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Die Lemuren Madagaskars: Repräsentanten früher Primaten

Am meisten von allen Halbaffen ähneln die Lemuren den frühen Herrentieren. Seit der Besiedlung ihrer abgeschiedenen Insel durch den Menschen starben aber viele bereits aus; die meisten der restlichen Arten sind akut gefährdet.

Madagaskar bietet auf seinen 587000 Quadratkilometern dicht beieinander eine ungewöhnliche Vielfalt an Lebensräumen, von immergrünem Regenwald bis zu Halbwüsten. Einzigartig sind auch die Primaten dieser viertgrößten Insel der Erde: Die Lemuren ähneln wohl mehr als jede andere Affengruppe den frühen Vorfahren der Hominoiden, welche vor ungefähr 50 Millionen Jahren lebten, als die Höherentwicklung der Säugetiere begann.

Obwohl die Lemuren dort die dominierenden Säuger sind, ist ihre Herkunft noch nicht recht klar. Früher glaubte man, daß Madagaskar als eine Art isolierter Miniaturkontinent eine archaische Fauna – in etwas verarmter Form – bewahrt habe, nachdem es sich von Afrika gelöst hatte. Und weil die heutigen madagassischen Halbaffen in vieler Hinsicht eher den frühen Primaten des Eozäns ähneln als den modernen höheren Herrentieren – den dominierenden Säugern der heutigen Tropen –, nahm man an, die beiden Landmassen hätten sich im Eozän (der Epoche der Erdneuzeit zwischen rund 57 und 35 Millionen Jahren vor der Gegenwart) getrennt.

Inzwischen weiß man, daß Madagaskar und Afrika bereits vor 165 Millionen Jahren auseinanderbrachen, im Erdmittelalter, der großen Zeit der Dinosaurier, als die ersten Säugetiere – unscheinbar und äußerlich den Spitzmäusen ähnlich – noch ein Randdasein führten. Zudem scheint die Insel ihre jetzige geographische Position etwa 400 Kilometer vor der Küste des Festlands bereits einige Dutzend Millionen Jahre vor der rasanten Evolution der Säugetiere erreicht zu haben, also lange bevor die heutigen großen systematischen Gruppen – wie Primaten, Fledermäuse oder Nagetiere – überhaupt entstanden sind.

Mithin konnten solche Säuger, sofern sie wie die Primaten rein landlebend waren, Madagaskar allenfalls zufällig auf Treibmaterial erreichen, über die Straße von Moçambique. Dort freilich müssen sich den Vorfahren der heutigen Lemuren ökologische Chancen zuhauf geboten haben.

Lebensraum und Entwicklung der Arten

Madagaskar erstreckt sich im westlichen Indischen Ozean von 12 bis 25 Grad südlicher Breite. Es liegt also großenteils in den Tropen.

Den vorherrschenden Ostwinden steht ein steiles, bis nahezu 2900 Meter hohes Küstengebirge entgegen. Dort wächst unter ganzjährig reichen Niederschlägen dichter Regenwald. Das zerklüftete Zentralplateau, das eine eintönige Grassteppe als Sekundärvegetation bedeckt, fällt nach Westen hin sanfter ab. Die Küstenebenen dort werden nach Süden hin immer trockener. Feuchtwälder im Nordwesten gehen allmählich über in saisonal laubabwerfende Trockenwälder und in Dornbusch; im äußersten Süden wächst nur mehr eine einzigartige Wüstenvegetation mit 98 Prozent ausschließlich hier heimischen Arten. Außer diesen Florengebieten (siehe Kasten Seite 64) hat Madagaskar noch zahllose besondere mikroklimatische Standorte. Allerdings sind durch Eingriffe des Menschen ganze Landschaften schon tiefgreifend verändert und viele Reste der eigentümlichen Pflanzen- und Tierwelt aufs äußerste gefährdet (Spektrum der Wissenschaft, September 1989, Seite 12).

Aus der Zeit, als die ersten Primaten Madagaskar erreichten, fehlen jegliche Fossilbelege, und so kennt man weder die Vielfalt der damaligen Habitate noch deren Bewohner. Sicher ist aber, daß die Neuankömmlinge sich reich entfalteten. Bei Ankunft des Menschen vor nicht einmal 2000 Jahren (die ersten Siedler stammten wohl aus Indonesien) bevölkerten mindestens 45 Lemurenarten die Insel, vom 60 Gramm leichten Mausmaki (siehe Bild links oben Seite 60) bis zum fast 200 Kilogramm schweren Archaeoindris, der sich mit einem Gorillamännchen hätte messen können (er ist mittlerweile ausgestorben).

Alle diese Lemurenarten sind niedere Primaten. Man rechnet sie zur Unterordnung der Strepsirhini (nach griechisch streptos, gedreht, brezelförmig, und rhino, die Nase betreffend), die zudem noch die außerhalb Madagaskars lebenden Galagos, Pottos und Loris umfaßt. Der Mensch bildet mit den echten Affen und den Menschenaffen die Unterordnung Anthropoidea. (Die systematische Zuordnung der südostasiatischen Koboldmakis ist umstritten.) Zwischen niederen und höheren Primaten zu unterscheiden ist zwar etwas altmodisch, für unsere Zwecke hier aber dienlich.

Die höheren Primaten sind wesentlich jüngeren Ursprungs als die niederen; sie haben sich vermutlich im späten Eozän aus einer Halbaffenlinie entwickelt. Die heutigen Halbaffen weisen noch viele Merkmale ihrer eozänen Vorfahren auf, die höhere Primaten nicht mehr haben. Nun sind aber von den Strepsirhini allein etliche Lemuren Madagaskars tagaktiv, ebenso wie praktisch alle modernen höheren Primaten. Damit steht fest: Auch der gemeinsame Vorfahr ist tagaktiv gewesen. Wenn wir also eine gute Vorstellung gewinnen wollen, wie der erste Vertreter unserer Stammlinie und seine nächsten Verwandten ausgesehen und gelebt haben mögen, bieten die Lemuren auf Madagaskar das beste Modell.

Die heutigen Formen der beiden Unterordnungen der Herrentiere unterscheiden sich in vielen körperlichen Merkmalen, am deutlichsten im Nervensystem und in den Sinnesorganen. Die Halbaffen haben relativ zur Körpergröße viel kleinere Gehirne. Auch die informationsverarbeitenden Assoziationsfelder, die zwischen den einzelnen Hirnzentren vermitteln, entwickeln sich bei ihnen anders.

Desgleichen ist die relative Gewichtung von Gesichts- und Geruchssinn verschieden. Die Halbaffen haben zwar auch einigermaßen nach vorne gerichtete Augen, aber linkes und rechtes Gesichtsfeld überlappen sich nicht in dem Maße wie bei den höheren Primaten. Sie vermögen darum nur in einem engen, zentralen Bezirk des Gesichtsfeldes räumlich zu sehen. Daß die Netzhaut der nachtaktiven Halbaffen farbsensitive Sinneszellen nicht aufweist, war zwar zu erwarten; doch auch die tagaktiven Arten sind – soweit dies aus den wenigen durchgeführten Tests zum Farbunterscheidungsvermögen hervorgeht – bestenfalls beschränkt farbtüchtig.

Dafür haben die niederen Primaten geräumigere und komplizierter gegliederte Nasenhöhlen als die höheren und auch – als ursprüngliches Säugermerkmal – einen feuchten Nasenspiegel, das Rhinarium. Bei ihnen gelangen Geruchsstoffe am Gaumen entlang zu einem am Boden der Nasenhöhle liegenden urtümlichen Riechorgan, welches viele andere Säugetiergruppen aufweisen, das bei den meisten höheren Affen aber allenfalls noch rudimentär ausgebildet ist.

Viele Halbaffen – und von den echten Affen nur wenige südamerikanische Arten – haben an verschiedenen Körperstellen Drüsen, mit deren Sekret sie Duftmarken setzen. Sie verständigen sich auf diese Weise untereinander, markieren beispielsweise ihr Territorium oder bekunden ihre Befindlichkeit. Dagegen ist die optische Kommunikation, vor allem die Mimik, wenig ausgeprägt, weil die Tiere keine hochdifferenzierte Gesichtsmuskulatur haben.

Die vor-eozänen Arten, die noch nicht greifen konnten, vermochten mit Hilfe von Krallen auf den Bäumen zu klettern. Statt dessen haben die meisten heutigen Primaten flache Nägel, können dafür aber den Daumen beziehungsweise den großen Zeh abspreizen und den anderen Fingern zumindest in gewissem Winkel gegenüberstellen, so daß sie Äste zu umklammern vermögen. Sie haben zudem tastempfindliche Polster an den Finger- und Zehenkuppen. Das alles unterstützt die manuelle Geschicklichkeit in hohem Maße. Die Lemuren greifen aber kleinere Objekte nicht mit Daumen und Zeigefinger oder Mittelfinger, sondern eher mit der ganzen Hand. Was sie fassen, beriechen sie auch eher als daß sie es betrachten und dabei hin und her wenden würden.

Das kardinale Verhaltenserbe

Wenngleich beide systematischen Großgruppen der Affen in sich äußerst mannigfaltig sind, läßt sich doch sagen, daß die Halbaffen generell dem gemeinsamen Vorfahren eindeutig stärker ähneln, der allerdings ein noch kleineres Gehirn hatte. Den Fossilien nach zu urteilen war auch dessen Gesichtssinn noch nicht so vorherrschend gegenüber dem Geruchssinn wie heute bei den echten Affen. Primaten des Eozäns vermochten sicherlich schon mit Händen und Füßen zu greifen, waren darin aber wohl nicht geschickter als heutige Lemuren. Sehr viel anders als diese können sie darum nicht gelebt haben, so daß man erwarten darf, aus der Beobachtung madagassischer Strepsirhini etwas über die Verhaltensmöglichkeiten jener längst vergangenen Tiere zu erfahren, aus deren Potential auch die menschlichen Fähigkeiten erwachsen sind.

Erst seit den sechziger Jahren erbrachten Feldstudien Einblicke in das Verhalten von Lemuren in freier Wildbahn. Die Befunde paßten zunehmend weniger zu überkommenen Vorstellungen. Sofern man sie überhaupt als urtümliches Primatenmodell in Betracht gezogen hatte, meinte man nämlich von ihnen nicht viel erwarten zu dürfen – insbesondere nur ein ziemlich stereotypes Verhalten, wie man es auch für die frühen Primaten annahm; davon, so das Vorurteil, hätten sich erst die höheren Primaten emanzipiert. Die Freilandforschung enthüllte jedoch eine unvermutete Vielfalt und Vielseitigkeit.

Bestimmte Vorhersagen aufgrund der Anatomie bestätigten sich durchaus, etwa, daß die Lemuren als wesentliches soziales Kommunikationsmittel noch Geruchsmarkierungen – Harn, Kot und auch spezielle Drüsensekrete – verwenden. Dieses Verhalten ist bei Säugetieren so weit verbreitet, daß es wohl ein altes Erbe sein muß; kaum jemand dürfte bezweifeln, daß es auch für die Verständigung der eozänen Primaten untereinander noch wichtig war.

Dementsprechend erkunden Lemuren ihre Umgebung überwiegend mit der Nase, wählen also zum Beispiel eine reife Frucht eher nach dem Duft als nach dem Aussehen aus. Für Arten aus allen fünf heutigen Familien ist inzwischen belegt, daß der Geruchssinn große Bedeutung hat, wesentlich mehr als bei den meisten höheren Affen – und bei den Primaten des Eozäns sicherlich keine geringere. Nur, gilt für den Gesichtssinn das Umgekehrte? Wenn ein Sifaka durchs Geäst rast, sieht das eigentlich nicht so aus, als würde ihn ein mangelhaftes räumliches Sehvermögen sonderlich behindern.

Lemuren sind, dies erweisen die neueren Forschungen, in Verhalten und Lebensweise eher noch vielseitiger als höhere Primaten. Sie ernähren sich gleichfalls von Früchten, Blüten, Blättern und Knospen sowie Insekten, außerdem aber von Nektar, wie man nun immer öfter beobachtet. An sich sind sie Allesfresser, doch es gibt auch einige extreme Nahrungsspezialisten, zum Beispiel die Bambuslemuren oder Halbmakis, von denen viele nicht nur Bambus an sich, sondern sogar ausschließlich bestimmte Teile der Pflanzen bevorzugen. Dabei enthalten die Sprosse, die der erst kürzlich entdeckte Goldene Bambuslemur – ein Tier von nur wenigen Pfund Gewicht – an einem Tag vertilgt, genug Cyanid, um ein halbes Dutzend Menschen umzubringen.

Lemuren haben fast alle Vegetationszonen vom Regenwald bis zum Trockenbusch besiedelt, in denen höhere Primaten leben. Aber während Affen und Menschenaffen mit wenigen Ausnahmen tagsüber wach sind und nachts schlafen, ist ein Teil der Lemurenarten tag-, ein weiterer nachtaktiv und der Rest sowohl am Tage als auch in der Nacht zeitweilig munter.

Des weiteren ist die Vielfalt an Sozialstrukturen beträchtlich. Die erwachsenen Tiere einiger Arten leben mehr oder weniger für sich allein, die Weibchen in kleineren Gebieten, die sich mit den größeren der Männchen überlappen. Bei anderen Arten versorgt ein Paar gemeinsam den Nachwuchs. Manche Arten bilden hingegen Kleingruppen aus jeweils mehreren erwachsenen Individuen beider Geschlechter, wieder andere instabile und noch andere dauerhaftere Sozialeinheiten von einigen Dutzend Mitgliedern oder mehr.

Auch diese Grundmuster sind noch vielfach abgewandelt. Sogar bei derselben Art können sich die sozialen Strukturen regional erheblich unterscheiden. Besonders bemerkenswert scheint, daß zumindest einige Spezies der Lemuren trotz ihres im allgemeinen kleineren Gehirns eine so komplexe Sozialität haben, wie wir sie gewöhnlich nur bei höheren Primaten erwarten.

So gewinnen wir allmählich eine realistischere Vorstellung davon, wie auch unsere frühen Vorfahren wohl gewesen sein können. Archaischen Zügen bei den Lemuren wie dem Vorherrschen des Geruchssinns steht ein flexibles, anpassungsfähiges Verhalten gegenüber, wie es ähnlich schon den eozänen Affen eigen gewesen sein dürfte. Wenn aber die Primaten von ihrem Ursprung an – noch bevor die Ausbildung großer Gehirne einsetzte, die wir als Charakteristikum der höheren Herrentiere ansehen – eine solche Plastizität gehabt haben, waren die frühen Formen durchaus nicht primitiv. Meines Erachtens ist dies das entscheidende Erbe unserer Säugetierordnung – bedeutsamer als sämtliche anatomischen Merkmale, die man gewöhnlich hervorzuheben pflegt.

Wenn man jetzt kritisch fragt, wieso die Lemuren sich denn nicht weiter in unsere Richtung entwickelt haben, übersieht man den wesentlichen Punkt. Denn schließlich haben sie von ihren Vorfahren, wie wir von unseren, das kardinale Merkmal Verhaltensplastizität geerbt.

Im übrigen brauchten die Lemuren, um all die ökologischen Gelegenheiten auf Madagaskar voll nutzen zu können, gar nicht die für höhere Primaten typischen physischen Eigenschaften. Das wird besonders deutlich, wenn man sich ihre Artenvielfalt zur Zeit der Ankunft des Menschen vergegenwärtigt. Schon der heutige Formenreichtum ist, wenn man nur die Größenverhältnisse vom Mausmaki mit knapp 60 Gramm Gewicht bis zum sieben Kilogramm schweren Indri nimmt, eindrucksvoll genug. Damals aber war die Mannigfaltigkeit auf der einen Insel nicht geringer, vielleicht sogar größer als heute bei den über mehrere Kontinente verbreiteten höheren Primaten.

Fossilien vervollständigen das Bild

Im späten 19. Jahrhundert brachten Ausgrabungen auf der zentralen Hochebene Madagaskars erst teilweise fossilisierte Überreste von riesigen Lemuren ans Licht, die ausgestorben waren, aber eben vor noch nicht allzu langer Zeit. Man kennt inzwischen mindestens 15 solcher Arten aus wenigstens acht Gattungen, die sämtlich größer waren als die größten noch existierenden. Auch von anderen Tiergruppen gab es auf der Insel vor wenigen Jahrhunderten noch Riesenformen, eine Riesenschildkröte etwa oder die Madagaskarstrauße, darunter Aepyornis maximus, der mit mehr als drei Metern Höhe und wohl fast 500 Kilogramm Gewicht der größte jemals lebende Vogel war und als Urbild des legendären Vogels Rock gilt.

Die jüngst ausgestorbenen Lemuren sind eingehend untersucht worden, und man hat eine Fülle von Bewegungsmöglichkeiten und Körperhaltungen entdeckt – wie auch bei den heutigen Arten, ob es nun die Trippelschritte der Mausmakis sind, wenn sie auf allen vieren durchs Geäst huschen, oder die weiten Sprünge der langbeinigen, schlanken Sifakas und Indris von Baum zu Baum. Im Prinzip hindert die Anatomie keinen Angehörigen der Lemuren, sich in jeder Zone des Waldes passabel fortzubewegen. Allerdings halten die lebenden Arten mit Ausnahme des Kattas sich nicht gern länger am Boden auf.

Eine ausgestorbene Gruppe aber war eindeutig an das Leben auf dem Boden angepaßt; die Familie der Archaeolemuridae mit den beiden mittelgroßen Gattungen Archaeolemur (Bild 2) und Hadropithecus. Laurie R. Godfrey von der Universität von Massachusetts in Amherst, von dem auch die übrigen hier angeführten Gewichtsschätzungen für ausgestorbene Arten stammen, errechnete für diese Tiere Körpergewichte zwischen 15 und 25 Kilogramm. Sie waren kurzbeinig und ziemlich untersetzt, hatten ein hochspezialisiertes Gebiß und gehören in die Verwandtschaft der Indris und Sifakas.

Clifford J. Jolly von der Universität New York verglich die beiden Gattungen mit zwei höheren afrikanischen bodenlebenden Primaten: Archaeolemur mit savannenlebenden Pavianen und Hadropithecus mit dem Dschelada. Diese Paviane sind extrem anpassungsfähig; sie kommen in verschiedenen Typen von Wäldern ebenso gut zurecht wie in ihrem hauptsächlichen Habitat, der offenen Savanne. Ähnlich vielseitig mag Archaeolemur gewesen sein. Dscheladas hingegen behaupten sich unter den extremen Bedingungen des baumfreien äthiopischen Hochlands; sie sammeln praktisch alles, was sie fressen, am Boden. Soweit sich aus dem Gebiß und den vorhandenen Skelettresten schließen läßt, muß Hadropithecus sich ähnlich ernährt und vergleichbare Habitate bewohnt haben.

Manche ausgestorbenen Lemuren glichen eher anderen Säugetieren als Primaten, beispielsweise die den Indris verwandte Gattung Palaeopropithecus, zu der mindestens zwei Arten gehörten. Sie wogen zwischen 40 und 60 Kilogramm. Mein Kollege am Amerikanischen Museum für Naturgeschichte in New York, Ross MacPhee, der vor wenigen Jahren ein beinahe vollständig erhaltenes Skelett aus Nordmadagaskar untersucht hat, meint, sie wären langsam und ein wenig den Faultieren ähnlich gewesen, hätten mit dem Körper nach unten in den Bäumen gehangen und nicht besonders viel Kraft gehabt, seien dafür aber ziemlich gelenkig gewesen.

Noch größer war die verwandte Gattung Archaeoindris. Die Tiere, von denen man noch sehr wenig weiß, könnten 200 Kilogramm gewogen haben. Nach Ansicht von Martine Vuillaume-Randriamanantena von der Universität von Madagaskar in Antananarivo lebten sie wahrscheinlich am Boden und liefen auf allen vieren, ähnlich den ausgestorbenen Riesenfaultieren der Neuen Welt. Wie bei diesen war der Schädel besonders in der Nasenregion speziell strukturiert wie sonst bei keinem lebenden Primaten.

Die bestbekannte ausgestorbene Gattung – Megaladapis (Bild 2) mit drei Arten, die zwischen 40 und 80 Kilogramm wogen – erinnert ebenfalls an Tiere außerhalb der Primatenordnung. Alan C. Walker von der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (Maryland) zufolge ähnelten sie in ihrer Bewegungsweise am ehesten dem australischen Beutelbären, dem Koala. Auch sie müssen langsam kletternde Tiere gewesen sein, die sich gern in Astgabeln abstützten und schlecht springen konnten. Ihr Schädel war daran angepaßt, daß sie aus einer Sitzposition weit um sich herum an Nahrung gelangten, was ihre beschränkte Beweglichkeit ausglich.

Zerstörung der Lebensräume

Als bester Fundort ausgestorbener Lemuren gilt Ampasambazimba in der zentralen Hochebene Madagaskars. Dort hat man Knochen von insgesamt 14 Arten gefunden, darunter solche von einigen noch lebenden. Damit ist die Stätte, verglichen mit anderen Lebensräumen von Primaten sonstwo auf der Welt, hinsichtlich der Artenzahl gleichwertig. Nur – sie liegt mitten in einer baumlosen Gegend. Wie hatte diese reiche und vielfältige, auf Wälder angewiesene Tierwelt hier existieren können?

Glaubt man Untersuchungen vom Anfang dieses Jahrhunderts, war Madagaskar bis zur Ankunft des Menschen vor relativ kurzer Zeit vollständig bewaldet. Die frühen Siedler hätten dann riesige Flächen abgebrannt, um Weide- und Ackerland zu gewinnen. Tatsächlich rodet die Bevölkerung immer noch Wald in verheerendem Ausmaß.

So meinen viele denn auch, daß die Zerstörung der Lebensräume durch den Menschen eine der Hauptursachen für das Verschwinden der großen Vögel und Säugetiere in historischer Zeit war. Die Lemuren traf es selektiv: Ausgestorben sind die größeren Arten, also jene, die besonders auffällig und als Jagdbeute für den Menschen lohnend waren. Vermutlich pflanzten sie sich zudem langsamer fort als die kleineren, konnten mithin Verluste nicht so bald ausgleichen. Daß direkte und indirekte menschliche Einflüsse derart zusammenwirkten, scheint durchaus schlüssig.

Alternativ hat man Klimaveränderungen für die Verarmung der madagassischen Tierwelt verantwortlich gemacht, denn viele der Fundorte teilweise fossilisierter Relikte sind heute ausgetrocknete Seen oder Sümpfe. Damit allein ließe sich das Aussterben zwar nicht erklären; aber kürzlich wurde immerhin nachgewiesen, daß einige der Grasflächen auf dem Zentralplateau wohl schon lange bestehen und es dort also keinen Wald mehr gab, als der Mensch auf Madagaskar ankam.

David A. Burney von der Fordham-Universität in New York hat außerdem an Sedimenten von Seen ermittelt, wie sich die globalen Klimaschwankungen der letzten Jahrtausende auf Madagaskar ausgewirkt haben. Demnach scheinen die Wälder in den Eiszeiten stark zurückgegangen zu sein und sich erst nach deren Ende vor etwa 10000 Jahren wieder ausgedehnt zu haben. So überrascht es nicht, daß die zentralen Hochländer noch nicht wieder völlig bewaldet waren, als die ersten Siedler eintrafen.

Ökologischer Stress ist sicherlich nichts Ungewöhnliches. Die Linien der heute ausgestorbenen Affen Madagaskars konnten sich aber in wechselvollen Zeiten lange behaupten. Warum sollten ihnen allen dann ausgerechnet erst die recht milden Klimaschwankungen der historischen Vergangenheit den Garaus gemacht haben? Das Argument klimabedingter natürlicher Auslese ist besonders deswegen fragwürdig, weil die meisten Arten wahrscheinlich ökologische Generalisten waren: Wie auch andere große Lemuren lebten Megaladapis, Palaeopropithecus und Archaeolemur nämlich sowohl in feuchten wie in trockenen Gebieten und waren offenbar sehr anpassungsfähig.

Als maßgeblicher Störfaktor von völlig neuer Dimension bleibt somit nur einer: Homo sapiens.

Haben die Lemuren eine Zukunft?

Das Verschwinden der größten Lemuren kann man nicht als eines der vielen Aussterbeereignisse in der Geschichte des Lebens ad acta legen. Die Primaten auf Madagaskar werden auch heute noch dezimiert. Denn auch die kleineren, flinkeren Arten sind durch die Expansion der menschlichen Bevölkerung bedroht. Immer häufiger werden sie mit immer effektiveren Waffen gejagt. Anscheinend geht dadurch, daß die Menschen mobiler werden, manches Tabu der Alteingesessenen verloren, das Lemuren an bestimmten Orten geschützt hat.

Viel beunruhigender noch ist die Zerstörung der Lebensräume, vornehmlich durch Brandrodungsfeldbau, aber auch durch den Einschlag von Brenn- und Nutzholz. Vom größten zusammenhängenden Waldgebiet Madagaskars entlang des regenreichen Gebirgszugs im Osten der Insel waren 1985, wie Glen M. Green und Robert W. Sussman von der Washington-Universität in Saint Louis (Missouri) durch Vergleich von alten Quellen und Satellitenaufnahmen ermittelten, 66 Prozent der um die Jahrhundertwende noch vorhandenen Fläche verschwunden; nach ihrer Schätzung werden dort um das Jahr 2020 nur mehr auf den steilsten Berghängen Bäume stehen, und im flacheren Westen und Süden Madagaskars dürfte der Wald noch eher total vernichtet sein.

Da diese Vernichtung von Habitaten schon vor vielen Jahrzehnten offensichtlich war, richteten die französischen Kolonialbehörden bereits in den zwanziger Jahren ein System von Naturreservaten ein. Nur kann die seit 1958 autonome, seit 1960 unabhängige Republik, einer der ärmsten Staaten der Welt, trotz besten Willens der Regierung nicht die Mittel aufbringen, um diese Gebiete angemessen zu überwachen; manche sind gänzlich ungeschützt. Wenigstens interessieren sich seit einigen Jahren internationale Naturschutzverbände für Madagaskar; es erhielt kürzlich als eines der ersten Länder einen Schuldenerlaß gemäß dem Übereinkommen, Zahlungsverpflichtungen gegen ökologische Maßnahmen aufzurechnen.

Sicherlich zerstören vor allem sehr arme Menschen den Wald, um unmittelbare und legitime Bedürfnisse zu befriedigen. Und vielfach müssen großangelegte Umwelt-Vorhaben erst aus der abgehobenen Sphäre von Regierungsbeschlüssen in konkrete, auch für die Bevölkerung akzeptable und praktikable Projekte vor Ort umgesetzt werden. Nur in dem Maße, wie dies gelingt, werden sich die Bedingungen für den Erhalt der reduzierten einzigartigen Floren und Faunen Madagaskars stabilisieren und vielleicht sogar langfristig verbessern.

Unterdessen aber schrumpfen die Halbaffen-Populationen weiter. Jeder Untergang einer Art, gleich an welchem Ort der Welt, ist ein unersetzlicher Verlust. Nur ist die Tragödie im Falle der Lemuren Madagaskars besonders akut, weil wir an ihnen noch viel über unsere eigene Herkunft lernen könnten.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1993, Seite 58
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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