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Der kleine Hobbit und das Autostereogramm

Der magische Blick verhilft den Hobbits Bilbo und Frodo sowie dem großen Zauberer Gandalf, ein unüberwindlich scheinendes Hindernis zu durchdringen.

Gandalf, der Zauberer schien nichts getan zu haben. Er stand zwischen den beiden Bäumen und starrte auf die kahle Felswand, als ob er mit den Augen ein Loch hineinbohren könnte...

"Zwergentüren sollte man nicht sehen, wenn sie geschlossen sind", sagte Gimli. "Sie sind unsichtbar, und selbst ihre Meister können sie nicht finden oder öffnen, wenn ihr Geheimnis vergessen ist."

"Aber diese Tür sollte nicht ein Geheimnis sein, das nur den Zwergen bekannt war", sagte Gandalf, der plötzlich wieder lebendig wurde und sich umdrehte. "Sofern nicht alles völlig verändert ist, mögen Augen, die wissen, wonach sie suchen müssen, die Zeichen entdecken."

J. R. R. Tolkien

"Der Herr der Ringe"

Nach tagelanger, mühsamer Wanderung hatten die Gefährten zu ihrer Verwunderung feststellen müssen, daß ihr Weg vor einer Felswand endete (Bild 2). Gandalf, der Zauberer, war überzeugt, daß in der Wand eine Zwergentür versteckt sei; er hatte seine Hände über die rauhe, geschlossene Fläche im Schatten der Bäume gleiten lassen und Wörter einer uralten Sprache gemurmelt, aber nichts hatte sich verändert.

Nun trat er mit feierlicher Langsamkeit einige Schritte zurück, den Blick starr nach vorne gerichtet. Er erweckte den Anschein eines Träumers, mit den Gedanken schon weit voraus in den Minen von Moria und auf dem Wege nach Lorien, als ob das große Hindernis vor ihnen einfach nicht da wäre. Seine Weggenossen wurden äußerst unwillig, denn es schien, als hätte er sie völlig vergessen und kümmerte sich nicht um ihr Weiterkommen.

"Diese Zwergentür ist kein Geheimnis, das nur Zwergen bekannt ist", sagte Gandalf plötzlich. "Für diese Tür braucht man den magischen Blick, dann wird sie sichtbar."

"Du bist der Magier, und wir Hobbits können da nicht mitreden", sagte Bilbo, und Frodo nickte ebenso resigniert.

"Nicht doch", widersprach Gandalf. "Diese Tür kann wirklich jeder sehen, der weiß, wie die Zwerge diesen Stein bearbeitet haben."

"Wieso bearbeitet? Ist das keine normale Felswand?"

"Schau sie dir genau an. Man sieht deutlich sich wiederholende Muster."

Beide Hobbits schauten gebannt hin und entdeckten, daß die Spalten am oberen Rand jeweils zwei Schritt Abstand hatten und sämtlich gleich aussahen. Mehr noch: Wenn man sich zwei Schritte nach links oder rechts bewegte, bot die gesamte Wand nahezu denselben Anblick wie zuvor. Es war, als wäre sie aus lauter gleichen vertikalen Streifen zusammengesetzt.

"Und wo ist das Tor?" fragte Bilbo.

"Ihr müßt die Augen entspannen. Wenn ihr es schafft, durch die Felswand wie durch Luft hindurchzustarren, aber den Blick dennoch auf sie scharfzustellen, könnt ihr den Durchgang sehen."

"Was? Soll ich nun auf die Felswand starren oder hindurch?" fragte Bilbo.

"Ja. Die Konvergenz der Augen auf nahezu unendlich einstellen, aber die Wand fokussieren."

Gandalf, der Bilbos hilflosen Blick bemerkte, versuchte es noch einmal: "Um einen Punkt zu sehen, müssen deine Augen zweierlei tun: Erstens muß sich jedes Auge durch Krümmung der Linse auf die richtige Entfernung zum Punkt scharfstellen. Das nennt sich Akkommodation. Zweitens müssen beide Augen ihre optischen Achsen auf diesen Punkt ausrichten."

"Konvergieren", warf Frodo ein.

Gandalf fuhr fort: "Normalerweise tun unsere Augen, durch lange Seherfahrung geübt, beides zugleich. Wenn du aber das verborgene Bild sehen willst, mußt du diese Kopplung der beiden Aktionen aufheben. Die Felswand soll zwar scharf zu sehen sein, die Augen mußt du jedoch so ausrichten, als ob du auf irgend etwas dahinter starren würdest."

"Aber dann sehe ich doch mit dem linken Auge etwas ganz anderes als mit dem rechten."

"Du schaust an eine andere Stelle. Aber weil die Felswand aus lauter gleichen Streifen zusammengesetzt ist, sehen beide Augen das gleiche Bild, wenn das linke Auge beispielsweise auf eine Felsspalte blickt und das rechte auf die rechte Nachbarspalte."

"Ach so."

"Na ja – fast", fügte Gandalf hinzu und fuhr fort: "Nicht jedem gelingt es, die eingeübte Kopplung zu überlisten. Es ist einfacher, wenn man nahe an die Felswand herantritt und sich dann langsam entfernt..."

"Ich hab's, ich hab's!" rief Frodo und hüpfte vor Freude im Kreis herum. Bilbo war nicht so erfolgreich.

"Fast jeder kann diese Bilder sehen, wenn er nur entspannt genug an die Sache herangeht", sagte Gandalf. Bilbo versuchte sich krampfhaft zu entspannen, wanderte vor und zurück und fühlte sich durch Frodos Herumgehüpfe sehr irritiert. "Wo?" fragte er immer wieder.

"Na hier", erwiderte Frodo und beschrieb seinem Freund in allen Einzelheiten, was zu sehen war.

"Wollt ihr mich zum Narren halten?" fragte Bilbo.

Gandalf wurde wieder ernst. "Willst du wissen, wie die Zwerge dieses Bild geschaffen haben?" Bilbo wollte es wissen, obwohl er immer noch einen bösen Scherz befürchtete.


Stereobilder – Vergangenheit und Gegenwart

Der Zauberer erzählte: "Der Tiefeneindruck eines dreidimensionalen Gegenstandes kommt unter anderem dadurch zustande, daß das linke Auge ein geringfügig anderes Bild wahrnimmt als das rechte. Das hat der britische Physiker Charles Wheatstone (1802 bis 1875) um 1830 entdeckt. Mit einem Stereoskop, einem Gerät, das jedem Auge ein separates Bild vorspiegelt, konnte er erstmalig einen solchen Eindruck künstlich erzeugen. Die beiden Bilder müssen dieselbe Szene aus unterschiedlichen Positionen zeigen und können zum Beispiel von zwei Kameras aufgenommen worden sein, die im Augenabstand montiert sind" (Bild 1 links).

"Muß ich denn mit dem magischen Blick in dieses Stereoskop schauen?" fragte Bilbo.

"Nein. Die Spiegel erlauben es dem Betrachter, die Korrelation der Augenstellung mit der Fokussierung annähernd beizubehalten", erwiderte Gandalf. "Übrigens wurden Stereoskopien sogar gemalt; Salvador Dalí hat mehrere solcher Paare von Ölgemälden geschaffen. Auch Kinofilme wurden nach Wheatstones Ideen produziert. Allerdings gibt man den Zuschauern Brillen mit filternden Gläsern – roten und grünen oder Polarisationsfiltern –, um den Augen verschiedene Informationen zu bieten."

Bilbo war noch immer etwas skeptisch. "Bei den Wheatstoneschen Bildpaaren ist ja im Prinzip schon alles sichtbar. Durch das Stereoskop wird die gleiche Abbildung dann nur noch räumlich. Aber wieso seht ihr ein dreidimensionales Tor in der Felswand, in der ohne magischen Blick nichts dergleichen erkennbar ist?"

"Stereogramme, denen jegliche Bildinformation fehlt, erzeugte erstmals 1959 der gebürtige Ungar Bela Julesz in den Bell-Forschungslaboratorien von AT&T in Murray Hill (New Jersey). Anstelle der bis dahin üblichen Photographien verwendete er als Ausgangsbasis ein Zufallsmuster. Davon berechnete er zwei Varianten derart, daß eine dreidimensionale Information hineingearbeitet wurde. Erst mit Hilfe des Stereoskops vermochte der Betrachter das verborgene dreidimensionale Bild zu erkennen" (Bild 1 rechts).

Frodo schaute das Bild an und sagte: "Ich sehe das auch ohne Stereoskop."

"Das geht, wenn man den magischen Blick anwendet. Die Bilder müssen dann aber klein sein und eng beieinander liegen. Weil man normalerweise nicht auswärts schielen kann, muß ihr Abstand kleiner als der Augenabstand sein."

"Aber hier stehen doch nicht zwei Felswände, sondern nur eine. Irgendwie hängt das mit dem sich wiederholenden Muster zusammen, oder?" fragte Frodo.

"Im Jahre 1979 erzeugten Christopher Tyler und Maureen Clarke am Smith-Kettlewell-Augenforschungsinstitut in San Francisco die ersten Autostereogramme: einzelne Bilder, in denen gleichsam beide Teile eines Stereobildpaars enthalten sind. Tyler kam auf die Idee, nachdem er öfters an Tapetenmustern den Eindruck hatte, die Tapete schwebe vor oder hinter der Wand. Das funktionierte, wenn das Muster sich horizontal wiederholte mit einem Abstand, der kleiner als der Augenabstand war. Aus Versehen kann man an einem solchen Muster in den magischen Blick verfallen. Tyler kombinierte die Zufalls-Stereogramme mit dem Tapeteneffekt und erzeugte so dreidimensionale Bilder, die für sich allein und ohne Betrachtungshilfe bereits den Stereoeffekt erzielen."

"Schade", überlegte Frodo laut. "Ich hätte nicht auf Rosie hören sollen. Sie bestand auf Rauhfasertapete, aber eine Mustertapete wäre bestimmt interessanter gewesen."

"Das glaube ich kaum. Die üblichen Mustertapeten enthalten keine Tiefeninformation. Vielmehr scheint die komplette Tapete etwas vor- oder zurückzustehen."

Auf einmal begann Bilbo, der den Ausführungen von Gandalf schon lange nicht mehr zugehört hatte, loszujubeln.

"Ich sehe das Tor, ich sehe das Tor!"

"Wie schön. Jetzt glaubst du uns vielleicht, daß wir dich nicht zum Narren halten wollten", sagte Frodo.

"Aber wie haben die Zwerge nur die Felswand behauen?"

"Nur Geduld", erwiderte Gandalf. "Laß dir zuerst den Tapeteneffekt erklären. Wenn wir mit dem magischen Blick eine Mustertapete betrachten, sieht jedes der beiden Augen ein Musterelement, aber eben nicht dasselbe. Das rechte Auge sieht stets das rechte Nachbarelement dessen, was das linke Auge sieht. Wenn wir jetzt Sehstrahlen von den Augen zu den Musterelementen ziehen, erkennen wir, daß hinter der realen Tapete eine virtuelle Tapete erscheint. Diese ist es, die wir mit dem magischen Blick wahrnehmen. Ordnet man die Musterelemente der Tapete nun nicht mehr in gleichen Abständen an, so wirken sie auf der virtuellen Tapete unterschiedlich weit entfernt, und zwar um so weiter, je größer der Abstand zweier Elemente ist" (Bild 4).

"Das kann man über den Strahlensatz erklären!" warf Frodo ein.

Autostereogramme

"Richtig" sagte Gandalf. "Weil die Augen bei größerem Musterabstand weniger stark einwärts schielen, treffen sich die Sehstrahlen weiter hinten. Die Zwerge haben nun, als sie die Felswand präparierten, das umgekehrte Problem gelöst: Sie wollten ein virtuelles Tor bauen, das heißt, sie gaben für jede Stelle der Felswand vor, wie weit entfernt sie dem Betrachter erscheinen sollte. Daraufhin gaben sie dem Gestein eine derartige Struktur, daß genau dieser Eindruck zustande kam."

"Wie haben sie das gemacht?"

"Sie haben einen vertikalen Streifen einfach unverändert gelassen. Dem benachbarten Streifen gaben sie dieselbe Struktur entsprechend verschoben – fast! Um genau zu sein: Sie konstruierten den neuen Streifen Punkt für Punkt nach dem Vorbild des alten Streifens. Dabei wählten sie die Entfernung jedes neuen Punktes zum Originalpunkt proportional dem Tiefeneindruck, den das virtuelle Tor an dieser Stelle haben sollte" (siehe Kasten Seite 12).

"Und dann immer so weiter?"

"Genau."

Gandalf bat seine Freunde nun, genau vor der Mitte der Felswand Aufstellung zu nehmen und sich mit aller Kraft auf das Tor zu konzentrieren, das sich vor ihren Augen auftat. Nachdem er sich sorgfältig vergewissert hatte, daß allen der magische Blick gelang, nahm er sie an der Hand – und führte sie ungehindert hindurch!

Mit einem Mal wurde es finster. Erst als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahmen sie einen sorgsam aus dem Fels geschlagenen Stollengang wahr, in den aus einer weit entfernten Felsspalte ein schwaches Dämmerlicht fiel.

"Wir sind ja in den Minen von Moria!" rief Bilbo erstaunt aus. "Aber wie haben wir die Felswand durchdrungen?"

"Durch das Tor", erwiderte Gandalf lächelnd.

"Aber das war doch nur ein virtuelles Tor..."

"Vergiß nicht, daß wir Romanfiguren sind. Wenn in einer virtuellen Welt ein virtuelles Wesen durch ein virtuelles Tor schreitet – wo ist da der Widerspruch?"

Literaturhinweise

- Stereogram. Herausgegeben von Seiyi Horibuchi. Cadence, San Francisco 1994.

– Displaying 3D Images: Algorithms for Single Image Dot Stereograms. Von Harold Thimbleby, Stuart Inglis und Ian Witten. Erhältlich über Internet durch anonymous ftp von katz.anu.edu.au.

– Im Rausch der Tiefe. Von Ute Claussen und Josef Pöpsel in: c't, Juli 1994, Seiten 230 bis 238.

– Das Magische Auge, Bände I, II und III. Von N. E. Thing Enterprises. arsEdition, München 1994.

Ein Diskettenprogramm der Autoren bietet Ihnen die Möglichkeit, am PC Autostereogramme selbst zu erstellen. Zahlreiche Muster- und Tiefenbilder können frei kombiniert werden. Das Programm verarbeitet auch Bilder im PCX-Format, die Sie aus beliebiger Quelle hinzufügen können. Für diejenigen, die das Programm selber modifizieren möchten, liegt der Quellcode in Pascal bei.

Das Programm läuft auf IBM-kompatiblen PCs mit VGA-fähiger Graphikkarte unter MS-DOS. Auf der Festplatte sind ungefähr 4 Megabyte Speicherplatz erforderlich.

Sie können es zum Preis von DM 49,- beim Verlag beziehen (siehe Anzeige auf Seite 31).


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1995, Seite 10
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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