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Die Bewältigung nationaler und internationaler Konflikte

Wie lassen sich gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Staaten beenden? Eine statistische Analyse bisheriger und laufender Konflikte liefert Hinweise für mögliche Strategien.

„Bad news is good news“ – nach dieser bekannten Devise bieten die meisten Massenmedien ihre geschriebene, gesprochene und visualisierte Ware den Nachrichtenkonsumenten an. Als Aufmacher dient dabei oftmals ein dramatisches Ereignis in einem eskalierenden Konflikt zwischen Nationen oder Bevölkerungsgruppen: Serbische Einheiten erobern die überwiegend von Moslems bewohnte Stadt Srebrenica in Ostbosnien, amerikanische Truppen greifen in Somalia ein, israelische Kampfflugzeuge führen Vergeltungsschläge gegen Palästinenser im südlichen Libanon aus, in Georgien geht die Auseinandersetzung um die Abspaltung Abchasiens in offenen Bürgerkrieg über, nordirische Separatisten verüben Bombenanschläge in London – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Demgegenüber wird die gewaltfreie Lösung eines Konflikts – in diesem Beitrag als Auseinandersetzung auf nationaler und internationaler Ebene aufzufassen – kaum in angemessener Weise zur Kenntnis genommen. Beispielsweise wurde nach zwanzigjährigen Verhandlungen im Mai 1992 der Südtirol-Konflikt zwischen Italien und Österreich durch ein Abkommen offiziell beigelegt. Ebenfalls im vergangenen Jahr konnten der seit 1980 andauernde Krieg in El Salvador durch ein mit UN-Hilfe zustande gekommenes Friedensabkommen beendet und der zwölfjährige Grenzstreit zwischen Honduras und El Salvador durch eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag gelöst werden. Derartige friedliche Ereignisse sind zwar weit weniger medienwirksam als kriegerische, dafür aber um so bedeutsamer und segensreicher.

Statistische Konfliktanalyse

Für das vergangene Jahr 1992 registrierte die am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg im Rahmen des Konfliktsimulationsmodells KOSIMO erstellte und laufend fortgeschriebene Datenbank weltweit 108 Konflikte; 38 davon sind in diesem Zeitraum neu aufgetreten, was einer deutlichen Zunahme gegenüber dem Vorjahr entspricht (Bilder 1 und 2).

Mit Hilfe des empirischen Materials, das gemäß unseren Kriterien alle 546 nationalen und internationalen Konflikte seit Ende des Zweiten Weltkriegs umfaßt, lassen sich verschiedene Fragen untersuchen (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Mai 1989, Seite 12). Hier möchte ich nun vor allem eine statistische Auswertung hinsichtlich der Beendigung von Konflikten vorstellen – ein Thema, das auch in der politologischen Forschung bisher wenig untersucht worden ist. Dabei ist zu unterscheiden zwischen den militärischen, territorialen und politischen Ergebnissen eines ausgetragenen Konflikts. Von einer Lösung sprechen wir nur dann, wenn alle Beteiligten freiwillig und ohne Vorbehalte den jeweiligen Ergebnissen zugestimmt haben – was in der Praxis freilich nur selten geschieht.

Die Analyse von 273 Konflikten, in denen Gewaltmittel angewandt wurden, erbrachte ein erstaunliches Resultat hinsichtlich des militärischen Ergebnisses: Nur in 50 der registrierten Fälle (18,3 Prozent) siegte der Aggressor; in 83 Fällen (30,4 Prozent) erlitt er eine Niederlage, und 84 Konflikte (30,8 Prozent) endeten mit einem Waffenstillstand. Ähnliches gilt auch für die 79 seit Ende des Zweiten Weltkriegs geführten Kriege: Nur in 16 siegte der Aggressor, 43 endeten mit einem Patt oder einer Niederlage und die restlichen 20 mit einem Rückzug. Somit lohnt sich ein Angriff – zumindest statistisch gesehen – nur in rund einem Fünftel aller Fälle.

Hinsichtlich der territorialen Ergebnisse ergab die Auswertung von 181 Konflikten, daß es in 82 Fällen (45,3 Prozent) bei einer Gebietsforderung blieb, also weder der eine noch der andere Beteiligte einen Vorteil zu erringen vermochte. Wenn es zu territorialen Veränderungen kam, geschah dies in Form von Gebietsabtretungen (6,6 Prozent), Teilungen (12,2 Prozent) oder Einverleibungen (21,5 Prozent).

Die politischen Ergebnisse lassen sich zunächst ganz allgemein nach drei Fragen untergliedern:

– Hat der Initiator des Konflikts seine politischen Ziele erreicht? Wie die Daten belegen, war dies nur in jeder fünften Auseinandersetzung der Fall; sehr häufig war durch Austrag des Konflikts keine Entscheidung herbeizuführen.

– Welche Wirkung hatte eine bestimmte Aktion auf das politische System (amtierende Regierung und Opposition) des Initiator-Landes? Hier zeigte sich, daß die Regierung nur in etwa 22 Prozent der registrierten Fälle gestärkt aus dem Konflikt hervorging; in allen anderen war ein Wechsel, ein Sturz oder zumindest eine Schwächung der Regierung die Folge. Die Opposition hingegen wurde zumeist geschwächt oder gar eliminiert – was wegen des Gewaltmonopols einer amtierenden Regierung nicht verwunderlich ist. In noch geringerem Maße haben separatistische Gruppierungen eine Chance, bei Unabhängigkeitskonflikten gegenüber der amtierenden Regierung zu bestehen.

– Wurde bei einer Intervention einer auswärtigen Macht deren Einfluß und internationale Position gestärkt oder gemindert? Statistisch gesehen ist in den untersuchten Fällen beides etwa gleich häufig eingetreten – Chance und Risiko halten sich die Waage.

Arten der Konfliktbewältigung

Von dem Zusammenwirken verschiedener inner- und zwischenstaatlicher sowie internationaler Faktoren hängt es ab, welches Verhalten in einem Konflikt eine Deeskalation bewirken kann. Wir unterscheiden – nach zunehmendem Gewaltcharakter der eingesetzten Mittel geordnet – folgende acht Möglichkeiten, die alle im Jahre 1992 eingesetzt worden sind (Bild 3):

– Verhandlungen. Die Parteien legen die Konfrontation entweder alleine (wie Frankreich und die Bundesrepublik bei der Lösung der Saar-Frage im Jahre 1956) oder mit Hilfe eines Dritten (wie beim Camp-David-Abkommen von 1979; Bild 1 auf Seite 107) auf dem Verhandlungswege bei. Das dabei erzielte Ergebnis kann – oder wird in der Regel – ein Kompromiß sein, der als echte Lösung des Konflikts anzusehen ist, wenn die Beteiligten ihn ohne Vorbehalte akzeptieren. Bereits die Aufnahme von Verhandlungen signalisiert die Bereitschaft, den Konflikt zu entschärfen.

Ob es dem Vermittler gelingt, die Konfliktparteien zu einigen, hängt von verschiedenen Faktoren ab: der Komplexität und Eskalationsstufe des Konflikts etwa, den Erwartungen der Kontrahenten – sofern diese überhaupt ausreichend identifizierbar sind – und der Teilbarkeit des Konfliktgutes, aber auch vom Verhandlungsgeschick und von der Autorität des Vermittlers sowie seiner Äquidistanz zu den streitenden Parteien.

– Waffenstillstandsabkommen. Mit solchen Vereinbarungen lassen sich kriegerische Auseinandersetzungen zumindest vorläufig unterbinden oder unterbrechen. Daß sie freilich oft nicht lange Bestand haben, zeigen die zahlreichen, immer wieder gebrochenen Waffenstillstandsvereinbarungen im ehemaligen Jugoslawien, die mit Hilfe der Vereinten Nationen und der Europäischen Gemeinschaft zustande gekommen waren.

– Autoritative Entscheidung. Auch durch den Beschluß einer übergeordneten Instanz wie etwa ein Urteil eines internationalen Gerichts, eine Resolution der Vereinten Nationen oder die Entscheidung einer Konferenz oder eines Schiedsgerichts kann ein Konflikt friedlich und eventuell dauerhaft gelöst werden. Ein Beispiel ist der lange währende Hoheitsstreit zwischen Frankreich und Großbritannien um die zu den Kanalinseln gehörenden Eilande Les Minquiers und Les Ecréhou, der 1953 durch den Internationalen Gerichtshof beigelegt wurde, der die Oberhoheit über die Inseln Großbritannien zusprach. (Der Streit flammte aber in den siebziger Jahren wieder auf, weil der Entscheid direkte Auswirkungen auf die Öl-Förderrechte auf dem Kontinentalsockel hatte).

– Diktat. Dabei handelt es sich um eine Scheinlösung, die zwar das Ergebnis von Verhandlungen ist, deren Konditionen aber dominierende Mächte festgelegt haben und die die unmittelbar Betroffenen nicht zufriedenstellen. Kennzeichnend dafür ist die Teilung eines Landes oder die territoriale Kompensation zu Lasten Dritter, wie es beispielsweise durch das Münchener Abkommen von 1938 geschah, mit dem Großbritannien, Italien und Frankreich (ohne Beteiligung der Tschechoslowakei) der von Hitler geforderten Abtretung der Sudetengebiete an das Deutsche Reich zustimmten in der Hoffnung, damit die unmittelbare Kriegsgefahr bannen zu können.

– Nicht-Entscheidungen. Stehen sich annähernd gleich starke Kontrahenten gegenüber, bleibt der Ausgang des Konflikts meist offen; der Status quo dauert an, die Lösung ist in eine unbestimmte Zukunft verschoben wie im Falle der Auseinandersetzung zwischen Großbritannien und Spanien um Gibraltar. Modalitäten für ein solches Konfliktverhalten sind Koexistenz, Waffenstillstand und Nicht-Anerkennung.

– Rückzug. Hält eine der Streitparteien zumindest eine vorläufige Beendigung des Konflikts für angebracht, so zieht sie ihre Droh- und Einflußmittel zurück – so wie die Sowjetunion in der letzten Phase ihres Bestehens aus den Ländern des früheren Warschauer Pakts.

– Drohpolitik. Ein Konflikt kann dadurch beendet werden, daß eine Partei auf der Durchsetzung ihrer Interessen beharrt und sie schließlich unter Androhung von Gewalt auch realisiert – wie beispielsweise die Vereinigten Staaten, als sie im Oktober 1962 auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise die Sowjetunion mit einer Blockade und unter der Androhung eines nuklearen Schlagabtauschs zum Abzug ihrer Atomraketen aus der Karibik zwangen.

– Einsatz militärischer Mittel. Dies ist die Ultima ratio einer Konfliktbeendigung, die auf einseitiger Interessendurchsetzung beruht; die Formen sind Schaffung vollendeter Tatsachen, Intervention, Blockade oder Krieg.

Bosnien-Herzegowina – ein Fallbeispiel

Es stellt sich die Frage, was man ausgehend von statistisch gewonnenen Erfahrungswerten aus ähnlichen Konflikten über die kriegerische Auseinandersetzung in und um Bosnien-Herzegowina lernen kann.

Nach der Unabhängigkeit dieser von drei Volksgruppen besiedelten ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik hat sich der vorher nationale Konflikt in einen internationalen ausgeweitet. Alle miteinander verfeindeten Gruppen werden mehr oder weniger offen von auswärtigen Regierungen unterstützt. Eine solche Konstellation – Bürgerkrieg mit äußerer Beteiligung – gehört zu den am schwersten zu lösenden Konflikten, denn zu den ohnehin brutalen Kampfhandlungen mit territorialen Eroberungen und sogenannten ethnischen Säuberungen kommen die Interessen der auswärtigen Mächte als zusätzliche treibende Kraft hinzu.

Dieses Zusammenwirken vieler sehr unterschiedlicher Interessen stellt einen Vermittler vor eine kaum zu lösende Aufgabe. Ein Konflikt wie dieser, der bereits die höchste Eskalationsstufe – den Krieg – erreicht hat, bedarf zur Lösung Mittel, die dieser Stufe angemessen sind: Kriegsparteien, die nicht infolge von Erschöpfung oder durch die Einsicht, keine weiteren Gewinne mehr erzielen zu können, von selbst zur Aufgabe bereit sind, sind nur mit gewaltsamen Mitteln zur Räson zu bringen. Verurteilende Resolutionen der UNO, Verhandlungen mit oder ohne Vermittler sowie Embargo-Maßnahmen erreichen meiner Meinung nach auf dieser Eskalationsstufe und in einer derart komplexen Situation mit zudem nicht genau identifizierbaren Parteien keine Ergebnisse, geschweige denn Lösungen. Vielmehr scheinen militärische Maßnahmen oder zumindest die Drohung damit die angemessenen Mittel zu sein, um Schlimmeres zu vermeiden.

Dieser Ansicht entspricht auch, daß sich jetzt – nachdem die Vermittlungsbemühungen beziehungsweise der wirtschaftliche Druck seitens der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und der Europäischen Gemeinschaft erfolglos geblieben sind – die UNO einschaltet, diejenige internationale Organisation also, die potentiell über ein Höchstmaß an Gewaltmitteln verfügt. Verschiedene Faktoren wie etwa die militärisch unkalkulierbare Situation, die schwer einzuschätzende Mentalität der zahlreichen Akteure und das Fehlen vitaler Interessen seitens der Vereinigten Staaten als Zentralmacht lassen allerdings eine rasche Beendigung des Krieges nicht erwarten; eher ist eine andauernde und sich möglicherweise ausbreitende gewaltsame Auseinandersetzung zu befürchten.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1993, Seite 103
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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