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Die Revolution in der Gehirnforschung

Die Gehirnforschung erschließt den Kosmos in uns, vom Innenleben einzelner Nervenzellen bis zu ihrem Zusammenspiel. Heute beobachten Experten das Denkorgan auch bei der Arbeit.


Kann das Gehirn sich selbst verstehen? Dieses Rätsel beschäftigt Philosophen seit jeher. Noch hat niemand, auch kein Neurowissenschaftler, enthüllt, wie Körper und Geist zusammenhängen – wie die anatomische Organisation des Gehirns und seine Aktivitätszustände mit seinen kognitiven Funktionen, kurz dem Denken, miteinander in Beziehung stehen.

Gleich den anderen Organen des Körpers besteht das Gehirn aus Zellen. Allerdings besitzen diese Zellen lange Ausläufer. Mit denen bilden sie untereinander ein unfasslich komplexes Netz. Wie die Nervenzellen, die Neuronen, miteinander Signale austauschen, haben Gehirnforscher in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer genauer und detaillierter erforscht. Vor 25 Jahren hätte niemand vorausgesagt, dass sich die Erkenntnisse derart mehren würden. Schon erstellen die Wissenschaftler Karten zu den Verflechtungen von Hirngebieten. Ohne solches Grundwissen werden wir das Denken und das Bewusstsein nie begreifen. Trotzdem ist das Ziel, das Denken zu verstehen, noch lange nicht in Sicht.

Unserem Erkenntnisorgan, dieser hochkomplexen chemischen Maschine, auf die Schliche zu kommen, darum bemühen sich Forscher seit Jahrhunderten. Dass sich im Nervensystem elektrische Signale bewegen, entdeckte der italie­nische Arzt Luigi Galvani (1737-1798) Ende des 18. Jahrhunderts. Heute messen Neurobiologen mittels Elektroenzephalografie die elektrische Aktivität des Gesamtgehirns. Auf der anderen Seite vermögen sie im Gehirn das Verhalten von einzelnen Nervenzellen und sogar von einzelnen Molekülen zu registrieren. Ein anderer Meilenstein war die Entdeckung der Nervenzelle und ihrer Vielgestalt dank der Arbeiten des italienischen Histologen Camillo Golgi (1844-1926) und des spanischen Histologen Santiago Ramón y Cajal (1852-1934), die 1906 gemeinsam den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielten.

Ramón y Cajal verdanken wir die Einsicht, dass das Nervennetz unseres Gehirns und Nervensystems aus individuellen, getrennten Neuronen aufgebaut ist, die allein die elektrischen Erregungen hervorbringen und über unzählige Verbindungsstellen – die Synapsen – unterei­nander in Kontakt stehen. Tatsächlich besteht unser Gehirn aus hundert Milliarden Neuronen, die ungefähr eine Billiarde berührungslose Kontaktstellen ausbilden.

Ein Dogma stürzt

Die vergangenen 25 Jahre brachten in den einzelnen Zweigen der Gehirnforschung viele wichtige Entdeckungen. Neurochemiker fanden die Neurotransmitter, die Botenstoffe der Nervenzellen, und deren Rezeptoren für den Signalempfang. Neurogenetiker spürten Gene für die Gehirnentwicklung auf. Kognitionsforscher beobachteten erstmals das Gehirn beim Denken und drangen somit auf das Feld der Psychologie vor. Aber Genetiker erkannten auch Gene, die für bestimmte neurodegenera­tive Krankheiten prädisponieren.

Jüngst erregte die Entdeckung von undif­ferenzierten, embryonalen Stammzellen im ­Gehirn Aufsehen. Vor 25 Jahren herrschte noch das Dogma, dass unsere Neu­ronen-Ausstattung vor der Geburt festgelegt würde und von da an unvermeidbar schwinde. Unausgereifte Zellen, die sich erst später im Leben in Nervenzellen umwandeln können, galten bis vor kurzem als undenkbar.

Zuerst möchte ich auf die biochemischen Forschungen näher eingehen, an denen ich selbst beteiligt war. Dass Moleküle, so genannte Neurotransmitter, als Überträger von Signalen zwischen Nervenzellen dienen, erkannten Wissenschaftler Anfang des 20. Jahrhunderts. Während der 1970er Jahre explodierte das Wissen über diese Botenstoffe förmlich. Zu den schon bekannten Überträgermolekülen Acetylcholin und Noradrenalin gesellten sich mehr als ein Dutzend weitere: darunter Dopamin, Serotonin, Glutamat, GABA, Adenosin und Histamin. Über die hier aufgezählten Stoffe fanden Forscher damals heraus, auf welche Weise sie hergestellt und von den Zellen freigesetzt werden. Sie erkannten, wo im Gehirn jeweils die Neuronen liegen, die diese Stoffe produzieren. Auch die unterschiedliche Bedeutung der Transmitter in der neuronalen Kommunikation stellten sie fest.

Neurotransmitter wirken an den Synapsen, den Kontaktstellen der Nervenzellen. Dort kommen elektrische Signale an, die die Nervenzellen erzeugen und über ihre Fortsätze schicken. Solche Impulse entstehen, indem Natrium-, Kalium- und Chlorid-Ionen selektiv durch die Zellmembran treten. An der Synapse angekommen, bewirken diese Impulse über Calcium-Ionen, dass die Nervenzelle einen Neurotransmitter freisetzt. Der Botenstoff diffundiert nun durch den synaptischen Spalt zur Membran der anderen Zelle. Dort heftet er sich an ein Erkennungsmolekül, einen Rezeptor.

Derartige Empfänger-Moleküle hatte der britische Physiologe John Newport Langley (1852-1925) schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts postuliert. Zwischen 1970 und 1980 entdeckten Wissenschaftler schließlich verschie­dene Rezeptoren. Im Jahr 1970 identifizierte unser Team den Rezeptor für Acetylcholin. 1974 gelang es uns, ihn auch zu isolieren. Wir führten diese Studien am elektrischen Organ des Zitterrochens durch und verwendeten Schlangengift. 1979 konnten wir eine Teilsequenz der Aminosäuren in dem Molekül bestimmen. Unabhängig von uns etablierte dann die Gruppe um Shosaku Numa von der Universität Tokio zwischen 1982 und 1983 die vollständige Sequenz des Acetylcholin-Rezeptors.

Nun gelang es, die Bindestelle am Rezeptor für Acetylcholin zu erkennen. Das ist dieselbe Stelle, an der sich auch Nikotin anlagert. Es stellte sich heraus, dass der Rezeptor in einem anderen Bereich einen Kanal bildet, durch den Ionen die Membran passieren können. Dieser Ionenkanal öffnet sich erst, wenn sich Trans­mitter­moleküle an den Rezeptor anlagern: So wird das chemische Signal wiederum in ein elektrisches umgewandelt.

Es gibt auch Ionenkanäle, die nicht durch einen Transmitter angesteuert werden, sondern auf ein elektrisches Signal reagieren. Die erste solche Struktur klärte die Gruppe von Numa 1984 auf. Es handelte sich um den Natrium-Kanal, der für die Weiterleitung des elektrischen Nervenimpulses verantwortlich ist. In der Folge regten diese Erkenntnisse eine Vielzahl physiologischer Studien über Ionenkanäle an.

Hunger, Gedächtnis und Angst

Neben Rezeptoren mit Ionenkanal – wie die für Acetylcholin oder Glutamat – existiert an Zellmembranen eine weitere Kategorie. Diese entdeckte Robert Lefkowitz von der Duke University in Durham (North Carolina) Ende der 1970er Jahre. Solche Rezeptoren sind an chemische Umsetzungen im Zellinneren gekoppelt. Davon existieren in den gesamten Körperzellen über tausend verschiedene, die alle im Prinzip ähnlich aufgebaut sind. Diese Rezeptoren steuern die so genannten G-Proteine, wichtige Moleküle in den Zellen. Sie beeinflussen vielerlei physiologische Prozesse wie Atmung, Herzschlag oder Blutdruck und wirken auch beim Riechen und Schmecken mit. Im Gehirn helfen sie unter anderem psychomotorische, emotionale oder kognitive Ereignisse zu regulieren. Auf diese Art von Rezeptoren zielen viele starke pharmakologische Wirkstoffe, zum Beispiel die Neuroleptika.

Auch damit war das Arsenal an Rezeptoren noch nicht erschöpft. Schon lange rätselten Mediziner, warum der Mensch auf Morphium dermaßen stark anspricht. Physiologen sahen nur eine Erklärung: Im Zentralnervensystem musste es geeignete Erkennungsmoleküle geben, welche normalerweise mit körpereigenen Stoffen reagieren, deren Eigenschaften Morphium und anderen Opiaten ähneln. Die ersten so genannten endogenen Morphine, die Enzephaline, wurden 1975 isoliert. Bald folgten die eigentlichen Endorphine. Solche Neuropeptide blockieren die Schmerzübertragung und beeinflussen das Gefühlsleben. Eigentlich hatte Ulf von Euler die Neuropeptide schon 1931 entdeckt. Mit mehr als vierzig Vertretern bildet diese Molekülklasse eine sehr umfangreiche Gruppe von Neurotransmittern, die zum Beispiel Hunger, Gedächtnisbildung und Angst steuern. Neuropeptide können auch zusammen mit den klassischen Transmittern in ein und derselben Nervenzelle vorkommen. Sie halfen, neue Medikamente gegen Angstzustände, Schizophrenie oder Depression zu finden. Sie ermöglichten auch, die Wirkungsweise von Drogen und Suchtmechanismen zu erforschen.

Die Genetik trug ebenfalls maßgeblich zum heutigen Verständnis des Gehirns bei. Bis die Rohdaten von der Entzifferung des mensch­lichen Genoms analysiert sind, wird es noch Jahre dauern. Die Funktion der zigtausend entdeckten Gene aufzuklären und ihre Regulation zu entschlüsseln, dürfte noch einmal ein Mehrfaches an Aufwand erfordern. Können wir da­rauf hoffen, dass Genetiker eines Tages erklären, wieso sich unser Gehirn vor allen anderen auszeichnet? Werden sie herausfinden, wie ein Gehirn mit seinen diversen Aufgaben entstand und warum das menschliche so viel mehr kann als das von Schimpansen, obwohl der genetische Unterschied zwischen ihnen und uns geradezu winzig ist?

Die Aussicht besteht durchaus, dass genetische Vergleiche mit anderen Organismen viele dieser Fragen erhellen, darunter auch die, welche Erbsequenzen die Ausdifferenzierung von Nervenzellen bestimmen und wie sie vorgeben, dass und wie solche Zellen zusammen ein Zentralnervensystem organisieren. Solche Erkenntnisse sind nicht nur vom Vergleich mit anderen Primaten oder uns näher verwandten anderen Tieren zu erwarten. Auch die vielen Studien an Taufliegen, Fadenwürmern, Hefe und selbst an Pflanzen werden viele Einsichten darüber bringen, was den Menschen ausmacht.

Besonders interessieren in dem Zusammenhang die Entwicklungsgene – und hier insbesondere die homöotischen Gene mit ihren charakteristischen Sequenzen –, die den Bauplan des Körpers und des Zentralnervensystems kontrollieren. Die meisten dieser Gene haben einen sehr alten Ursprung: Sie unterscheiden sich bei Insekten und Wirbeltieren nicht sehr. Der Vergleich des menschlichen Genoms mit dem der Insekten deutet an, dass nur sieben Prozent der Genfamilien von Wirbeltieren allein bei dieser Tiergruppe vorkommen. Davon wirken wahrscheinlich nur zwölf Prozent an der Entstehung des Gehirns mit.

Millionen Synapsen pro Minute

Sogar von den Genen, die in mutierter Form beim Menschen neurologische Störungen hervorrufen, besitzen viele eine Entsprechung bei Fliegen. Zu nennen wären etwa das Tay-Sachs-Syndrom (ein Enzymdefekt, an dem Kinder mit wenigen Jahren sterben), die Duchenne-Muskeldystrophie, und auch Formen geistiger Behinderung, die mit Fehlern auf dem X-Chromosom zusammenhängen. Manche solcher Risiko-Gene haben sogar nahe Verwandte bei der Hefe. Das betrifft etwa das Gen, welches die amyotrophe Lateralsklerose verursacht, eine Erkrankung, bei der motorische Gehirnkerne degenerieren.

So viel Einfluss die 40000 Gene des Menschen haben – sie bestimmen uns längst nicht allein. Auch Gedächtnisspuren prägen das Gehirn dauerhaft. Der Mensch hebt sich durch seine Lernbegabung ganz besonders hervor. Schon darum variiert das Gehirn im Detail von Mensch zu Mensch erheblich, ohne dass dies genetische Ursachen hätte. Das betrifft die Größe der einzelnen Regionen der Hirnrinde genauso wie die neuronalen Verknüpfungen. Zu den Hauptforschungsgebieten der Neurowissenschaften gehören Studien über den Zusammenhang von Genen, Lernen und dieser Variabilität.

Im Großen und Ganzen entstehen der Aufbau und die neuronalen Bahnen des Gehirns bereits im Mutterleib. Doch neue Nervenzellkontakte bilden sich zeitlebens in großer Zahl, und die Ausstattung verändert sich während des ganzen Lebens fortwährend. Bei der Geburt, die mitten in der Phase intensivsten Wachstums liegt, ist erst gut die Hälfte der Abermilliarden Kontakte des Erwachsenen vorhanden. Beim Ungeborenen und beim Säugling entstehen jede Minute an die zwei Millionen neue Synapsen. Später folgt eine Phase etwas langsamerer gleichmäßiger Entwicklung, die bis zur Pubertät anhält. Danach verringert sich das Tempo auf einen Wert, der während des Erwachsenenalters gleich bleibt. Erst im hohen Alter nimmt die Synapsenbildung plötzlich deutlich ab.

Wachstum und Rückbildung der neuro­nalen Kontakte scheinen sich während des gesamten Lebens in einem Gleichgewicht zu befinden. Dass für Wachstum und Stabilisierung der Neuronenfortsätze bestimmte chemische Faktoren nötig sind, erkannte die italienische Entwicklungsbiologin Rita Levi-Montalcini in den 1960er Jahren. Zusammen mit dem amerikanischen Biochemiker Stanley Cohen erhielt sie dafür 1986 den Nobelpreis für Physiologie und Medizin. In jener Phase wiesen David Hubel und Torsten Wiesel – Nobelpreisträger für Physiologie oder Medizin von 1981 – nach, wie sehr Erfahrung die Neuronennetze des visuellen Systems formt: Störungen der Sehfunktionen in der Kindheit hinterlassen oft irreversible Spuren.

Folglich geben bei der Gehirnausbildung die genetischen Mechanismen eher den Rahmen vor, in dem die Entwicklung abläuft. Wie sich das Gehirn im Einzelnen ausdifferenziert, geschieht weitgehend nach epigenetischen Regeln, also durch Wechselwirkungen, Vorgaben, Anstöße, Zwänge von innen wie außen. Die Synapsenmuster während der Embryonalentwicklung und auch nach der Geburt dürften nach dem Prinzip "zufällige Variation und selektive Stabilisierung" entstehen. Lernen und Erfahrung überlagern somit die Wirkung der Gene. Die Bedeutung einer Epigenese für die Gehirnentwicklung haben Philippe Courège, Antoine Danchin und ich schon 1973 postuliert. Nimmt man Prozesse dieser Art an, lassen sich die Unterschiede zwischen Individuen, die Mechanismen der Gedächtnisbildung und der Umgang mit Wissen besser verstehen. Auch vermag man hiermit eher zu erklären, wie wir Kenntnisse erwerben, prüfen und weitergeben, kurz: wie wir Kultur schaffen.

Auf einem anderen Gebiet haben in den letzten Jahren zwei völlig unterschiedlich orientierte Forschungsrichtungen zusammengefunden, die einander früher meist geflissentlich ignorierten: auf der einen Seite die neurowissenschaftliche Gehirnforschung, auf der anderen Verhaltenswissenschaften wie insbesondere die Psychologie. Zwar untersuchen beide letztlich Gehirnleistungen, jedoch bisher mit ganz unterschiedlichen Herangehensweisen.

Neue Ansätze könnten die Kluft überbrücken. Erste Bemühungen, komplexes Verhalten auf die Aktivität einzelner Gehirngebiete zu beziehen, liegen lange zurück. Der französische Chirurg Paul Broca (1824-1880) lokalisierte bereits in den 1860er Jahren am Gehirn eines Verstorbenen das motorische Sprachzentrum, das bei diesem Patienten ausgefallen war. Solche Studien beschränkten sich jedoch lange auf Defekte, die auf eine Hirnverletzung oder Krankheit zurückgingen.

Das Denken von Schnecken und Fliegen

Dies änderte sich, als Neurochirurgen in den 1940er und 1950er Jahren während Gehirnoperationen einzelne Stellen der Hirnrinde elektrisch reizten. Sie prüften die Reaktionen und Gefühlserlebnisse der wachen Patienten (das Gehirn ist schmerzunempfindlich), damit sie bei dem medizinisch notwendigen Eingriff wichtige Gebiete verschonten. Daraus entstand eine immer genauere Gehirnkarte der verschiedenen Hirnfunktionen.

Aber auch dieser Ansatz brachte nur eingeschränkte Erkenntnisse. Erst die modernen bildgebenden Verfahren, die aktive Gebiete direkt aufzeigen, bedeuteten einen großen Schritt vo­ran. Sie liefern wirklich einen Blick auf aktuelle Funktionszustände des Hirns. Mehrere Methoden mit jeweils anderen Vorteilen stehen zur Verfügung. Die Positronen-Emissionstomografie etwa zeichnet den Grad der Durchblutung auf, der mit der Hirnaktivität korreliert. Da diese Technik eine hohe zeitliche Auflösung ermöglicht, kann man dem Gehirn praktisch bei der Arbeit zusehen. Die Magnetresonanztomografie wiederum ermöglicht eine bessere räumliche Auflösung. Solche Bildgebungsverfahren, ergänzt um Methoden der Elektrophysiologie – also die direkte Messung der elektrischen Aktivität – werden es künftig erlauben, die Tätigkeit des gesamten Gehirns in Echtzeit zu verfolgen.

Kognitionsforscher können sich nun damit befassen, die Aktivität von genau umgrenzten Hirnregionen auf Verhaltensleistungen und sogar auf mentale Zustände zu beziehen. Sie bemühen sich recht erfolgreich, neuronale Grundlagen von Emotionen, vom Wach- und Schlafzustand, von Lernen und Rechnen aufzudecken. Neuerdings gibt es auch Studien zur bewussten und unbewussten Verarbeitung von unterschwelligen Bildern.

Ebenso sensationell sind die Fortschritte der Elektrophysiologie. Bahnbrechend war schon, dass es gelang, am wachen Tier die Aktivität einzelner Neuronen zu verfolgen. Inzwischen kann man sogar das Verhalten ganzer Zellpopulationen gleichzeitig messen, Veränderungen über die Zeit verfolgen und Wechselbeziehungen zwischen den Zellen erfassen. Neurophysiologen und Molekularbiologen arbeiten intensiv an den Spuren von Verhalten und Gedächtnis auf Zell- und Molekülebene. An niederen Tieren, etwa Meeresschnecken und Fliegen, haben sie bereits grundlegende molekulare Mechanismen des Gedächtnisses aufgeklärt. Genetisch veränderte Tiere – meist Mäuse – ermöglichen herauszufinden, wie Moleküle, das Zellgeschehen und das Verhalten des Tiers, zum Beispiel sein Lernverhalten, zusammenhängen.

Eine Gehirnforschung, die dermaßen viele Disziplinen einschließt, erfordert ein solides Theoriewerk. Auch dort sind die Fortschritte beachtlich: Die Theorien über die neuronalen Korrelate des Bewusstseins diskutiert die Wissenschaftlergemeinschaft bereits eingehend. Das heißt jedoch keineswegs, dass wir die Komplexität des Gehirns bald verstehen werden. Wir sind immer noch weit davon entfernt, seine Fähigkeit zur Selbstorganisation und zur Erinnerung zu begreifen.

Rätselhafte Hirnkrankheiten

Die vielen neuen Ansätze der Hirnforschung zahlen sich immer mehr auch bei der Enträt­selung und Bekämpfung der zahlreichen Krankheiten aus, die das Zentralnervensystem betreffen. Beispielsweise haben die bildgebenden ­Verfahren erhellt, wie manche Symptome bei Schizophrenie, Depressionen, der Alzheimer- oder der Parkinson-Krankheit zu Stande kommen. Ebenso wichtig sind für die Medizin die genetischen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte. Zunehmend spüren Forscher Veranlagungen auf, die für erbliche Krankheiten des Nervensystems prädisponieren.

Die Kenntnis der Hintergründe solcher Erkrankungen und Veranlagungen ermöglicht zugleich, auch molekulare Ziele zu bestimmen, an denen therapeutische Substanzen angreifen könnten. Solche Studien vereinen oft verschiedenste Methoden. Dabei können die bildgebenden Verfahren aufzeigen, welche Neuronengruppen oder Hirnstrukturen nicht ordnungsgemäß arbeiten. An genetischer Front suchen Forscher nach Gendefekten, die zu Krankheiten des Gehirns führen können. Sie haben etwa das Gen charakterisiert, das bei Chorea Huntington, dem Veitstanz, mutiert ist. Und sie konnten vier Gene identifizieren, die ein Alzheimer-Risiko bedeuten. Auch bei Autismus, Schizophrenie oder Depression muss es Veranlagungen geben, und dazu existiert bereits mancher konkrete Verdacht, aber noch sind die Ergebnisse nicht sicher. So bemerkenswert diese Befunde erscheinen, muss man doch auch betonen, dass die Ursachen einer Reihe von Gehirnerkrankungen noch nicht fassbar sind. Leider stehen auch für manche besser verstandenen Krankheiten nicht immer Gegenmittel zur Verfügung. Dies betrifft vor allem auch die ­neurodegenerativen Defekte, die immer mehr Menschen heimsuchen.

In den letzten Jahrzehnten hat die Hirnforschung auf molekularer und auf Zellebene enorme Fortschritte erzielt. Neurowissenschaftler beginnen nun das Verhalten von Nervenzellen, Synapsen und sogar Zellverbänden zu begreifen. Auf der anderen Seite wird es nun möglich, die Funktionsweise des gesamten Gehirns zu untersuchen. Die beiden Bereiche trennt jedoch ein weites unbekanntes Feld. Die Brücke hinüber zum Denken und Bewusstsein zu schlagen wird sehr schwierig sein. Manche werden es dennoch bald wagen.

Sollte ich zwei Gebiete angeben, welche die Neurowissenschaften in den kommenden 25 Jahren besonders herausfordern werden, fallen mir als Erstes Sprache und bewusstes Denken ein. Als Zweites kommt mir aber sogleich eine Forschungsrichtung in den Sinn, die ich "Neurosoziologie" nennen möchte. Damit meine ich die neuronalen Grundlagen von zwischenmenschlichen Beziehungen und Bindungen, aber auch den Zusammenhalt von sozialen ­Gemeinschaften und größeren Gruppierungen. Stellt das Zentralnervensystem ein Netz aus ­unzähligen verkoppelten Neuronen dar, so ist die Gesellschaft ein Netz aus unzähligen eng aufei­nander bezogenen Gehirnen. Die Forschung darf nicht beim Gehirn stehen bleiben. Sie muss überleiten zur Funktionsweise der Gesellschaft.

Literaturhinweise


Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Von Manfred Spitzer. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2002.

Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. Von Antonio R. Damasio. List, München 2001.

Rätsel Gehirn. Spektrum der Wissenschaft, Digest 2/2001.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 2003, Seite 23
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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