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Der Untergang von Pompeji

Ein bislang noch wenig erforschtes Häuserviertel liefert überraschende Details zum Ablauf der Katastrophe im Jahre 79, und die bislang so sicher scheinende Chronologie der Ereignisse gerät ins Wanken.


Pompeji, eine Stadt, deren Ende Geschichte machte. Schon seit der Gründung durch griechische Siedler war sie für ihr mildes Klima und die fruchtbaren Gärten an den Hängen des Vesuvs berühmt. Im Römischen Reich galt sie als eine der schönsten Städte, und reiche Bürger errichteten dort gern ihre Villen – es ließ sich leben in Pompeji. Doch mindestens 2000 Menschen starben, als der Vesuv erwachte und glühende Asche über das Land schickte. Die Chronologie dieser Katastrophe glaubten Archäologen und Vulkanologen bis vor kurzem recht genau zu kennen, doch unsere Funde in einem noch kaum beachteten Grabungsareal lassen Zweifel aufkommen.

Unter Aschen, Bimssteinen und anderem Auswurfmaterial begraben, wurde Pompeji von den Römern aufgegeben und in der Folge vergessen. Erst im ausgehenden 17. Jahrhundert kamen Artefakte beim Bau von Wasserleitungsgräben und Bewässerungsteichen wieder zum Vorschein. Ironie des Schicksals: Anlass der Arbeiten war der gleichfalls verheerende Ausbruch des Vulkans vom 16. Dezember 1631. Er hatte unter anderem Wein-, Obst- und Gemüsegärten zerstört, die mittlerweile auf dem fruchtbaren Ascheboden gediehen, der die antiken Städte überdeckte.

Wissenschaftliche Archäologie war damals unbekannt. Der neapolitanische Hof, auf sein Ausgrabungsmonopol bedacht, suchte vor allem das königliche Museum durch spektakuläre Funde zu schmücken. Erst 1860 beauftragte König Viktor Emanul II. (1820–1878), der Italien unter seiner Herrschaft einte, den Archäologen Giuseppe Fiorelli (1823–1896) mit der wissenschaftlichen Erkundung. Versucht hatten es schon andere vor ihm, doch er war der Erste, der die Arbeiten dokumentierte und systematisch den antiken Stadtplan ermittelte. Fiorelli ging methodisch vor und ließ jedes Haus vom Dach bis zum Fußboden schichtweise ausgraben. Gut drei Viertel der einst rund 63 Hektar großen und von einer drei Kilometer langen Mauer umschlossenen Stadt sind mittlerweile freigelegt. Fiorelli hatte auch das Areal in neun Regionen unterteilt, deren einzelne Häuserblocks – genannt insulae (lateinisch für "Inseln") – beziffert und die Eingangstüren an den Straßen nummeriert; so ist jedes Gebäude mit einem Zahlentripel zu lokalisieren.

Seit 1987 erprobt das archäologische Denkmalamt von Pompeji in der insula 12 der Region IX bei Grabungen einen neuen Ansatz: Bei der Untersuchung dieses Ruinenkomplexes an der Via dell’ Abbondanza, der ehemals wichtigsten Einkaufs- und Durchgangsstraße, koordiniert ein Archäologe die Arbeiten eines interdisziplinären Teams. Geologen und Ingenieure, Botaniker, Zoologen und Ernährungswissenschaftler prüfen jeden Fund und Befund, um so viele Informationen wie möglich zu erlangen.

Auf diese Weise gewannen wir neue Einblicke in die Welt der Antike. Indem wir die einfache Suche und Bergung der historischen Relikte durch eine systematische Analyse der Fundumstände ergänzten, gelang eine zuverlässige Rekonstruktion der Abfolge und der Charakteristika der verschiedenen Phasen des Vesuvausbruchs am 24. und 25. August 79; des Weiteren erhielten wir zahlreiche neue Erkenntnisse über das Leben der Einwohner Pompejis in den Jahren und Tagen vor der Katastrophe.

Die insula 12 wird gemeinhin nach einem dort entdeckten Fresko insula dei Casti amanti (Insel des züchtigen Liebespaares) genannt. Bei der Ausgrabung bemühten wir uns, alle antiken Hinterlassenschaften in der ursprünglichen Fundlage zu belassen. Das vermittelte ein in vieler Hinsicht höchst beeindruckendes Bild von den Auswirkungen des Vulkanausbruchs auf Menschen und Tiere, auf die Bauwerke und Gegenstände.

Stahlrohrgerüste ermöglichten beispielsweise, selbst jene Gebäudeteile, die in die Auswurfmassen des Vesuvs und in den Brandschutt gestürzt waren, in der Fundlage zu befestigen und darunter weiterzugraben – so zum Beispiel bei einem Fußboden vom zweiten Stock eines Hauses, der auf die bis in den ersten eingedrungenen vulkanischen Aschen und Schlacken abgesackt war. Auf derselben Ascheschicht lag auch der obere Teil einer Zwischenwand, den eine Erdstoß losgerissen hatte; noch jetzt kann man ihn in drei Metern Höhe sehen, einen Meter oberhalb der zugehörigen Basis.

Pyroklastisches Material – in glutflüssigem Zustand zersprühte Lava, die beim Niederfallen zu Bims erstarrt oder zu mehr oder minder groben Tuffteilchen verbacken war, und durch Hitze zu Körnchen zersprengtes festes Gestein – hatte offenbar diese Zwischenwand zunächst aus der ursprünglichen Position gedrückt. Dass diese Wand dabei nicht zerbrach, ist der erste archäologische Nachweis heftiger Erdstöße einige Zeit nach den urgewaltigen Eruptionen des Vesuvs.

Noch interessanter sind die Anzeichen von Erschütterungen, die kurz vor dem Ausbruch Zerstörungen angerichtet haben müssen. Aus antiken Aufzeichnungen weiß man schon lange, dass Jahre zuvor, am 5. Februar 62, ein schweres Erdbeben die Region heimgesucht und zahlreiche Gebäude in Trümmer gelegt hatte, darunter viele aus der hellenistischen, vorrömischen Vergangenheit. Mit Unterstützung des Kaisers waren die Orte aber bis zum August 79 wiederaufgebaut worden, und zwar im damals modernen Baustil der Kaiserzeit. Schäden durch Folgebeben heben sich demzufolge deutlich ab.

Dazu gehört auch eine sicherlich starke Erschütterung anscheinend nur wenige Tage vor dem finalen Unheil, wie ein archäologischer Befund im Straßenverlauf östlich der insula dei Casti amanti zeigt: Frisch ausgehobenes Erdreich häufte sich neben vier Abwassergräben verschiedener Häuser. Die plausibelste Erklärung: Beben ließen die Wände der Gräben einstürzen und verstopften sie so; offensichtlich waren Arbeiter noch dabei, den Schaden zu beheben. Auch sonst scheint das Leben noch einigermaßen normal verlaufen zu sein, denn im Stall einer Bäckerei entdeckten wir die Skelette von sechs Eseln und einem Maultier; offenbar wurden sie noch als Arbeitstiere gebraucht, als der Hagel vulkanischen Materials einsetzte.

Diese Ergebnisse sind bedeutsam für die Chronologie der letzten Tagen von Pompeji. Unseres Erachtens nach haben die zeitgenössischen Schilderungen des starken Erdbebens im Jahre 62 den Archäologen lange den Blick verstellt. 17 Jahre danach waren die Ortsansässigen keineswegs noch damit befasst, damals unterbrochene Wasserleitungen zu reparieren oder Gebäudeschäden zu beseitigen. Die Fundumstände belegen deutlich, dass Reparaturmaßnahmen eher den Folgen späterer Beben galten. Dafür gibt es auch historische Belege, nämlich zwei Briefe des Augenzeugen Plinius des Jüngeren (61/62–um 113) an den römischen Geschichtsschreiber Cornelius Tacitus (vermutlich um 55–115). Darin schilderte er den Vesuvausbruch von 79 und berichtete, zunächst habe an vielen Tagen die Erde gebebt.

Augenzeugenbericht und Schichtenfolge im Vergleich

Vornehmlich unsere letzte Grabungskampagne lieferte sehr wichtige Aufschlüsse über den Hergang der Katastrophe. Dabei konzentrierten wir uns auf den westlichen Teil der insula 12 und ein zugehöriges Gässchen. Zudem verglichen wir die stratigraphischen Befunde – also die Daten zu den verschiedenen Schichten, die den Fundort bedeckten – mit den Briefen des Chronisten. Darin berichtete er unter anderem über die Versuche seines Onkels Plinius des Älteren (23/24–79), mit seiner im nahe gelegenen Kriegshafen Misenum stationierten Flotte den in Not Geratenen zu helfen. Plinius der Ältere, Verfasser der bis Ende des Mittelalters maßgeblichen "Naturgeschichte", fand dabei den Tod. Auch diese Berichte stellen unseres Erachtens nach die bisher als gesichert geltende Chronologie in Frage.

Eine erste Eruption, die den Schlot des Vesuvs öffnete und das verheerende Geschehen einleitete, begann bereits am Morgen des 24. August. Betroffen waren die Gegend östlich des Vesuvs, auf die mehrere Zentimeter hoch weiße Asche rieselte, und das Küstengebiet. Von dort erhielt Plinius der Ältere kurz nach 13 Uhr den Brief einer guten Freundin mit der Bitte, die Menschen mit seiner Flotte zu evakuieren.

Bei dieser Eruption blieb Pompeji noch verschont. Erst während einer zweiten, in der nach dem Römer benannten plinianischen Phase, hagelte Bimsstein dermaßen auf die Stadt nieder, dass sich eine 240 Zentimeter mächtige Schicht bildete.

Plinianische Eruptionen – der Vesuvausbruch ist typisch für eine bestimmte Klasse von Vulkanen – verlaufen außerordentlich explosiv. Innerhalb weniger Stunden können dabei durch das Gangsystem des jeweiligen Vulkans einige Kubikkilometer Magma aufsteigen. Die daraus vehement entweichenden Gase stoßen Reste des Pfropfs im Schlot hoch, reißen glühende Lavafetzen mit und Felsbrocken aus der Kraterwand. Der Materialstrom rast bis zu mehrere hundert Meter pro Sekunde schnell empor und bildet oberhalb des Kraters eine säulenartige Wolke, mitunter mehr als zehn Kilometer hoch und nach oben verbreitert. Die schweren Bestandteile – so genannte Bomben mit Durchmessern bis zu mehreren Metern und kieselgroße Lapilli – gehen in der Nähe nieder, die feineren Teilchen weiter entfernt. Plinius der Jüngere beschrieb die Wolke, die am frühen Nachmittag des 24. August 79 aus dem Vesuv hochschoss, so: "Ihre Gestalt lässt sich am besten mit der einer Pinie vergleichen, sie hob sich nämlich wie auf einem sehr hohen Stamm empor und teilte sich dann in mehrere Äste ... und breitete sich allmählich aus."

Der Materialstrom kann für etliche Stunden anhalten, durch immer neues Magma von ähnlich chemisch-physikalischer Konsistenz genährt. Unterdes sucht sich flüssige Lava ihre Wege talwärts. Lässt die Zufuhr gashaltiger Schmelze nach, bricht die Eruptionssäule in sich zusammen. Die heißen festen oder im Fluge verfestigten Stoffe gehen dann an den Flanken des Vulkans lawinenartig nieder; man spricht von einem pyroklastischen Fluss oder einer nuage ardente, einer glühenden Wolke. Weitere Folgen können surges (sich am Boden entlangwälzende Wolken heißer schwerer Gase, darunter Schwefelverbindungen) und lahars (Schlammlawinen) sein.

Charakteristisch für die plinianische Phase ist ein immer dichterer Hagel von Bimssteinen. Diese porösen Brocken aus glasartig erstarrter Schmelze bildeten zwei Schichten, die untere aus leichterem weißem und die obere aus grauem Material. Binnen zweier Stunden nach Beginn des Schauers, während sich die Einwohner in Sicherheit zu bringen suchten, bildete der weiße Bims eine Lage von mehr als einem Meter Höhe.

Im Laufe des Nachmittags löschten einige niedrig dahinziehende Gaswolken im benachbarten Herculaneum sowie in Oplontis und in der Villa Regina in Boscoreale alles Leben aus. Stratigraphisch entspricht diesem tragischen Vorgang eine Ascheschicht am Übergang zwischen den weißen und den grauen Bimsablagerungen. Pompeji hatten die tödlichen Gaswolken zu dieser Zeit zwar noch nicht erreicht, dafür nahm aber die Größe der herabhagelnden Bimssteine dort weiter zu; ihre nun dunklere Färbung zeugt von einer Veränderung in der chemischen Zusammensetzung. Schließlich erreichte die Schicht vulkanischen Materials die oberen Stockwerke der Häuser.

Nach bisheriger Schätzung dauerte die plinianische Phase etwa 19 Stunden. Unsere stratigraphischen Befunde deuten jedoch auf eine längere Unterbrechung – eine Übergangsphase – zwischen ihr und dem weiteren Verlauf des Ausbruchs hin. Daraus folgt aber auch, dass der eigentliche Beginn der Eruption um einiges vor den Morgen des 24. August zurückzudatieren ist. Eine erneute Beschäftigung mit dem ersten Plinius-Brief legte sogar mehrere Pausen vulkanischer Aktivität nahe; zudem vermochten wir die Etappen der Hilfsaktion von Plinius dem Älteren mit den einzelnen Eruptionsphasen zeitlich abzugleichen.

Demnach steuerten die Quadriremen – Kriegsschiffe mit vier Ruderreihen übereinander – am späten Nachmittag des 24. August unter Schauern heißer Asche und Lavabrocken Herculaneum an. Doch hatte sich die Landschaft bereits so verändert, dass Plinius kaum mehr das Ufer erkennen konnte. Wir vermuten, dass bereits mächtige pyroklastische Ströme in die Stadt eingedrungen waren, sie vielleicht sogar vollständig begraben und sich auch schon weit ins Meer vorgeschoben hatten.

Die Schiffe drehten deshalb in südöstlicher Richtung nach Stabiae ab, wo sie bei Sonnenuntergang anlegten. Zu diesem Zeitpunkt endete nach unserer Auffassung die plinianische Phase, denn andernfalls, nämlich bei starker vulkanischer Aktivität, hätte Plinius kaum landen können. Auch schien die Situation wohl nicht unmittelbar bedrohlich: Der Kommandant begab sich zur Villa des Pomponianus, wo er zunächst ein Bad nahm und zu Abend aß. Erst dann trat er auf die Terrasse hinaus, um sich ein Bild von der Lage zu machen.

Plinius der Jüngere berichtete: "Indessen loderten über dem Vesuv gewaltige Feuerbrände, und überall hüpften die Flammen, deren Leuchten in der dunklen Nacht nur noch heller erschien." Aber sein Onkel suchte die Gastgeber zu beruhigen, das seien aus Furcht verlassene Bauernhöfe oder Villen, die nun brannten, weil niemand die offenen Herde bewacht habe. Daraufhin legte er sich demonstrativ hin und fiel in tiefen Schlaf (am Morgen des 26. August, als sich der Rauch gelichtet hatte, wurde der Römer tot am Strand gefunden, erstickt an vulkanischen Gasen).

Feuer und Wasser begegnen sich in einer neuen Ausbruchsphase

All diese Befunde belegen unseres Erachtens, dass die plinianische Phase nicht länger als sechs Stunden dauerte, nämlich von etwa 13 Uhr bis zum Sonnenuntergang des 24. August; dann setzte die weniger explosive Übergangsphase mit einem intensiven Aschenregen ein. Daraus ergibt sich eine fast dreifach größere Stärke des Vesuvausbruchs, als Steven Carey und Haraldur Sigurdsson 1987 geschätzt hatten. Die Vulkanologen von der Universität von Rhode Island in Narragansett waren nämlich von einem Auswurf der vulkanischen Massen bis zum Morgen des 25. August – also fast dreimal so lange – ausgegangen.

Die starken Beben, die in der Nacht vom 24. auf den 25. August in Misenum und Stabiae deutlich wahrgenommen wurden, kündigten mit großem Getöse eine neue Phase des Vesuvausbruchs an. Solche Beben entstehen in etwa fünf Kilometer Tiefe infolge einer heftigen Reaktion zwischen Magma und wasserführenden Schichten. In nächster Umgebung des Vulkans lösten die Erschütterungen Berg- und Erdrutsche aus, und in Pompeji stürzten, wie schon erwähnt, zu diesem Zeitpunkt Wände in den oberen Stockwerken der Gebäude ein.

Die Spuren dieser Beben in den Ablagerungsschichten zeigen deutlich, dass die Zäsur zwischen den einzelnen pyroklastischen Flüssen nicht, wie allgemein angenommen, mit dem Zusammenstürzen der Magmasäule im Vesuv zusammenhängt; der Aufstrom von Schmelze aus der Tiefe war nämlich bereits versiegt. Vielmehr erweisen unsere Befunde eine Wiederaufnahme vulkanischer Tätigkeit durch einen anderen Effekt.

Vulkanologen mögen die Phänomene zeitlich verschieden einordnen; aber alle stimmen darin überein, dass die Reaktion glutflüssigen Gesteins mit wasserführenden Schichten entscheidend für einen Wechsel der Eruptionsart ist. Tatsächlich lässt sich das Einsetzen einer solchen "hydromagmatischen Phase" beim Vesuvausbruch von 79 stratigraphisch deutlich erkennen: als Ablagerung von Erbsensteinen (Pisolithen). Solche kugelförmigen Konkretionen, die sich durch das Zusammenkleben feuchter Asche bilden, haben Takuo Yokoyama und einer von uns (Marturano) 1997 als durchlaufende, einige Zentimeter dicke Schicht in den oberen Ascheablagerungen entdeckt. In den Schichten der gesamten plinianischen Phase fanden wir nichts Vergleichbares, die Reaktion von Wasser und Magma fand offenbar erst danach statt. Zwischen der plinianischen Phase und jener der pyroklastischen Flüsse ließen zwar die Eruptionen nach, doch die seismische Aktivität nahm an Intensität zu.

Wir haben im bislang nicht freigelegten Bereich entlang der schmalen Straße westlich der insula dei Casti amanti in Nord-Süd-Richtung einen rund 30 Meter langen und drei Meter tiefen Grabungsschnitt angelegt, an dem die Schichtenfolge dieser zweiten Phase des Vulkanausbruchs klar zu erkennen ist. Oberhalb der Bims- und der dünnen Ascheschicht mit den Pisolithen liegen Ablagerungen, die charakteristisch für pyroklastische Flüsse sind und von sechs verschiede-nen Eruptionen herrühren. Diese Materialströme trafen aus unterschiedlichen Richtungen auf Gebäude, die zu diesem Zeitpunkt wohl kaum mehr als solche zu erkennen waren.

Der Erste dieser Ströme hinterließ ein Sediment von nur drei Zentimetern Höhe (eu 1 genannt). Seine Wucht hatte er unterwegs bereits weitgehend eingebüßt, und seine Temperatur war vermutlich verhältnismäßig gering.

Dann folgte eine Eruptionspause, während der die noch niedersinkenden und schon abgelagerten Lockerstoffe durch starken Wind verweht und in alle Hohlräume geblasen wurden. Dies zeigt im Schnittprofil eine Lage grauer und dunkelgrauer Asche zwischen eu 1 und der daraufliegenden Schicht. Einige noch verbliebene Einwohner Pompejis verließen in diesem Moment scheinbarer Ruhe schützende Winkel, um zu fliehen. Doch es gab kein Entrinnen mehr. Der zweite pyroklastische Strom (Schicht eu 2) wälzte sich bereits durch die Stadt. Die heiße Asche verbrannte und verstopfte so die Atemwege.

Der neue Strom quoll dann über die Stadtmauer, er riss Dächer mit, drückte Häuserfronten ein und verschüttete so den ganzen Ort. In der ausgegrabenen Gasse bei der Insula dei Casti amanti fanden wir zwei Skelette, teilweise in die graue Asche eingesunken, die dem Niveau von eu 2 entspricht. Aber offenbar wurden daraus hervorragende Körperteile vom Strom vulkanischer Massen und mitgeführter Trümmer erfasst. Sie schleiften den einen Leichnam viele Meter mit und verstümmelten ihn dabei stark. Der andere, dessen Skelett quer zur Flussrichtung auf einer Seite liegt, blieb teilweise in Schicht eu 2 begraben; aber die linke Körperhälfte wurde abgeschürft.

Mit 80 Stundenkilometern raste die Lawine durch den Ort

Drei weitere Skelette entdeckten wir in einem kleinen Raum von nur zweieinhalb Metern im Geviert. Bevor diese Menschen umkamen, hatten sie die Tür zur Straße versperrt und ein kleines Fenster daneben abgedichtet. Vielleicht überlebten sie den Hagel von Bimssteinen, die sich mit der Zeit bis zum oberen Stockwerk türmten, vielleicht sogar den pyroklastischen Fluss, der Schicht eu 2 ablagerte. Möglicherweise überlebten so lange gleichfalls einige Tiere in ihrem Stall, weil dessen zur Straße führende Tür versperrt war. Nichts konnte jedoch der Wucht der dritten Welle standhalten. Diese riss die letzten Dächer hinweg und strömte von oben in die Häuser ein, alles begrabend.

Im südlichen Bereich der insula 12 ließ sich sogar die Geschwindigkeit dieses letzten pyroklastischen Flusses schätzen. Dort stand von der über zwei Stockwerke aufragenden Außenwand nur noch die Basis. Ihren oberen Teil fanden wir aber etwas weiter südlich, und zwar gänzlich von der nun abgelagerten Schicht eu 3 überdeckt. Einige passende Bruchflächen und der Abdruck vom hölzernen Rahmen eines vergitterten Fensters ermöglichten uns die Identifikation (siehe Grafik auf Seite 83).

Dieses Mauerstück muss urplötzlich durch einen auf seiner ganzen Länge einwirkenden Stoß losgebrochen sein. Sein Fall wurde jedoch in verschiedenen Höhen und folglich zu unterschiedlichen Zeitpunkten gebremst: Der die westliche Hausecke umlaufende pyroklastische Fluss eu 3 breitete sich unter der westlichen Seite der abstürzenden Mauer aus, während er die östliche nicht erreichte. Die schlug neun Meter weiter auf die schon vorhandene Asche auf. Ihr Fall dürfte etwa 0,4 bis 0,5 Sekunden gedauert haben, daraus ergibt sich eine Geschwindigkeit der vulkanischen Lawine von 65 bis 80 Kilometern pro Stunde.

Nachdem die Schicht eu 3 abgelagert war, muss eine apokalyptische Stille in der Stadt geherrscht haben, nur durch das vom Vesuv herüberhallende Donnern unterbrochen. Später verteilten Erdbebenstöße den angehäuften Vulkan- und Gebäudeschutt, den dann noch feuchte Lockerstoffe mit zahlreichen Pisolithen überdeckten. Der gleiche Vorgang wiederholte sich – wenn auch schwächer – mindestens zweimal, wie der stratigraphische Befund in der casa dei Casti amanti (Schichten eu 4 bis eu 6) erweist. Pompeji war endgültig zu einer leblosen Wüste geworden.

Literaturhinweise

Pompeji. Natur, Wissenschaft und Technik in einer römischen Stadt. Von Michael Munzinger (Hg.), Deutsches Museum, München 2000.

Volcanic Products of Vesuvius Eruption in A. D. 79 at Pompeii, Italy, with Special References to the Effects on Human Life and Ancient City. Von Takuo Yokoyama und Aldo Marturano in: Opuscula Pompeiana, Band VII, Seiten 1–32, 1997.

The A. D. 79 Eruption : Ongoing Seismic Activity and Effects of the Eruption in Pompeii. Von Antonio Varone und Aldo Marturano in: Acts of the International Asscociation of Volcanology and Chemistry of the Earth’s Interior, General Assembly, Mexiko 1997.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2000, Seite 80
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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