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Die leuchtschwächsten Galaxien

Während der letzten zehn Jahre haben Astronomen mehr als tausend diffuse Sternsysteme entdeckt, die kaum heller erscheinen als der Hintergrund des Nachthimmels. Diese schummrigen Objekte, die einem zuvor unbekannten Galaxientyp angehören, liefern neue Erkenntnisse darüber, wie Masse im Universum verteilt ist und wie Galaxien sich entwickeln.

Von jeher suchen Menschen aus den unzähligen Lichtpunkten am Nachthimmel die Geheimnisse des Universums – seine Ausdehnung, seinen Aufbau und seine Entwicklung – zu ergründen. Je leistungsfähiger die Beobachtungsgeräte und -methoden wurden, desto mehr verfeinerte sich dabei das kosmologische Weltbild.

Als beispielsweise nach Ende des Ersten Weltkriegs das 2,50-Meter-Teleskop auf dem Mount Wilson in Kalifornien fertiggestellt war, vermochte der Astronom Edwin Hubble (1889 bis 1953) mit diesem damals größten Spiegelfernrohr der Welt zu zeigen, daß sich der Kosmos weit über das Milchstraßensystem hinaus erstreckt: Zahllose Welteninseln befinden sich in den Weiten des Alls, von denen jede ähnlich wie unsere Galaxis Dutzende oder gar Hunderte Milliarden Sterne enthält (Spektrum der Wissenschaft, September 1993, Seite 78).

Mittlerweile schätzen die Astronomen die Anzahl beobachtbarer Galaxien auf einige hundert Millionen, manche sogar auf mehr als eine Milliarde. Sie erkannten zudem, daß die Sternsysteme nicht regellos im Raum verteilt sind, sondern üblicherweise Gruppen mit bis zu mehreren hundert Mitgliedern bilden. Diese Galaxienhaufen ballen sich ihrerseits zu irregulären filamentartigen Anordnungen zusammen, den sogenannten Superhaufen, von denen sich manche über mehrere hundert Millionen Lichtjahre erstrecken und damit die größten bekannten Strukturen im Universum sind.

Hubble teilte die Sternsysteme nach ihrem Erscheinungsbild in drei grundlegende Typen ein:

- Elliptische Galaxien sind mehr oder weniger kugelförmige, strukturlose Gebilde, deren Helligkeit zum Zentrum hin zunimmt.

- Spiralgalaxien, zu denen auch unser Milchstraßensystem gehört, weisen im Zentrum eine ausgeprägte Verdickung auf, den bulge, der einem kleinen elliptischen Sternsystem ähnelt; dieser ist von einer Scheibe aus jüngeren blauen Sternen umgeben, die spiralförmig angeordnet sind.

- Irreguläre Galaxien schließlich enthalten relativ wenig Masse und sind, wie bereits ihr Name andeutet, von unregelmäßiger Gestalt.

Dieses von Hubble 1929 aufgestellte Klassifikationsschema wird bis heute im wesentlichen beibehalten. Doch mittlerweile hat sich die Anzahl beobachtbarer Galaxien um ein Vielfaches erhöht; und seit Mitte der achtziger Jahre gelang es, Vertreter eines neuen Typus von Sternsystemen auszumachen, die man bis dahin schlichtweg übersehen hatte.


Gasballung in Zeitlupe

Meine Arbeitsgruppe beispielsweise setzt seit etwa zehn Jahren elektronische Kameras mit verbesserten Halbleiterdetektoren (charge-coupled devices, CCDs) ein und benutzt ein innovatives Verfahren zur photographischen Kontrastverstärkung, das der Astronom David F. Malin am Anglo-Australischen Observatorium in Epping (Neusüdwales, Australien) entwickelt hat. Mit diesem Instrumentarium vermochten wir Galaxien extrem geringer Helligkeit zu entdecken. Diese Sternsysteme ähneln zwar normalen Spiralgalaxien, und sie enthalten auch etwa ebenso viele Sterne; doch weisen sie im allgemeinen eine viel größere Ausdehnung auf, weswegen die Anzahl Sterne pro Volumeneinheit weit geringer ist (Bild 1).

Während die Spiralarme gewöhnlicher Spiralgalaxien in der Regel zahlreiche Sternentstehungsgebiete und bläulich strahlende junge Sterne aufweisen, enthalten diejenigen der leuchtschwachen Galaxien sehr viel mehr Gas, und die Spiralstruktur ist weniger prägnant. Offenbar dauert es in diesen Sternsystemen – im englischen Fachjargon low-surface-brightness galaxies, Galaxien mit geringer Flächenhelligkeit, genannt – sehr viel länger, bis sich Gas zu Sternen zusammenballen kann. Alles in allem verläuft ihre Entwicklung vier- bis fünfmal langsamer als die der anderen, und das Universum ist noch nicht alt genug, als daß sie sich zu einem der zuvor bekannten Galaxientypen hätten entwickeln können.

Besonders bemerkenswert an unseren Befunden ist, daß diese leuchtschwachen Sternsysteme ebenso häufig sein könnten wie alle anderen Typen zusammen. Demzufolge müßte man die geschätzte Zahl aller Galaxien im Universum verdoppeln.

Könnten diese Sternsysteme somit vielleicht auch eine der Kernfragen der Kosmologie klären helfen, nämlich die nach der sogenannten fehlenden Masse? Seit Jahrzehnten wissen die Astronomen, daß die bekannte Materie im Universum nicht ausreicht, um die durch Massenanziehung gebildeten großräumigen Strukturen zu erklären. Mindestens 90 Prozent der Gesamtmasse im Kosmos – so die Schlußfolgerung – müsse aus nicht leuchtender und damit aus nicht beobachtbarer Materie bestehen.

Aber die Galaxien geringer Flächenhelligkeit sind dann doch nicht zahl- und massereich genug, um die aus Gründen der kosmischen Dynamik und Strukturierung geforderte Dunkle Materie sein zu können. Gleichwohl könnten sie ein anderes Rätsel der Kosmologie lösen, nämlich das der baryonischen Masse in Galaxien. Baryonen nennt man die subatomaren Teilchen, die aus je drei Quarks aufgebaut sind; ihre bekanntesten – und leichtesten – Vertreter sind Protonen und Neutronen, aus denen alle Atomkerne bestehen. Aus Reaktionen zwischen ihnen rührt letztlich die Leuchtkraft der Sterne und damit auch der Galaxien her.

Die aus spektroskopischen Messungen abgeleitete Häufigkeit des Elements Helium im Universum weist nun darauf hin, daß es weit mehr Baryonen geben sollte, als in den bekannten Galaxientypen zu finden sind. Die fehlenden Baryonen könnten im intergalaktischen Raum stecken; sie könnten sich aber auch in einer unbekannten oder schwer zu beobachtenden Population von Sternsystemen befinden – wie eben etwa in den Low-surface-brightness-Galaxien. Sobald wir mehr über diese Objekte wissen, ließe sich nicht nur diese Frage klären; wir könnten sogar gezwungen sein, die herrschenden Vorstellungen über Entstehung und Entwicklung von Galaxien erheblich zu modifizieren.


Ein düsterer Gigant

Wenngleich die Entdeckung von Galaxien mit geringer Flächenhelligkeit erst vor kurzem die extragalaktische Astronomie umzukrempeln begann, kündigten sich die ersten Anzeichen dafür bereits vor zwanzig Jahren an. Dem Astronomen Michael J. Disney, nun an der Universität von Wales in Cardiff (Großbritannien), kam 1976 der Verdacht, daß die Kataloge der mit optischen Teleskopen registrierten Galaxien möglicherweise äußerst trügerisch seien, weil seine Fachkollegen nur die auffälligsten Sternsysteme darin verzeichnet hatten – nämlich nur die relativ leicht zu beobachtenden, die sich vom Hintergrund des Nachthimmels besonders gut abheben. Er gab zu bedenken, daß nichts die Annahme rechtfertige, diese Galaxien würden die allgemeine Population repräsentieren. Damals waren allerdings noch keine leuchtschwachen Vertreter dieser Objektklasse bekannt, die Disneys Zweifel hätten erhärten können. Deshalb hielt die astronomische Gemeinschaft seine Hypothese für bestenfalls anwendbar auf äußerst ungewöhnliche extragalaktische Objekte und ignorierte sie.

Erst zehn Jahre später erwies sich, daß Disney recht hatte, als nämlich meine Kollegen und ich 1986 eine extrem große Scheibengalaxie mit geringer Flächenhelligkeit entdeckten, die bislang massereichste (und leuchtkräftigste) ihrer Art. Nach kosmischen Maßstäben befindet sie sich sogar in unmittelbarer Nähe: nur 800 Millionen Lichtjahre von uns entfernt. Stünde sie so nahe wie der Andromedanebel M31 (2,3 Millionen Lichtjahre entfernt), würde ihr Winkeldurchmesser am Nachthimmel 20 Grad betragen – den vierzigfachen scheinbaren Durchmesser des Vollmonds.

Wie konnte ein derart großes und nahes Objekt nur so lange übersehen werden? Um dies zu erläutern, sind zunächst einige Anmerkungen erforderlich über die Eigenschaften von Galaxien und die Art und Weise, wie Astronomen sie messen.

Das von der Scheibenkomponente einer Spiralgalaxie ausgesandte Licht nimmt im allgemeinen mit zunehmender Entfernung von ihrem Zentrum exponentiell in der Intensität ab. Diese Eigenart ermöglicht es, die Größe eines solchen Sternsystems zu ermitteln, welche die Astronomen gemeinhin als sogenannte Skalenlänge angeben: als den Abstand vom Zentrum, in dem die Flächenhelligkeit nur noch das 1/e-fache des Zentralwertes beträgt. (Die Eulersche Zahl e = 2,718 ... ist die Basis des natürlichen Logarithmus; sie dient gewöhnlich der Beschreibung natürlicher Systeme, die ein exponentielles Verhalten aufweisen.) Die Skalenlänge wird üblicherweise in Kiloparsec, also tausend Parsec, angegeben; für unser Milchstraßensystem beispielsweise, eine eher mittelgroße Spiralgalaxie, beträgt sie etwa drei Kiloparsec. (Ein Parsec entspricht etwa 3,26 Lichtjahren oder 3,0857 × 1016 Metern.)

Ein weiterer Parameter zur Beschreibung von Galaxien ist die scheinbare Flächenhelligkeit in ihrem Zentrum, die ein Maß für die Sterndichte darstellt (Bild 3; das Wort Fläche in diesem Ausdruck erinnert daran, daß die räumlichen Galaxien wie auf die Fläche der Himmelskugel projiziert erscheinen). Die scheinbare Helligkeit geben die Astronomen traditionell in Größenklassen oder Magnituden an. Die Größenklassenskala ist ebenfalls logarithmisch: Zwei Objekte, deren Lichtintensitäten sich um den Faktor 100 unterscheiden, differieren um fünf Größenklassen in der scheinbaren Helligkeit; dabei ist der numerische Wert um so höher, je geringer die Lichtintensität ist.

Die zentrale Flächenhelligkeit einer typischen Spiralgalaxie beträgt (im blauen Bereich des Spektrums) etwa 21,5 Magnituden pro Quadratbogensekunde. Im Rahmen dieses Artikels bezeichnen wir als Low-surface-brightness-Galaxien (oder kurz als LSB-Galaxien) all jene, die leuchtschwächer als 23 Magnituden pro Quadratbogensekunde sind. Dieser Wert entspricht etwa der Helligkeit des Himmelshintergrundes im blauen Bereich des Spektrums zwischen 400 und 500 Nanometern Wellenlänge, gemessen in einer dunklen, mondlosen Nacht an einem Ort mit guten astronomischen Sichtbedingungen.

Durch einfaches Integrieren lassen sich aus scheinbarer Flächenhelligkeit im Zentrum und Skalenlänge die Gesamtmasse und die Gesamtleuchtkraft einer Galaxie berechnen; in den entsprechenden astronomischen Katalogen sind diese Werte verzeichnet. Wie jedoch die Entdeckung der leuchtschwachen Sternsysteme belegt, ist die gesamte Spannweite der Galaxientypen noch längst nicht ermittelt. Darum sind bisher auch die möglichen Werte der Skalenlängen und zentralen Flächenhelligkeiten nicht bekannt, die vom noch immer rätselhaften Prozeß der Galaxienentstehung abhängen. Die Entdeckung der leuchtschwachen Galaxien ist insofern bedeutend, als sie den bekannten Parameterbereich deutlich erweitert hat. Sobald genügend Beobachtungsmaterial vorliegt, um dessen Umfang genau zu bestimmen, werden sich daraus Randbedingungen für die physikalischen Theorien zur Galaxienentstehung ableiten lassen.


Erste Hinweise

Die ersten Indizien dafür, daß es noch leuchtschwächere Galaxien geben könnte als die damals bekannten, fanden 1983 William J. Romanishin (nun an der Universität von Oklahoma in Norman) sowie seine Mitarbeiter Stephen E. Strom und Karen M. Strom (beide jetzt an der Universität von Massachusetts in Amherst), als sie den "Uppsala General Catalogue of Galaxies" durchforsteten. Die von den drei Forschern herausgesuchten Sternsysteme sind zwar fast alle heller als 23 Magnituden pro Quadratbogensekunde und verfehlen damit das Kriterium für eine LSB-Galaxie; doch identifizierten sie bei ihrer Durchmusterung eine Gruppe von Objekten, die große Mengen an Gas enthalten und auch andere ungewöhnliche Eigenschaften aufweisen.

Beim Lesen der entsprechenden Veröffentlichung kam mir der Gedanke, daß die Vorstellung, die man sich damals von der Verteilung der Galaxien im Universum machte, durch einen Auswahleffekt in den Beobachtungen verfälscht sein könnte. Zwar war es möglich, eine Art räumlicher Karte zu konstruieren, in der alle jemals entdeckten Galaxien ihren Typen und Positionen gemäß dargestellt sind. Doch werden darin nur solche verzeichnet sein, deren Entfernung bekannt ist. Weil sich dieser Wert aber nur aus der Rotverschiebung – also durch Messen der Frequenzverschiebung in den Licht- oder Radiofrequenzspektren der Objekte infolge ihrer hohen Fluchtgeschwindigkeit – ermitteln läßt, werden all jene Galaxien in der Darstellung fehlen, die zu leuchtschwach sind, als daß ihre Rotverschiebung gemessen werden könnte.

Schließlich publizierte Anfang 1984 Allan R. Sandage von der Carnegie-Institution in Washington erste Ergebnisse seiner photographischen Durchmusterung des Virgo-Galaxienhaufens. Er hatte einige eindrucksvolle Beispiele von sehr diffusen Zwerggalaxien gefunden. Doch mein Kollege Chris D. Impey vom California Institute of Technology in Pasadena und ich mutmaßten, daß es in diesem Himmelsareal auch Galaxien mit noch geringerer Flächenhelligkeit geben könnte, und wir beschlossen, nach ihnen zu suchen.

Dazu brauchten wir zweierlei – viel Geduld und vor allem eine außergewöhnliche Nachweistechnik. Aus der Fachliteratur wußten wir, daß unser australischer Kollege Malin eine Methode zur Kontrastverstärkung von Photographien entwickelt hatte, mit der er schemenhafte Hüllen und andere Materiefetzen, die sich infolge von Gezeitenwirkungen um gewöhnliche Galaxien gebildet haben, erkennbar machen konnte. Dasselbe Verfahren sollte sich auch auf vollständige Sternsysteme mit geringer Flächenhelligkeit anwenden lassen. Als Malin uns sagte, er fände überall solche "zwielichtigen Gestalten", sobald er seine Technik auf eine Photoplatte anwende, stachelte er unsere Neugier weiter an.

Sein Verfahren (das wir Malinisierung nennen möchten) ist eine Erweiterung der in der Astrophotographie seit langem üblichen Sandwich-Technik: Mehrere Photoplatten mit Aufnahmen desselben Himmelsausschnitts werden übereinandergelegt und gemeinsam durchleuchtet. Je mehr Platten sich im Stapel befinden, desto höher wird der Kontrast des so belichteten Bildes. Das Verfahren funktioniert jedoch nur, wenn die Einzelaufnahmen extrem genau aufeinander justiert werden; Malins Verdienst besteht darin, diese Präzision erreicht zu haben.

Malin stimmte zu, seine Technik auf einige ausgewählte Bildfelder des Virgo-Haufens von jeweils einem Quadratgrad Größe anzuwenden, die wir photographiert hatten. Mit dem Uppsala-Katalog, Sandages Durchmusterung und den von Malin angefertigten Abzügen stellten wir eine Liste von diffusen Objekten zusammen, die wir mit CCDs genauer untersuchten und deren Rotverschiebung wir messen wollten, um ihre Entfernung bestimmen zu können. Unsere Arbeiten verliefen planmäßig, bis wir eine jener seltenen Entdeckungen machten, die einem Routineprojekt unvermittelt neues Gewicht verleihen und es zu einer besonderen Herausforderung werden lassen.

Im Februar 1986 waren wir dabei, mit dem 2,54-Meter-Teleskop auf Las Campanas (Chile) die Objekte unserer Liste im Virgo-Haufen mit CCDs aufzunehmen. Die meisten dieser Galaxien erwiesen sich lediglich als verwaschene Flecken, die kaum Strukturen erkennen ließen. Aber eines dieser Objekte wies augenscheinlich Spiralarme auf, die mit einer punktförmigen Zentralregion verbunden waren. Ein Vergleich mit einer photographischen Durchmusterung jener Himmelsgegend ergab, daß dieses Zentrum dort wie ein lichtschwacher Stern aussah; Anzeichen einer diffusen Scheibe, wie man sie bei einer Galaxie erwarten würde, fehlten.

Das Zentralgebiet dieses ungewöhnlichen Objekts war gerade noch hell genug, um es spektroskopisch untersuchen zu können – was Jeremy Mould und ich im Mai 1986 mit dem 5-Meter-Teleskop auf dem Mount Palomar in Kalifornien auch taten. Erstaunt stellten wir Emissionslinien im Spektrum dieses Objekts fest. Dies wies auf Sternentstehungsgebiete hin oder auf andere Vorgänge, durch die Gas ionisiert wird.

Die gemessene Rotverschiebung der Emissionslinien von 8,3 Prozent ergab, daß dieses Objekt 25mal so weit entfernt ist wie der Virgo-Haufen. Dennoch betrug seine Ausdehnung auf unserer CCD-Aufnahme 2,5 Bogenminuten. Sollte es sich wirklich um eine Galaxie handeln, wäre sie demnach etwa 20mal so groß wie das Milchstraßensystem (bezogen auf die jeweilige Skalenlänge) und damit bei weitem die größte, die jemals entdeckt wurde.

Dies erschien mir damals als sehr unwahrscheinlich; ich vermutete, daß wir das Spektrum einer weit hinter dem Virgo-Haufen gelegenen Galaxie beobachtet hatten, deren Licht eine viel nähere Zwerggalaxie im Haufen selbst durchquerte. Um dies zu überprüfen, reiste ich im Oktober 1986 nach Arecibo in Puerto Rico, wo sich das mit 300 Metern Durchmesser größte Radioteleskop der Welt befindet. Galaxien enthalten große Mengen bestimmter Gase, die Radiowellen aussenden – atomarer Wasserstoff beispielsweise bei einer Wellenlänge von 21,1 Zentimetern. Die beobachtete Wellenlänge beziehungsweise Frequenz ist dabei um denselben Faktor rotverschoben wie die Emissionslinien des sichtbaren Lichts. Wenn meine Hypothese einer Vordergrundgalaxie im Virgo-Haufen richtig war, sollte es mir gelingen, ihre Radiosignale aufzufangen, indem ich sie bei einer Frequenz beobachtete, die der mittleren Rotverschiebung des Virgo-Haufens entsprach.

Aber ich fand nichts. Handelte es sich vielleicht doch um eine sehr weit entfernte Galaxie?

Ich stellte die Beobachtungsfrequenz auf einen Wert ein, der einer Rotverschiebung der Wasserstofflinie von 8,3 Prozent entsprach, so wie wir sie anhand unseres Palomar-Spektrums ermittelt hatten. Innerhalb von zehn Minuten registrierte ich ein enorm starkes Signal.

Atomarer Wasserstoff macht etwa zehn Prozent der Masse eines Sternsystems aus und ist hauptsächlich in den Armen von Spiralgalaxien zu finden. Die Signatur der rotverschobenen 21,1-Zentimeter-Linie, die ich mit dem Arecibo-Radioteleskop registrierte, entsprach der einer fernen rotierenden Scheibengalaxie. Dieses riesige und außergewöhnlich leuchtschwache Objekt, das heute unter der Bezeichnung Malin 1 bekannt ist, weist eine scheinbare Flächenhelligkeit von 26,5 Magnituden pro Quadratbogensekunde auf. Herkömmliche Spiralen sind typischerweise 100fach heller. Die Entdeckung von Malin 1 war die erste direkte Bestätigung der Existenz von LSB-Galaxien.


Erfolg systematischer Suche

Impey und ich initiierten drei neue Durchmusterungen, um mehr über diese Galaxien herauszufinden, die offenbar eine eigene Population bilden. Bei der ersten half uns James M. Schombert, damals Postdoktorand am California Institute of Technology; er arbeitete am New Palomar Sky Survey mit, der neuen Himmelsdurchmusterung des Palomar-Observatoriums, und überließ uns die Photoplatten, um sie nach diffusen Galaxien mit mehr als einer Bogenminute Durchmesser durchsuchen zu können. Eine zweite Durchmusterung, bei der wir mit der Malinisierung arbeiteten, führten wir im Fornax-Haufen durch; wir fanden dort Galaxien, die mit 27 Magnituden pro Quadratbogensekunde lediglich zwei Prozent heller sind als der nächtliche Himmelshintergrund. Bei der abschließenden Durchmusterung, zusammen mit Michael J. Irwin vom Greenwich-Observatorium in Cambridge (England), setzten wir automatische Verfahren zum Scannen photographischer Platten ein.

Durch diese systematische Suche entdeckten wir ungefähr 1000 Objekte, die wir für LSB-Galaxien halten. Sehr kleine gasarme Zwerggalaxien befinden sich ebenso in dieser Gruppe wie auch ein Dutzend extrem großer gasreicher Sternsysteme. (Zehn Jahre nach ihrer Entdeckung ist Malin 1 gleichwohl noch immer die größte bekannte Galaxie.) Ganz allgemein variieren Größe, Rotationsgeschwindigkeit und Masse dieser Objekte in der für gewöhnliche Spiralgalaxien üblichen Bandbreite; aber ein kleiner Anteil von ihnen weist geradezu gigantische Proportionen auf, mit Skalenlängen von mehr als 15 Kiloparsec.

Wir stellten auch fest, daß LSB-Galaxien in Galaxienhaufen, wenn nicht sogar im ganzen Universum, sehr viel zahlreicher sind als gewöhnliche. Sollten ferner leuchtschwache Galaxien ein größeres Masse-Leuchtkraft-Verhältnis aufweisen als hellere, würden sie relativ mehr Masse enthalten; dann könnte auf sie ein beträchtlicher – möglicherweise sogar der größte – Teil der baryonischen Masse des Universums entfallen.

Das erstaunlichste Resultat der Durchmusterungen enthüllte kürzlich Stacy S. McGaugh von der Carnegie-Institution in Washington. Er trug die beobachtete Dichte der Galaxien im Raum über der zentralen Flächenhelligkeit auf und fand, daß die resultierende Kurve bis zu den leuchtschwächsten Objekten weitgehend flach verläuft (Bild 5). Dies bedeutet, daß selbst diffuse Galaxien mit einer Flächenhelligkeit von 27 Magnituden pro Quadratbogensekunde fast ebenso häufig sind wie konventionelle, bei denen dieser Wert typischerweise etwa 21,5 beträgt. Daraus folgt wiederum, daß bis zur Hälfte aller Sternsysteme Spiralgalaxien sind, deren zentrale Flächenhelligkeit schwächer als 22 Magnituden pro Quadratbogensekunde ist.

Interessanterweise ähneln LSB-Galaxien in mancher Hinsicht den sehr fernen blauen Galaxien, die man mit CCD-Durchmusterungen in den Außenbereichen des sichtbaren Weltalls gefunden hat. Es wäre möglich, daß diese fernen Sternsysteme nichts anderes sind als Vorläufer der LSB-Galaxien, die sich gerade in der anfänglichen Phase der Sternbildung befinden. In geringerer Entfernung, in der wir diese Objekte in einem weiter entwickelten Stadium wahrnehmen, wäre dann ihre Flächenhelligkeit auf Werte gesunken, die ihren Nachweis so erschweren. Sollte diese Interpretation zutreffen, dann müßte die Raumdichte der LSB-Galaxien sogar noch höher sein als heute allgemein angenommen.

Gestützt wird diese Ansicht dadurch, daß LSB-Galaxien einen hohen Anteil blauen Lichts emittieren. Für gewöhnlich ist diese Färbung ein Indiz für zahlreiche junge Sterne; allgemein kennzeichnet sie eine Galaxie, die noch in einem frühen Entwicklungsstadium ist. Dies ist durchaus mit den geringen Dichten der LSB-Galaxien konsistent. Wie es scheint, entstanden nämlich die meisten dieser Gebilde erst recht spät durch den Kollaps einer intergalaktischen Gaswolke, so daß sich ihre ersten Sterne ebenfalls vor noch nicht allzulanger Zeit bildeten.

Verschiedene andere Befunde haben unser Wissen über die Entwicklung von Galaxien erweitert. So enthalten LSB- und konventionelle Sternsysteme ähnlich viel neutralen Wasserstoff, wenn auch seine Dichte in ersteren wesentlich geringer ist. Diese Erkenntnis und andere Beobachtungsdaten lassen vermuten, daß die Flächendichte des Gases in einer rotierenden Gasscheibe einen gewissen Schwellenwert überschreiten muß, bevor sich in größerem Umfang Sterne zu bilden beginnen. Des weiteren sind LSB-Galaxien vergleichsweise arm an molekularem Gas.

Alles in allem deuten diese Beobachtungen darauf hin, daß die Flächendichte des neutralen Wasserstoffs in den diffusen Galaxien nicht ausreicht, um das Gas in jene riesigen Molekülwolken umzuwandeln, die in gewöhnlichen Galaxien zu isolierten Verdichtungen kollabieren, aus denen dann massereiche Sterne entstehen (Spektrum der Wissenschaft, September 1991, Seite 82). Es scheint, daß sich die spiralförmigen LSB-Galaxien auf einem parallelen Entwicklungsweg befinden, auf dem sich nur massearme Sterne in Wolken geringer Dichte aus neutralem Wasserstoff bilden.

Weil ihnen massereiche Sterne fehlen, können in ihnen schwere Elemente (solche mit höheren Ordnungszahlen als 12) nur in geringem Maße entstehen. Üblicherweise ist der Anteil schwerer Elemente in einer Galaxie um so höher, je größer ihre Masse ist. Daß LSB-Galaxien unabhängig von ihrer Masse so wenig schwere Elemente enthalten, läßt vermuten, daß sie zu den am wenigsten entwickelten Objekten im Universum gehören und sich im Laufe der Jahrmilliarden nach dem Urknall kaum verändert haben.

Diese neuentdeckte Gruppe von Sternsystemen ermöglicht also einen einzigartigen Einblick in die Entwicklung von Galaxien und die Materieverteilung im Universum. Künftig wollen wir noch intensiver nach solchen diffusen Objekten suchen, indem wir an Observatorien, die einen extrem dunklen Himmelshintergrund bieten, CCD-Durchmusterungen großer Himmelsflächen durchführen. Damit sollten wir selbst Galaxien mit einer zentralen Flächenhelligkeit von 27 Magnituden pro Quadratbogensekunde ausfindig machen können. Mit mehr Beobachtungsdaten werden wir dann feststellen können, ob die Raumdichte der Galaxien sich auch über fünf Magnituden kaum mit der zentralen Flächenhelligkeit ändert. Schon bislang aber hat sich erwiesen, daß im Weltall noch immer neue Entdeckungen zu gewärtigen sind, die unser Verständnis von der Entwicklung der Galaxien und vom Aufbau des Universums weiter modifizieren.

Literaturhinweise

- Structural Characteristics and Stellar Composition of Low Surface Brightness Disk Galaxies. Von Stacy S. McGaugh und Gregory D. Bothun in: Astronomical Journal, Band 107, Heft 2, Seiten 530 bis 542, Februar 1994.

– The Morphology of Low Surface Brightness Disk Galaxies. Von Stacy McGaugh, Gregory D. Bothun und James M. Schombert in: Astronomical Journal, Band 109, Heft 5, Seiten 2019 bis 2033, Mai 1995.

– Galaxy Selection and the Surface Brightness Distribution. Von Stacy McGaugh und anderen in: Astronomical Journal, Band 110, Heft 2, Seiten 573 bis 580, August 1995.

– Ghost Galaxies of the Cosmos. Von Chris Impey in: Astronomy, Band 24, Heft 6, Seiten 40 bis 45, Juni 1996.

– Weitere Informationen und Bilder über die Arbeit des Autors befinden sich unter http://zebu.uoregon.edu im World Wide Web.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1997, Seite 62
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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