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Das neue Battelle-Verfahren zur Buchkonservierung


In den wissenschaftlichen Bibliotheken Deutschlands sind bereits etwa 30 Prozent der Bestände bis zur Unbenutzbarkeit geschädigt. Betroffen sind paradoxerweise vor allem Druckerzeugnisse und Handschriften neueren Datums: Seit Einführung der Harz-Alaun-Leimung vor 140 Jahren, der Grundlage industrieller Herstellung von Papier aus Holz, enthält das Material Schwefelsäure und säurebildende Substanzen; diese bauen Cellulose ab und lassen deren Fasernetzwerk im Laufe der Zeit verspröden und brüchig werden (Bild 1).

In gleicher Weise wirken Holzinhaltsstoffe – bei Papieren mit Holzschliffanteilen entstehen daraus organische Säuren, vor allem Oxalsäure – und in zunehmendem Maße auch Luftverunreinigungen, insbesondere Schwefel- und Stickoxide. Chemisch-physikalische Untersuchungen zeigen, daß geringere pH-Werte als vier und Säuregehalte von mehr als sieben Gramm pro Kilogramm Papier keine Seltenheit sind.

Die Alterung wird durch ungünstige Aufbewahrungsbedingungen wie Wärme, hohe Luftfeuchtigkeit und Schwankungen des Raumklimas noch verstärkt. Nach 50 bis 80 Jahren läßt sich das Schriftgut dann nicht mehr ohne weiteres nutzen. Sollen wertvolle und in Teilen unersetzliche Bestände in ihrer originalen Form erhalten bleiben, muß man die Säure dauerhaft neutralisieren. Konservatoren wissen zudem seit langem, daß schwach alkalische Papiere – insbesondere wenn sie Verbindungen der Metalle Calcium und Magnesium enthalten – eine sehr viel längere Haltbarkeit haben.

Entsäuerung großer Mengen

Buch- und Papierrestauratoren verfügen zwar über bewährte Methoden und die Ausrüstung, um geschädigte Bücher und brüchige Dokumente wiederherzustellen, doch ist mit handwerklichen und obendrein teuren Verfahren der lawinenartig zunehmenden Schäden nicht Herr zu werden. Vielmehr bedarf es eines Massenentsäuerungsverfahrens, das eine Behandlung gebundener Bücher und abgehefteter Archivalien gestattet.

Daran wird weltweit seit den sechziger Jahren gearbeitet, und einige mittlerweile entwickelte Prozesse sind inzwischen im größeren Versuchsmaßstab erprobt. Alle bisher bekannten Verfahren weisen jedoch eine Reihe spezifischer Nachteile auf.

Als Wirksubstanzen werden gasförmige Chemikalien oder flüssige – wäßrige und nichtwäßrige – Lösungen eingesetzt. Die wichtigsten Gasphasen-Verfahren sind das von der amerikanischen Kongreßbibliothek entwickelte, das mit dem Metallalkyl Diethylzink arbeitet (daher als DEZ-Verfahren bezeichnet), und der Booksaver-Prozeß auf der Basis von Ethylenoxid und Ammoniak. Die Idee der Flüssigbehandlung mit basischen Magnesiumalkoholaten in nichtwäßrigen, organischen Lösemitteln wurde zuerst im Wei T'o-Prozeß in Kanada praktisch umgesetzt; davon wurde später auch eine französische Variante abgeleitet. Als Transport- und Verdünnungsmittel verwenden alle nichtwäßrigen Flüssigverfahren aber bislang noch Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKWs). Damit sind sie wenig umweltverträglich; zudem weiß man heutzutage, daß manche Lösemittel die Beschriftungen angreifen.


Das deutsche Verfahren

Im Rahmen eines 1987 begonnenen Forschungsprogramms gelang es aber Battelle in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bibliothek, ein neues Verfahren für die Massenkonservierung gefährdeten Bibliotheks- und Archivguts zu konzipieren, das die genannten Mängel nicht aufweist (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1989, Seite 38). Es ist mittlerweile anwendungsreif (Bild 2 links).

Die Behandlungschemikalien und Lösemittel wurden eigens dafür entwickelt; insbesondere arbeitet die Anlage ohne FCKWs. Die Tränkungsflüssigkeit ist umweltneutral und gesundheitlich unbedenklich.

Besonders gut zur Entsäuerung eignen sich Calcium- und Magnesiumverbindungen, vor allem deren Alkoholate (nach neuerer Nomenklatur: Alkoxide). Diese reagieren mit der Luftfeuchtigkeit und bilden im Papier Hydroxide, die wiederum mit dem Kohlendioxid der Luft zu Carbonaten als alkalischem Puffer reagieren; der gleichfalls entstehende Alkohol verdunstet langsam aus dem Behandlungsgut.

Allerdings lösen sich diese Verbindungen kaum in organischen Flüssigkeiten, außer in Alkoholen; diese aber greifen sehr stark Tinten und Stempelfarben an. Es galt also, für ohnehin schwer lösliche Stoffe ein geeignetes Medium zu finden, das zugleich ein so geringes Lösevermögen hat, daß es dem Behandlungsgut – bestehend aus Papier, Einbandmaterialien, Leimen, Klebern sowie Tinten, Druck- und Stempelfarben – nicht schadet. Unter dieser Aufgabenstellung sichteten wir zunächst die chemisch-physikalischen Eigenschaften verschiedener in Frage kommender Substanzen und wählten Hexamethyldisiloxan (HMDO) – das kleinste Molekül unter den Silicon-Ölen – wegen seiner Reaktionsträgheit zur eingehenden Untersuchung aus. Es ist eine farblose, keineswegs ölige Flüssigkeit mit einem nur geringen, angenehmen Geruch. Tränkt man Papier damit, greift es Tinten und Stempelfarben nicht an, ebensowenig Buchwerkstoffe wie Einbände oder Kleber. Als sehr flüchtige Substanz ist es bereits nach wenigen Minuten verdunstet.

Im nächsten Schritt galt es, eine Calcium- oder Magnesiumverbindung zu finden, die sich darin löst. Auf die genannten Alkoxide und andere untersuchte Stoffe trifft dies nicht zu. Hingegen eignen sich sogenannte Doppelalkoxide der Metalle Titan und Magnesium mit der allgemeinen Formel Ti(OR)4 · Mg- (OR)2; darin steht Ti für Titan (auch Zirkonium ist geeignet, wenngleich sehr viel teurer) und Mg für Magnesium (an dessen Stelle kann Calcium treten, was jedoch einige technische Probleme mit sich bringt); die Alkoholgruppe OR kann im Grunde von jedem Alkohol gebildet werden, aber aus technischen wie toxikologischen Gründen ist Ethanol am günstigsten.

Bringt man eine solche Lösung ins Papier ein, wandeln sich die Doppelalkoxide nach dem Verdunsten des Lösemittels unter dem Einfluß der Luftfeuchtigkeit zu den Hydroxiden der beiden Metalle um. Kohlendioxid aus der Umgebungsluft bildet dann aus Magnesiumhydroxid Magnesiumcarbonat, also einen für die Entsäuerung und alkalische Pufferung geeigneten Stoff. Titanhydroxid setzt sich im Verlauf der Lagerung zu Titandioxid um – diese Verbindung wird vielen Papieren ohnehin bei der Herstellung in großen Mengen als Weißpigment zugesetzt.

Mit diesem Chemikaliensystem ist es möglich, auch stark saure Papiere auf pH-Werte von 7,5 bis 9,0 zu bringen und den alkalischen Puffer in der erforderlichen Menge von ein bis zwei Gewichtsprozent ohne unerwünschte Nebenwirkungen im Papier zu deponieren. Außerdem werden manche Blätter bis zu 50 Prozent fester als zuvor – vermutlich stabilisiert die Titankomponente das Material durch Bindungen mit der Cellulose.

Die Entsäuerung wird durch eine extrem feine Verteilung des gebildeten Alkali begünstigt. Selbst bei 25000facher Vergrößerung waren in elektronenmikroskopischen Aufnahmen keine entsprechenden Partikel zu erkennen.


Verfahrensablauf

Das Battelle-Entsäuerungsverfahren erfordert kein Vorsortieren zur eventuellen Selektion. Es ist für alle gedruckten Werke, einschließlich Kunstdruckbänden und Büchern mit Ledereinbänden sowie Archivmaterial jeglicher Art und Verpackung geeignet. Konvolute von Dokumenten können in geschlossenen Umschlägen und Archivboxen behandelt werden; Metallklammern und -heftungen stören dabei nicht. Die Materialien werden in Körbe einsortiert und durchlaufen darin den gesamten Prozeß (Bild 2 rechts).

Eine Entsäuerung verläuft in drei Schritten: der Vortrocknung, um die Papierfeuchte zu verringern, der chemischen Neutralisierung und der Nachtrocknung, um das Lösemittel zu entziehen. In der von uns entwickelten Anlage bleibt das Behandlungsgut dabei stets in einer Kammer, die nach dem Befüllen evakuiert wird.

Bei der Vortrocknung bewirkt das Vakuum, daß auch die Luft aus den Poren des Papiers restlos entweicht. Die Temperatur ist auf 50 Grad Celsius beschränkt, um Schäden am Buchblock – insbesondere bei der Rückenleimung – zu vermeiden. Der Vorgang ist nach 48 Stunden abgeschlossen.

Beim anschließenden Tränken läßt der Unterdruck die Behandlungsflüssigkeit in die luftleeren Poren eindringen. Das Papier wird damit in seiner gesamten Struktur erfaßt; das gilt selbst für geschlossene dicke Bücher und Dokumente in Archivboxen. Neutralisation der Säuren und die alkalische Pufferung des Papiers benötigen denn auch nur wenige Minuten.

Nach dem Abpumpen überschüssiger Lösung beginnt die Nachtrocknung, bei der sämtliche flüssigen und flüchtigen Rückstände entzogen werden. Die Bedingungen entsprechen denen der Vortrocknung. Abgesaugte Dämpfe lassen sich in einer nachgeschalteten Anlage durch Abkühlen auskondensieren; das rückgewonnene Lösemittel ist immer wieder zu verwenden. Die Nachtrocknung dauert maximal 24 Stunden.

Anschließend lagert man die Materialien etwa drei Wochen lang in einem speziellen Raum, bis sie ihre normale Feuchte angenommen haben. Dabei geben sie während der Wasseraufnahme kontinuierlich Ethylalkohol ab, der sich von dem eingebrachten Magnesium- und Titanethylat abspaltet.

Die eigentliche Behandlung dauert mithin drei Tage, einschließlich der Wiederbefeuchtung knapp einen Monat. Eine Großanlage, die in ihrem Endausbau eine Kapazität von rund 400000 Büchern jährlich haben wird, ist Anfang 1994 in Leipzig in Betrieb gegangen; alle gefährdeten Bestände der Deutschen Bücherei sollen sie in den nächsten 15 bis 20 Jahren durchlaufen. Das Unternehmen Battelle Ingenieurtechnik erhielt im gleichen Jahr den Innovationspreis der Deutschen Wirtschaft für diese Entwicklung.

Marktanalysen zufolge beabsichtigt die Mehrheit der Bibliotheken in Deutschland – aber auch in anderen europäischen Ländern und Amerika – die Massenkonservierung von papiernen Kulturgütern als Dienstleistung einzukaufen, statt eigene Anlagen zu betreiben. Zur Zeit errichtet unser Unternehmen deshalb an seinem Firmensitz in Eschborn das weltweit erste Entsäuerungszentrum, das 1996 den Betrieb aufnehmen wird. Es soll die Bestände deutscher Bibliotheken und Archive behandeln, aber auch allen nationalen und internationalen Institutionen zur Verfügung stehen. Die nötigen Finanzmittel zur Rettung der geschriebenen und gedruckten Hinterlassenschaft vieler Generationen muß freilich die öffentliche Hand bereithalten – eine Aufgabe der Politik.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1995, Seite 103
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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