheit die ersten Gesetze vermittelt haben.

Die minoische Kultur, wie sie Evans nach ihrem mythischen Ahnherren nannte, wird heute auf die Zeit zwischen 3000 und 1200 v. Chr. datiert. Sie gilt damit als die erste europäische Hochkultur überhaupt. Doch selbst hundert Jahre nach Beginn der Epoche machenden Ausgrabungen gleicht unsere Kenntnis darüber in vielem noch immer der Suche nach dem Weg aus dem Labyrinth des Minotaurus, der – hervorgegangen aus einer widernatürlichen Verbindung von Minos’ Frau Pasiphae mit einem Stier – sein Unwesen auf dieser Insel getrieben haben soll. Viele der Fragen, die einst schon das Grabungsteam von Evans beschäftigten, können Spezialisten auch heute nicht abschließend beantworten.

Wer waren die Minoer? Von woher kamen sie nach Kreta, dessen älteste Siedlungsspuren im Gebiet des von Evans erforschten Palastes sogar bis ins 7. Jahrtausend vor Christus zurückreichen? Welche Staatsform schuf sich dieses Volk, dessen politische Stellung im östlichen Mittelmeerraum vermutlich auf seine Vormachtstellung zur See begründet war? Was führte um 1900 v. Chr. zur unvermittelten Entstehung prächtiger Paläste in Knossos, Phaistos oder Mallia – Anlagen, die im Gegensatz zu zeitgleichen königlichen Bauten in anderen Kulturen keinen Befestigungscharakter aufweisen? Und was verursachte die Katastrophe, der um 1500 v. Chr. die minoischen Paläste – mit Ausnahme von Knossos, wo damals etwa 10000 bis 20000 Menschen wohnten – zum Opfer fielen? Auch ist die als Linear A bekannte minoische Schrift noch immer nicht entziffert. Aus diesen Symbolen ging die Linear-B-Schrift hervor, eine Frühform des Griechischen.

Am präzisesten sind gegenwärtig unsere Informationen zur Chronologie der minoischen Kultur. Anhand der Fülle an Keramikfunden konnten Generationen von Wissenschaftlern in mühsamer Kleinarbeit eine äußerst differenzierte Zeitfolge ermitteln. Evans hatte sich seinerzeit noch damit begnügen müssen, die minoische Epoche in nur drei Phasen einzuteilen, die er Vorpalast-, Palast- und Spätpalastzeit nannte (siehe "Minoische Paläste", Spektrum der Wissenschaft 9/1985, S. 106). Durch die Verbreitung der minoischen Keramik ließen sich aber auch ausgedehnte Handelskontakte der Kreter nachweisen – so mit dem griechischen Festland, mit Zypern, der Levante und sogar mit Ägypten. Jüngste Grabungen im Nildelta konnten beispielsweise zeigen, dass kretische Importgüter hier besonders geschätzt waren.

Von der These einer Beeinflussung der minoischen Palastarchitektur durch die Bauten altorientalischer Städte – etwa den Palast der syrischen Stadt Mari – ist die Forschung inzwischen ebenso abgerückt wie davon, die offensichtlich unbefestigten Siedlungen auf Kreta als Ausdruck einer matriarchalischen Herrschaftsform mit einer großen Muttergottheit an der Spitze zu interpretieren. Die suggestive Formensprache und die künstlerische Ausdruckskraft der in Knossos gefundenen "Schlangengöttin" werden dadurch in ihrer Bedeutung jedoch keineswegs gemindert. Diese Charakteristika verweisen vielmehr – ebenso wie die noch immer schwer deutbaren Darstellungen des Stiersprunges auf den Wandfresken der Paläste, in denen auf dem Rücken eines angreifenden Stieres ein Handstand vollführt wird – auf die Frage nach der Religion der Minoer. Diese war nach heutiger Auffassung tendenziell geschlechtsspezifisch: Männer wurden von Göttern, Frauen von Göttinnen beschützt. Ein allgemeines heiliges Symbol war die Doppelaxt.

Aktuelle Forschungsergebnisse spiegeln sich auch in einem Modell des Palastes von Knossos, das eigens für die Sonderausstellung zur minoischen Kultur geschaffen wurde, die derzeit im Badischen Landesmuseum in Karlsruhe zu sehen ist. Dieses Modell präzisiert einerseits das Bild dieser bemerkenswerten Anlage, andererseits lässt es zentrale Fragen zur Architektur anschaulich werden. So ist beispielsweise noch ungeklärt, wie die weiten, zerbrechlichen Flachdächer des Palastes von Knossos die Wassermassen von Wolkenbrüchen bewältigten, die bis zu 300 Millimeter Niederschlag bringen konnten.

Demgegenüber sind sich die Wissenschaftler heute darin einig, dass zwischen den Palästen und den jeweiligen Siedlungen im Umland – einfachen Wohnhäusern, für die von der Forschung der Begriff der "minoischen Villa" geprägt wurde – spezifische Wechselwirkungen bestanden, aus deren Untersuchung sich wichtige Hinweise auf die Struktur der minoischen Gesellschaft ergeben können. In diesem Zusammenhang ist auf das reiche archäologische Material minoischer Siegel zu verweisen: aus Ton geformte Plomben, mit denen Behältnisse oder Gefäße, aber auch Türen und Grabeingänge gesiegelt wurden. Diese tausendfach in den Palästen gefundenen Siegel bieten einen hervorragenden Einblick in die minoische Bilderwelt, und sie liefern Anhaltspunkte sowohl für die Entwicklung der Kunst der Minoer als auch für die Struktur ihrer Wirtschaft. Kretas Beziehungen zu anderen Kulturen des Mittelmeerraumes waren – dies belegen die in der Karlsruher Ausstellung vorgestellten Forschungsergebnisse – weit vielfältiger als bisher angenommen.

Kreta – und insbesondere der Mythos des Minotaurus – gab offenbar schon zu allen Zeiten den Menschen Rätsel auf. In der griechischen Antike wurde beispielsweise über die Etymologie des Namens der Insel nachgedacht, den der griechische Grammatiker Apollodoros von Athen im 2. Jahrhundert vor Christus kurioserweise von der "gut gemischten Luft um die Insel herum" herleitete. Der Philosoph Platon lokalisierte in seinem Werk "Gesetze" den Ursprung menschlicher Gesetzeswerke auf Kreta: Ihm zufolge wurde der wegen seiner Gerechtigkeit gerühmte König Rhadamanthys, ein Bruder des Minos, nach seinem Tode zum Richter in der Unterwelt bestellt. Und der christliche Apostel Paulus, der im Jahre 59 als Gefangener auf die Insel kam, polemisierte in einem Brief an den ersten Bischof von Kreta, Titus, über die Hartnäckigkeit, mit der die Kreter an ihrem Glauben festhielten.

Handelskontakte mit den Ägyptern hat Thomas Mann in seinem Roman "Joseph und seine Brüder" mit der Schilderung von im minoischen Stil ausgemalten Bauten im Nildelta literarisch verewigt. Über den Handel dürfte auch die Kenntnis zu den Kretern gelangt sein, dass die ägyptischen Pharaonen als auf Erden weilende Götter galten. Möglicherweise spiegelt sich in der Legende, dass Zeus auf Kreta nicht nur geboren, sondern auch gestorben ist, noch eine schwache Reminiszenz an dieses Weltbild. Zeus jedenfalls ist neben König Minos, dessen Regierungszeit freilich unbekannt ist, die beherrschende mythische Figur auf der Insel. In der Gestalt eines Stieres, der auf Kreta kultische Verehrung genoss, soll er auf seinem Rücken Europe, die Tochter des phoinikischen Königs Agenor, nach Kreta entführt und sich dort mit ihr vermählt haben. In dieser Stierfigur überlagern sich verschiedene Bedeutungsebenen, die durch Erkenntnisse aus archäologischen Ausgrabungen bisher nur bedingt historisch fassbar wurden.

Denn die Beschäftigung mit der Kultur der Minoer führt letztlich immer wieder zum Mythos des Minotaurus zurück, dem alle neun Jahre je sieben Knaben und Mädchen geopfert werden mussten. Er wurde schließlich von Theseus in der Wohnstatt seines Labyrinth aufgespürt und erschlagen, wobei der Held nur mit Hilfe des Ariadne-Fadens in die Welt zurückfand. Dieser Mythos war auch in der gesamten römischen Welt weit verbreitet.

In Alt-Paphos auf Zypern ziert das Thema von Theseus und Ariadne als kreisrundes römisches Bodenmosaik die Baderäume einer luxuriösen Villa. Und in Pompeji findet sich an einer Hauswand ein Graffiti von Kinderhand: "Labyrinth! Hier wohnt der Minotauros!" Auch in dem ehemals römisch besetzten Teil Kleinasiens sind Mosaike mit Motiven aus dem Minotaurus-Mythos zu finden (siehe "Der zweite Untergang von Zeugma", Spektrum der Wissenschaft 12/2000, S. 96). Wie dieses Labyrinth wirklich aussah, ein Kreisrund oder ein Quadrat, darüber streitet die Forschung heute noch immer. Denn trotz der gewaltigen Ausmaße des Palastes von Knossos, der mehr als 17000 Quadratmeter umfasste, spiegelt der Grundriss dieser Anlage nicht die Struk-tur eines Labyrinthes wider.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 2001, Seite 97
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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