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25 Jahre Spektrum / Teil XI: Die Bodyguards des Körpers

Je tiefer die Forscher in die Geheimnisse des Immunsystems eindringen, desto verwickelter erscheinen die Interaktionen ­zwischen den beteiligten Zellen und Molekülen. Wie weit konnte die Medizin von den Fortschritten der letzten 25 Jahre auf ­diesem Gebiet profitieren?


Vor 25 Jahren erschien mir die Immunologie noch wie eine fremde Welt. Sie hatte weniger von einer Wissenschaft als von einer Kunstform. Als Molekularbiologe war ich auf meinem Feld einheitlich gebrauchte Konzepte und Begriffe gewohnt. In den immunologischen Labors dagegen herrschte eine verwirrende Nomenklatur. Es hatten sich Schulen herausgebildet, zu denen man nur nach regelrechten Initiationsriten zugelassen wurde, und das Vertrauen in ein Forschungsergebnis maß sich vor allem am Renommee der beteiligten Autoren. Erst als sich das moderne molekularbiologische und -genetische Denken – gegen manch anfänglichen Widerstand – auch in der Immunologie durchsetzte, wurde dort die Methodik standardisiert, die Nomenklatur vereinheitlicht und damit die Kommunikation vereinfacht.

Die Immunologen hatten seit der "Gründerzeit" ihrer Disziplin, vor mehr als hundert Jahren, mit traditionellen biochemischen Verfahren durchaus bemerkenswerte Ergebnisse erzielt, beispielsweise bei der Erforschung der Antikörper. Mit der modernen Molekulargenetik nun boten sich natürlich ganz neuartige Analysemöglichkeiten – eben auch für die Immunologie.

Als einer der Meilensteine der Gentechnologie – der damals jüngsten Entwicklung der Molekulargenetik – gilt das Jahr 1975:

- Fred Sanger am Molekularbiologischen Laboratorium des britischen medizinischen Forschungsrates in Cambridge veröffentlichte die erste ermittelte Sequenz eines aus DNA bestehenden Erbmoleküls, und zwar von einem Bakterienvirus.

- Fachwissenschaftler erörterten auf der Konferenz von Asilomar nahe Monterey in Kalifornien, welche Chancen, aber auch welche Risiken das neue Forschungsgebiet birgt, und empfahlen Richtlinien zum Einsatz der DNA-Rekombinationsverfahren.

- François Rougeon, Bernard Mach und mir gelang es erstmals, die Boten-RNA eines Gens in eine "DNA-Kopie" umzuschreiben und zur Vermehrung – zur Klonierung – in das Bakterium Escherichia coli einzuschleusen. Es handelte sich um das Globin-Gen von Kaninchen. Das zugehörige Protein ist unter anderem Bestandteil des roten Blutfarbstoffs Hämoglobin. Mit unserer Methode ließen sich nun einzelne Gene aus der Unzahl anderer im Erbgut höherer Organismen isolieren und untersuchen.

Aus 1975 stammt auch ein Meilenstein immunologischer Forschung: Der Deutsche Georges Köhler und der Argentinier César Milstein schafften es in Cambridge, durch Fusion mit speziellen Krebszellen so genannte B-Lymphocyten "unsterblich zu machen"; sie teilen sich in einer Kultur dann unbegrenzt weiter. Dieser Zelltyp gehört zu den weißen Blutkörperchen und stellt eine der Säulen der Immunabwehr dar: Er erzeugt die Antikörper, auch Immunglobuline genannt. Sie gehören zu den wichtigsten Molekülen, mit denen der Organismus gezielt körperfremde Strukturen als "Antigene" erkennt. Alle Nachkommen einer Vorläuferzelle produzieren das gleiche Immunglobulin, bei jedem Vorläufer aber ein anderes. Durch das 1976 veröffentlichte Verfahren konnten erstmals große Mengen identischer Antikörper gewonnen werden, die für Medizin und Forschung von unschätzbarem Wert sind – etwa zum Nachweis von Erregern oder von interessierenden Proteinen.

Ein Jahr später, 1977, isolierte Susumu Tonegawa, damals am Institut für Immunologie in Basel, das Gen eines Antikörpers. Damit war er in der Lage, die genetische Grundlage der immensen Vielfalt an Antikörpern detailliert zu untersuchen. Zwar wusste man schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert um die Existenz solcher Schutzstoffe, unklar war aber immer noch, wie ein Säugetier Abermillionen verschiedener Sorten herstellen kann. Wie sich zeigte, ist ein Antikörper-Gen zunächst gar nicht als solches vorhanden. Ein funktionsfähiges Gebilde entsteht erst nach dem Baukastenprinzip: durch eine komplexe Umlagerung, bei der ursprünglich getrennt auf dem Chromosom angeordnete Untergene auf vielfältige Weise miteinander kombiniert werden. Dieser Vorgang läuft während der Entwicklung von B-Zellen im Körper ab. Zur Erkennung eines Antigens nutzt jede B-Zelle im Prinzip eine Form ihres Antikörpers, die wie eine Antenne in der Zellmembran verankert ist. Ihr Antigen-Rezeptor ist daher ebenfalls ein Immunglobulin.

Verträgliche Spenderorgane

Die zweite große Klasse von Immunzellen, die so genannten T-Lymphocyten, waren damals noch wesentlich weniger erforscht. Man wusste, dass sie für die zelluläre Immunreaktion verantwortlich sind – das heißt keine Antikörper abgeben, sondern gewissermaßen persönlich vor Ort eingreifen – und dabei ebenfalls eine Fülle von Antigenen erkennen. Ob auch ihr Antigen-Rezeptor ein Immunglobulin ist, konnte erst 1984 definitiv geklärt werden. Die Gene für dieses Molekül erwiesen sich bei Mensch und Maus immerhin als Verwandte der Immunglobulin-Gene aus B-Zellen.

Anfang der 1980er Jahre wussten die Immunologen auch, dass der T-Zell-Rezeptor "sein" Antigen praktisch nur dann erkennt, wenn er es gewissermaßen auf einem Tablett serviert bekommt. Bei den Präsentiertellern handelt es sich um so genannte MHC-Moleküle der Klasse I und II. Ihre Gene drängen sich in einer Region des Erbguts: dem Haupt-Histokompatibilitätskomplex (englisches Kürzel: MHC). Jean Dausset, George Snell und Baruj Benacerraf erhielten für die Entdeckung dieser Moleküle und ihrer Genregion bei Menschen und Mäusen 1980 den Nobelpreis für Medizin. Diese Strukturen auf der Oberfläche von Zellen bestimmen entscheidend, ob ein Transplantat gewebsverträglich – histokompatibel – ist oder umgekehrt abgestoßen wird. Die Bezeichnung MHC-Moleküle wurde zwar ursprünglich für die Maus gewählt, hat sich inzwischen aber weitgehend auch für die entsprechenden Moleküle des Menschen eingebürgert, die aus historischen Gründen humane Leukocyten-Antigene heißen.

Uns gelang es 1981, verschiedene Gene der Klasse I des MHC-Komplexes aus Mäusezellen zu isolieren, und zwar wieder in Form rückkopierter DNA – damals wegen der geringen Konzentration der entsprechenden Boten-RNAs ein technisches Kunststück. Im Laufe der Arbeiten zum Aufbau dieser Gene und der Funktion ihrer Genprodukte vollzog ich, ohne es recht zu merken, die Wandlung vom Molekularbiologen zum Immunologen.

Anfang der 1980er Jahre standen MHC-Gene und ihre Proteine im Zentrum der Aufmerksamkeit vieler Immunologen, nicht nur aus theoretischen, sondern auch aus medizinischen Gründen. Die eigenen MHC-Proteine verkörpern für das Abwehrsystem das "Selbst", das "Nicht-Fremde". Ihre erstaunliche Vielgestaltigkeit von Mensch zu Mensch offenbart sich – für Mediziner leider – besonders augenfällig am Phänomen der Transplantatabstoßung. Da sich die Probleme von Grundlagenforschern und Medizinern im Bereich der Transplantation trafen, entstand eine regelrechte interdisziplinäre "MHC-Gemeinschaft". Es ging um standardisierte Methoden zur Typisierung der MHC-Proteine bei Spender und Empfänger, außerdem um eine reibungslos funktionierende Organisationsstruktur zur Registrierung und zur Verteilung von Spenderorganen. Die Problematik wuchs, je mehr es Praxis wurde, Organe zu transplantieren und Patienten nach einer hochaggressiven Chemotherapie, etwa gegen Blutkrebs, Knochenmark von Spendern zu übertragen. Man versuchte, die verschiedenen Abwehrreaktionen einerseits durch Verpflanzen immunologisch möglichst passender Organe oder Zellen in den Griff zu bekommen, andererseits aber auch durch Unterdrücken der Immunantwort. Zu den bedeutenden pharmakologischen Erfolgen dieser Forschung gehört vor allem der Wirkstoff Cyclosporin, der Abwehrreaktionen unterdrückt. Seine medizinische Karriere an Patienten begann 1981.

Warum aber nur reagierten die T-Lymphocyten so stark auf Zellen, die abweichende MHC-Proteine trugen? Man wusste damals zwar, dass diese Moleküle an der Präsentation fremder Antigene beteiligt sind und besonders auch auf Fresszellen vorkommen, aber nicht, wie die Erkennung funktionierte. Fresszellen wie die Makrophagen verschlingen und verdauen unter anderem Bakterien. 1981 zeigte nun Emil Unanue, heute an der Universität von Washington in St. Louis, mit seinen damaligen Kollegen, dass die MHC-Moleküle der Klasse II von Makrophagen nicht etwa ganze Protein-Antigene präsentieren, sondern nur Fragmente. Dazu werden die Fremdmoleküle zunächst in den Fresszellen enzymatisch zerlegt und mit ihrem MHC-Partner zur Zelloberfläche befördert. Im Gegensatz zu Antikörpern bekommt ein T-Zell-Rezeptor somit nicht das ganze Antigen zu Gesicht und heftet sich an einen Verbund aus MHC-Molekül und Proteinfragment. Vier Jahre später wurde dies auch für Moleküle der Klasse I belegt.

Kostproben aus dem Zellinneren servieren

Die Erkenntnis, dass ein doppeltes Erkennungssystem für ein und dasselbe Antigen existiert, warf auch ein völlig neues Licht auf die Kooperation der beiden großen Klassen von Immunzellen. Wenn nämlich der membranständige Antikörper einer B-Zelle ein Antigen bindet, wird es ebenfalls vereinnahmt und zerlegt. MHC-II-Moleküle präsentieren dann Stückchen davon. Wenn daran wiederum so genannte T-Helferzellen mit ihrem Rezeptor andocken, geben sie aktivierende Substanzen ab, sodass sich die B-Zelle zur Produktion von Antikörpern vermehrt.

Außerdem zeichnete sich ab, welche Bedeutung die so genannten T-Killerzellen haben könnten, die ihre Ziele – vor allem virusinfizierte Körperzellen – mithilfe der MHC-Moleküle der Klasse I finden. Die verstärkte Erforschung dieses Zelltyps leitete ein Umdenken ein. Entgegen der gängigen Auffassung erwies sich diese Abwehr-Einheit für die Wirksamkeit von Impfstoffen als wesentlich. Zuvor hatte man das Potenzial eines Vakzins nur an der Menge der Antikörper gemessen, die der Organismus nach dem Impfen produziert. Unter anderem deswegen scheiterten auch die ersten Versuche zur Entwicklung eines Impfstoffs gegen das 1983 isolierte Aids-Virus: Die Forscher hatten die T-Killerzellen, die für den Erfolg einer Impfung gegen viele Erreger von herausragender Bedeutung sind, schlichtweg vernachlässigt.

Zusammen mit Jean-Michel Claverie entdeckte unsere Gruppe 1986 verblüfft, dass die MHC-Moleküle keinen Unterschied zwischen körpereigenen und fremden Proteinen machen, vielmehr von beiden Sorten winzige Bruchstücke – fachlich Peptide genannt – präsentieren. Demnach musste jede Zelle mit MHC-Molekülen der Klasse I, und damit die große Mehrheit aller Körperzellen, eine Vielzahl von "Kostproben" ihrer eigenen Proteine darbieten. Daraus schlossen wir – wie sich herausstellte zu Recht –, dass T-Lymphocyten inmitten dieser verwirrenden Mischung körpereigener Peptide die ihnen fremden mit extremer Sensitivität erkennen können. Da sich aber Menschen in ihren MHC-Molekülen unterscheiden und jede Variante eine eigenes Sortiment von Bruchstückchen favorisiert, präsentierten die Zellen jedes Individuums zwangsläufig auch eine andere Auswahl von Peptiden – körpereigenen wie fremden. Kam also Spendergewebe mit auch nur einem anderen MHC-Molekül in den Körper, präsentierte es eine dem Immunsystem unbekannte Zusammenstellung tausender winziger Proteinstücke aus dem Zellinneren. Dies erklärte, warum Transplantate so heftig abgestoßen werden: Die Immunreaktion richtet sich nicht nur gegen das fremde MHC-Molekül auf den Zellen, sondern gegen Tausende unbekannter Peptide aus dem Inneren.

Damit ging die Überwachungsfunktion des Immunsystems viel weiter als zunächst gedacht. Da für ihn auch innere, scheinbar verborgene Proteine anhand ihrer Kostproben "sichtbar" sind, können an der Oberfläche von Krebszellen verdächtige Peptide auftauchen, die einen Tumor verraten und die Killerzellen auf sich ziehen. Dass es spezifische "Tumorantigene" gibt, hatte Thierry Boon am Ludwig-Institut in Brüssel Anfang der 1980er Jahre nachgewiesen.

Zwar ermittelten Forscher nach und nach durch elegante Röntgenstrukturanalysen die räumliche Struktur der MHC-Moleküle (1987 zuerst der Klasse I), des T-Zell-Rezeptors sowie des dreiteiligen Verbundes aus beiden und dem erkannten Peptid. Trotzdem blieb rätselhaft, wie die T-Lymphocyten mit so unglaublicher Präzision Antigene erkennen und unterscheiden können, wenn nicht vielfältige Hilfsmoleküle oder Ko-Rezeptoren auf kooperierenden Zellen mit eingriffen.

Die besonders fruchtbare Phase zwischen 1980 und 1995 brachte auch in dieser Richtung neue Erkenntnisse. Beispielsweise wurde klar, wie bedeutsam die so genannten dendritischen Zellen für die Immunreaktion sind. Diese Vertreter der weißen Blutkörperchen, mit Funktionen ähnlich den Makrophagen, nisten sich zunächst in der Haut und in Schleimhäuten ein. Über ihre langen Fortsätze fischen sie aus ihrer Umgebung selbst winzige Mengen körpereigenes und fremdes Material heraus. Nach ihrer Wanderung in die Lymphknoten präsentieren sie Häppchen davon auf MHC-Molekülen. Damit und über ko-stimulatorische Oberflächenmoleküle aktivieren sie dort wartende "junge" Immunzellen.

Neben weiteren Oberflächenmolekülen konnten die Forscher in diesen 15 Jahren zahlreiche von Immunzellen freigesetzte Botenstoffe charakterisieren, darunter vor allem Immunhormone wie die Interleukine – Interleukin I wurde zum Beispiel 1981 entdeckt – und immunologische Lockstoffe wie die Chemokine. Dies brachte reiche neue Erkenntnisse über die Interaktionen der Abwehrzellen, ihre Aktivierung und Inaktivierung.

Enorme Fortschritte wurden auch bei der Erforschung der Befehlskette innerhalb von Zellen erzielt. Viele Signale regen die Zelle zur Teilung oder zur Reifung an. Andere lösen in den Zellen ein Selbstzerstörungsprogramm aus, die so genannte Apoptose. Das erstmals 1972 formulierte Konzept des Zellselbstmords ist für wenige Gebiete der Biologie so bedeutsam geworden wie für die Immunologie. Durch ihn wird das Gleichgewicht zwischen den Populationen verschiedener Zelltypen aufrechterhalten, die sich ständig erneuern. Auch Körperzellen, die das Immunsystem als "abweichend" einstuft, erhalten den Befehl zum Harakiri – durch eine molekulare Todesbotschaft oder durch persönliche Aufforderung seitens der Immunzellen. Eine revolutionäre Erkenntnis der Apoptose-Forschung war, dass viele Zellen nicht auf Leben, sondern auf Sterben programmiert sind: Sie leben nur so lange, wie sie Signale erhalten, die sie an der Selbstzerstörung hindern. Erst so war es auch möglich zu verstehen, wie Lymphocyten funktionieren und wie sie zur erworbenen und zur angeborenen Immunität beitragen.

Rasche Eingreiftruppen

Von erworbener oder auch adaptiver – anpassungsfähiger – Immunität sprechen Fachleute bei T- und B-Zellen, weil deren Aktion erst eine Art Lernphase erfordert. Zusätzlich gibt es aber noch eine angeborene, natürliche Immunität. Deren Bedeutung wurde jahrzehntelang überschattet vom Ruhm und Erfolg des Theoriengebäudes zur Vielfalt von Antikörpern und T-Zellrezeptoren. Inzwischen haben einige wichtige Entdeckungen sie rehabilitiert. Die angeborene Immunität beruht auf einer Reihe von allgemeinen Abwehrmechanismen, die besonders rasche schlagkräftige Reaktionen ermöglichen. Der evolutionäre Vorteil liegt auf der Hand – die prompte Abwehr von krankheitserregenden Mikroben. Die Mechanismen der natürlichen Immunität haben sich im Laufe der Evolution erstaunlich wenig verändert und finden sich schon bei wirbellosen Tieren, darunter Fliegen, und selbst bei Pflanzen.

In den 1980er Jahren wurde bei der Taufliege Drosophila ein neues Rezeptorprotein namens Toll untersucht; ist das zugehörige Gen gestört, entwickeln die Embryonen keine Körperunterseite mehr. Dann stellte sich aber heraus, dass dasselbe Molekül an der Abwehr von Pilzinfektionen beteiligt ist. Schließlich konnten Jules Hoffmann von der Universität Straßburg und Charles Janeway von der Yale-University in New Haven (Connecticut) bei Mäusen und Menschen Toll-ähnliche Rezeptoren isolieren. Inzwischen ist eine knappes Dutzend solcher Moleküle beschrieben, und vermutlich existieren noch einige mehr.

Jeder Toll-Rezeptor spricht letztlich auf ein molekulares Leitmotiv an, das viele Mikroorganismen gemeinsam haben, beispielsweise auf Komponenten der Zellwand von Bakterien. Ein aktivierter Rezeptor setzt eine Signalkaskade in Gang. Diese regt die Produktion verschiedener Substanzen an: Neben Cytokinen, die unter anderem die Vermehrung und Funktion von Abwehrzellen beeinflussen, entstehen auch kleine Moleküle, die gegen Bakterien, Viren oder Pilze wirken. Ein Beispiel: Anfang der 1980er Jahre isolierte eine schwedische Arbeitsgruppe um Hans Boman an der Universität Stockholm aus einem Schmetterling die Cecropine, eine Familie von kleinen Proteinen mit stark antibakterieller Wirkung. Es handelte sich quasi um eine neuartige Klasse von Antibiotika. Inzwischen sind auch beim Menschen ähnliche Moleküle nachgewiesen.

Die Mechanismen der natürlichen Immunität gewährleisten eine sofortige Reaktion gegen Erreger, die zugleich mit einer Aktivierung der adaptiven Mechanismen einhergeht. Letztere brauchen zwar einige Zeit, um zu greifen, erzeugen aber ein immunologisches Gedächtnis. Beim nächsten Kontakt mit dem gleichen Krankheitserreger kann daher das adaptive Immunsystem rasch und gezielt zurückschlagen. Natürliche und adaptive Immunität bei Säugetieren sind jedenfalls viel stärker miteinander verquickt als je vermutet, aber die Zusammenhänge sind längst noch nicht alle klar.

Die Verzögerung hat jedenfalls einen Grund. In unserem Körper patrouilliert eine immense Zahl von T- und B-Lymphocyten. Diese sind jedoch insgesamt auf so viele verschiedene Antigene spezialisiert, dass jede Zelle normalerweise nur mit wenigen identischen Exemplaren – als kleiner Zellklon – vertreten ist. Sobald eine Zelle ein Antigen erkennt, beginnt sie sich erst einmal zu vervielfältigen, was einige Tage in Anspruch nimmt – daher die Verzögerung der adaptiven Reaktion. Dass das Antigen eine positive Auslese zufällig passender T- und B-Zellklone bewirkt, ist Teil der jahrzehntelang anerkannten Klonselektionstheorie des Australiers McFarlane Burnett. 1999 bestimmte unsere Arbeitsgruppe, wie viel verschiedene T-Zellklone überhaupt im Körper zirkulieren: Beim Menschen waren es 30 Millionen, bei der Maus 2 Millionen. So beeindruckend diese Zahlen auch sind, liegen sie doch weit unter der möglichen Anzahl fremder Peptid-Antigene. Entsprechend kristallisiert sich auch immer deutlicher heraus, dass jeder T-Lymphocyt seine Spezifität den Antigenen anzupassen vermag: Er modifiziert seine Ansprechbarkeit, seine Reaktionsschwelle, gemäß den vorangegangenen Erfahrungen. Damit entfernen wir uns jedoch weit vom klassischen Konzept der spezifischen Erkennung, nach dem Rezeptor und erkanntes Molekül präzise wie Schlüssel und Schloss zusammenpassen müssen.

Hilfreiche Unterdrücker

Viele Immunologen wehrten sich vehement dagegen – und manche tun es noch immer –, die Burnett’sche Theorie der klonalen Selektion aufzugeben. Die Theorie wurde jedoch dadurch ins Wanken gebracht, dass sie keinerlei Raum für natürliche Reaktionen des Immunsystems auf körpereigene Strukturen lässt, also für die so genannte Autoreaktivität. Dabei ist bekannt, dass auch im gesunden Organismus zahlreiche autoreaktive Antikörper und T-Lymphocyten zirkulieren, ja dass die Schulung der T-Zellen im Thymus (dem Organ hinter dem Brustbein, in dem sie ausreifen) sowie ihr Überleben im Organismus ein gewisses Maß an Empfindlichkeit gegenüber körpereigenen Antigenen erfordert. Dass das Immunsystem normalerweise diese nicht angreift, sondern toleriert, lässt sich inzwischen nicht mehr damit erklären, dass autoreaktive B- und T-Lymphocyten schon während der vorgeburtlichen Entwicklung ausgemerzt oder inaktiviert werden.

Hier kommt nun wieder eine andere Gruppe von T-Lymphocyten ins Spiel: die so genannten T-Suppressorzellen. Bereits 1985 hatte Shimon Sakaguchi an der Universität Tokio die Existenz dieses Zelltyps experimentell zweifelsfrei belegt, aber erst vor kurzem wurde diese Erkenntnis "wiederentdeckt" – nachdem die ganze Disziplin Sakaguchis Ergebnis über Jahre entschieden ignoriert hatte. Im Gegensatz zu den T-Helferzellen, deren Aufgabe in der Stimulation von B-Zellen besteht, hemmen die T-Suppressorzellen sowohl B- wie T-Zellen. Diese "unterdrückende" Funktion ist unverzichtbar, wenn eine Immunreaktion beendet werden soll, etwa nach der erfolgreichen Zerstörung eines Krankheitserregers. T-Suppressorzellen erfüllen jedoch noch eine weitere wesentliche Aufgabe: Sie verhindern Autoimmunkrankheiten, indem sie autoreaktive Zellen im Zaum halten.

Das Immunsystem erkennt also körpereigene Antigene genauso wie fremde und erinnert sich an beide. Das ist nur bei einer Organisationsform möglich, die nicht auf strikter Spezifität weniger Antigen-Rezeptor-Interaktionen beruht, sondern auf dem Zusammenwirken einer Vielzahl relativ schwacher und für sich genommen wenig spezifischer Signale, deren Intensität wiederum teilweise von vorangegangenen Ereignissen abhängt. Auf eben dieser Integrationsleistung fußen so kritische Entscheidungen wie die, ob eine Immunreaktion gegen ein bestimmtes Antigen ausgelöst wird.

Weitere Erkenntnisse versprechen sich die Immunologen unter anderem von der Genomforschung. Sicher wurde ein Großteil der molekularen Elemente, die an der Erkennung von Antigenen beteiligt sind, bereits vor der Entzifferung des menschlichen Erbguts identifiziert – unter anderem, weil sich ihre Gene auf relativ begrenzte Regionen der Chromosomen konzentrieren. Mit der Kenntnis aller Gene bietet sich aber auch unser Immunsystem für einen integrativen Ansatz an, denn Forscher müssen sich dann nicht mehr damit zufrieden geben, den Körper als "black box" zu befragen, sondern können alle Mitspieler auf molekularer Ebene einbeziehen. Weiteren Fortschritt versprechen bildgebende Verfahren, die bislang eher aus der Hirnforschung bekannt sind. Mithilfe dieser Methoden lassen sich die Aktivitäten des Gehirns von außen verfolgen. Das Immunsystem ist zwar im Gegensatz zum Nervensystem quasi flüssig, und seine Funktion und die Übertragung von Informationen hängen von einem Ballett aus Millionen oder Milliarden beweglicher Zellen ab. Dennoch ist diese dynamische Anatomie den entsprechenden Verfahren dank technischer Fortschritte seit kurzem zugänglich.

Welch enorme Wissenslücken trotz aller Erkenntnisse und Durchbrüche bestehen, zeigt sich an einem wichtigen Aspekt: Wir können das Immunsystem noch immer nur begrenzt für präventive und therapeutische Zwecke manipulieren. Hier Erfolg zu haben, ist nicht nur ein humanitäres Anliegen, sondern auch ein wichtiges Element der wissenschaftlichen Beweisführung. Aber die Wirksamkeit vieler Impfstoffe darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten davon ausschließlich empirisch – durch experimentelles Ausprobieren, nicht durch echte immunologische Intervention – entwickelt wurden. Der empirische Ansatz ist inzwischen ausgereizt. Auf welch erhebliche Schwierigkeiten man damit stößt, zeigt sich deutlich an den bisher fruchtlosen Versuchen zur Entwicklung wirksamer vorbeugender Impfstoffe gegen das Aids-Virus, das Hepatitis-C-Virus und den Malariaerreger.

Bald reiche Früchte am medizinischen Zweig

Auch was die Mechanismen der Autoimmunkrankheiten sowie entsprechende Therapien angeht, stehen wir noch ziemlich am Anfang. Selbst die Transplantation von Organen und Blutstammzellen stellt unverändert eine immunologische Herausforderung dar. Ebenfalls nur langsam voran kommt die Immuntherapie gegen Krebs, bei der das Abwehrsystem auf Tumorantigene abgerichtet werden soll; man hinkt hier 15 bis 20 Jahre hinter den anfänglichen Erwartungen hinterher. Damals schon hatten einige monoklonale Antikörper, die im Labor hergestellt wurden, sich als interessant erwiesen. Therapeutische Krebsimpfungen, die darauf zielen, den Patienten durch Aktivierung von spezifischen T-Killerzellen vor Metastasen zu schützen, haben noch nicht die klinische Erprobungsphase III erreicht, wo sie bei einer größeren Anzahl Patienten getestet würden. Die Resultate der vergangenen zehn Jahre sind hierzu leider weniger spektakulär als zunächst erhofft.

Wird die Immunologie also eine sterile Wissenschaft bleiben? Sicherlich nicht. Aber wir haben es mit einem hochkomplexen diffizilen System zu tun. Jeder Anwendungsbereich bringt seine eigenen wissenschaftlichen und klinischen Probleme mit sich. Die entscheidende Frage an dieser Stelle lautet: Haben uns die jüngsten Erkenntnisse – von denen ich hier nur einen Teil angesprochen habe – und die konzeptionellen Weiterentwicklungen so weit vorangebracht, dass in naher Zukunft auch in der Anwendung Fortschritte zu erwarten sind? Oder erahnen wir die wahre Komplexität des Immunsystems noch immer nicht? Ich jedenfalls bin überzeugt, dass die immunologische Forschung schon sehr bald reiche Früchte tragen wird, was Prävention und Therapie von Krankheiten anbelangt. Sollte sich dies bewahrheiten, ist dafür zu sorgen, dass diese Errungenschaften auch den vielen Millionen Kindern und Erwachsenen in ärmeren Ländern zugute kommen. Gerade hier mangelt es an Impfstoffen gegen viele Infektionskrankheiten.

Literaturhinweise


Immunologie. Von Charles A. Jane­way, Paul Travers, Mark Walport und Mark Shlomchik. Spektrum Akademischer Verlag, 5. Auflage, 2002.

Spezial: Das Immunsystem. Spektrum der Wissenschaft, 3. überarbeitete Neuauflage, 2001.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2003, Seite 28
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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