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Der Mittlere Weg der Erkenntnis. Die Beziehung von Ich und Welt in der Kognitionswissenschaft - der Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Theorie und menschlicher Erfahrung


Wer mit den Konzepten der Forschungsrichtung Künstliche Intelligenz (KI) oder mit Expertensystemen arbeitet, pflegt intelligentes Verhalten eines Systems als Folge regelbestimmter Handlungsweisen zu deuten. Die Regeln beziehen sich auf eine Welt außerhalb des Systems, entspringen somit Repräsentationen der äußeren Welt und nicht einer ursprünglichen inneren Struktur des Systems selbst.

Der Neurowissenschaftler kann versucht sein, diesen Repräsentationsbegriff zu akzeptieren, weil er bei der Untersuchung des Nervensystems – insbesondere des Gehirns – erkennt, daß sich eine Außenwelt fein säuberlich als Karten (maps) in zum Teil topologisch schwieriger Form wiederfindet. Der Repräsentationsbegriff der KI geht über diesen rein topologischen Gesichtspunkt noch hinaus: Es werde nicht nur die räumlich-zeitliche Anordnung von Gegenständen der äußeren Welt repräsentiert, sondern auch deren Funktion.

Betrachten Sie zwei Personen – Marvin und Francisco – beim Schachspiel. Wenn nun der eine brütend im Kopf die nächste Figur bewegt, während der andere dies auf dem Brett tut, kann man nun sagen, die Figur habe sich im Kopf anders bewegt als auf dem Brett? Marvin wird sagen, eine symbolische Kopie der Figuren und der symbolische Weg auf dem Brett wiederholten sich im Gehirn. Francisco wird energisch bestreiten, daß sich die Schachsymbole als Symbole selbst darstellten und das Hirn mit ihnen manipuliere wie die Hände mit den Figuren.

Der chilenische, in Paris tätige Neurobiologe Francisco Varela, Evan Thompson, der nach der Promotion in Philosophie in Toronto an der Tufts-Universität in Medford (Massachusetts) arbeitet, und die Ethnopsychologin Eleanor Rosch hinterfragen diesen kognitionswissenschaftlichen Begriff der Repräsentation. Er unterstelle zweierlei:

– Es gibt eine Welt (außen) und ein Selbst (innen). Die Welt als solche ist objektiv.

– Struktur und Funktion dieser objektiven Welt werden auf dem Hirn symbolisch repräsentiert, wobei das Selbst ohne diese Landkarte der Welt nicht zurechtkommen könnte.

Die Frage nach der Objektivität der Welt als solcher verläßt den kognitionswissenschaftlichen Bereich und nähert sich dem philosophischen Problem von naturwissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt. Jedenfalls deuten die Autoren die Suche nach objektiver Erkenntnis als Ausdruck einer tiefen Angst davor, in Chaos und Bodenlosigkeit zu fallen, wenn da nicht eine solche reale Welt objektiv existierte. Eine solche Angst nennen sie „kartesianisch“ nach der Beschreibung durch den Philosophen und Mathematiker René Descartes (1596 bis 1650) in seinen Meditationen.

Aus diesen Überlegungen heraus entwickeln die Autoren ein Modell, in dem die „objektive Welt“ nicht jenen bestimmenden Vorrang hat. Innere und äußere Strukturen sind demzufolge gleichwer-tig und im wesentlichen unabhängig voneinander. Der Austausch zwischen den Welten beziehungsweise zwischen Selbst und Welt geschieht mittels einer strukturellen Koppelung.

Dies soll der „Bittorio“ erläutern, ein bestimmten Störungen ausgesetzter zellulärer Automat. Die Lebensgeschichten der Bittorios zeigen, daß bei den meisten Regeln (eine Regel definiert einen Bittorio) Störungen überhaupt keine Konsequenzen haben.

Hier leuchtet nicht ohne weiteres ein, daß die geschilderten Störungen, wie behauptet, einem äußeren Milieu entstammen, da die Zustände des Bittorios gelegentlich willkürlich anders gesetzt werden. Des weiteren fehlt eine für biologische Strukturen so wichtige und typische Grenzschicht zwischen innerem und äußerem Milieu in diesem Modell. Es wäre verdienstvoll, zwei unterschiedliche Milieus in der Art von zellulären Automaten zu konstruieren, durch eine „Zellmembran“ voneinander getrennt, um die Art ihrer Wechselwirkungen zu studieren.

Die Autoren wollen zwischen den beiden Sichtweisen „innen“ und „außen“ vermitteln. Dies ist der „mittlere Weg“ zwischen „Hennenposition“ und „Eiposition“. Dabei ist die Hennenposition die Auffassung, die Außenwelt habe vorgegebene Eigenschaften und gehe dem auf das Kognitionssystem projizierten Bild voraus. Nach der Eiposition dagegen entwirft das Kognitionssystem seine Welt, wobei das, was wir für die Realität halten, nur Widerspiegelung interner Gesetze des Systems ist. Nach Ansicht der Autoren ist aber Kognition weder innere Rekonstruktion der Außenwelt noch Projektion einer Innenwelt nach außen, sondern ein verkörpertes Handeln. Damit ist gemeint, „daß Wahrnehmung und Handlung in der lebendigen Kognition prinzipiell nicht zu trennen sind“ (Seite 238). Dieses Konzept geht fließend in das der „Inszenierung“ über. Werde nämlich Kognition erst einmal als verkörpertes Handeln erkannt, sei zu sehen, „daß die kognitiven Fähigkeiten untrennbar mit Lebensgeschichten verbunden sind, die Wegen ähneln, welche erst im Gehen gebahnt werden.“ Damit ist Inszenieren das Hervorbringen einer Welt.

Rodney Brooks, KI-Forscher am Massachusetts Institute of Technology und Erbauer intelligenter Roboter, unterstützt die Theorie von der inszenierenden Kognition mit seinem Ansatz einer Intelligenz ohne Repräsentation: Letztere sei eine falsche Abstraktionseinheit, wenn es um den Bau der wichtigsten Teile intelligenter Systeme gehe.

Häufig werden, um Kognition zu erklären, Evolutionstheorien bemüht. Diese müssen sich darum die gleichen kritischen Fragen stellen lassen wie die Kognitionstheorien auch: Wenn Evolution die Anpassung von Organismen an eine vorgegebene Welt bedeuten soll, wer sagt denn, daß es eine solche Welt gibt? Oder kann vielleicht umgekehrt formuliert werden, daß die Umwelt den Lebewesen nicht als äußere Struktur aufgezwungen wird, sondern faktisch ihre Schöpfung ist? Hier wäre wiederum erst ein mittlerer Weg zu finden.

Nur eine Linie des facettenreichen Buches konnte hier verfolgt werden. So blieb die Beziehung von buddhistischer Ichlosigkeit und der von der KI geschilderten Ichlosigkeit der „Society of Mind“ Marvin Minskys (deutsch „Mentopolis“; besprochen in Spektrum der Wissenschaft, Mai 1992, Seite 138) ausgespart. Varelas Buch „Kognitionswissenschaft – Kognitionstechnik“ (hier besprochen im März 1992, Seite 135) enthält sehr ähnliche Gedanken.

Außer überraschenden Paradoxien bietet das Buch umfangreichen Wissensstoff und an vielen Stellen Anregungen zu weiterem Nachforschen. Jedoch warnen die Autoren vor einem Haften an einem solchen Wissensstoff und eröffnen einen ethischen Diskurs, dem schwer zu folgen ist. Dabei scheinen die Dilemmata einer wissenschaftlichen Kultur gut analysiert, die Lösungen eher schwer nachvollziehbar und kaum umsetzbar.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1993, Seite 109
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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