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Medizin: Die siegreiche Strategie des Grippevirus

Epidemiologen warnen vor der nächsten Pandemie durch ein besonders bösartiges Influenzavirus. Wie nah die Gefahr ist, zeigte jüngst die Geflügelpest: Nur zu leicht hätte sich jener Erreger in ein verheerendes menschliches Grippevirus verwandeln können.


Gewöhnlich bedrohen Grippeepidemien vor allem schwache, ältere und kränkliche Menschen. Doch an der "Spanischen Grippe" starben 1918 und 1919 zur Hälfte zuvor kerngesunde Leute im Alter zwischen zwanzig und vierzig Jahren. Diese schwerste Influenza-Pandemie des 20. Jahrhunderts forderte weit über 20 Millionen Tote, mehr als die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs. Weltweit erkrankten damals schätzungsweise 500 Millionen Menschen.

Nach Ansicht vieler Epidemiologen kann sich Ähnliches jederzeit wieder ereignen. Erst 1997 rechneten sie mit dem Schlimmsten, als in Hongkong sechs Menschen an einem Vogelgrippe-Virus starben. Doch noch hatte sich das Virus glücklicherweise nicht so weit verändert, dass es auch von Mensch zu Mensch übertragbar war: Die insgesamt 18 infizierten Personen hatten sich auf den dort üblichen Geflügelmärkten direkt an Hühnern angesteckt. Influenzaviren entwickeln oft sehr schnell neue Eigenschaften. Um dem vorzubeugen, musste unverzüglich sämtliches in Hongkong zum Verkauf angebotene Federvieh – über eine Million Vögel – getötet werden. Einer neuen Grippe-Pandemie hätte, so berechneten damals Experten, weltweit ein Drittel der menschlichen Bevölkerung zum Opfer fallen können.

Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Hongkonger Influenzavirus tatsächlich um einen neuen Stamm. Solche verheerenden Grippe-Erreger, gegen die Menschen bisher keine Immunität besitzen, treten in unregelmäßigen Abständen immer wieder auf. Meist geschah dies alle paar Jahrzehnte, manchmal aber auch in kürzeren Intervallen. Pandemien – seuchenartig auftretende, weltweite Epidemien – verzeichneten Epidemiologen vor dem Ersten Weltkrieg zuletzt in den Jahren 1890 und 1900. Die schwere Grippewelle von 1957/58, die eine Million Tote forderte, wurde als "Asiatische Grippe" bezeichnet. Bei der "Hongkong-Grippe", der Pandemie von 1968/69, starben in Deutschland zwischen 20000 und 30000, weltweit über 800000 Menschen. Viele Opfer forderten auch die Influenza-Epidemie von 1976, als "Schweine-Grippe" bezeichnet, und die "Russische Grippe" von 1977.

Alarmfall Geflügelpest

Zwar gingen bisher die besonders katastrophalen Epidemien wahrscheinlich meist von Ostasien aus, doch auch in anderen Gegenden der Welt könnte praktisch jederzeit plötzlich ein neuer dem Menschen gefährlicher Influenza-Stamm auftauchen. Als in diesem Jahr in Belgien, Holland und auch Deutschland die Geflügelpest auftrat, hätte dies unter anderen Umständen schnell zu einer schweren menschlichen Grippe ausarten können. Die Bezeichnung "Geflügelpest" ist irreführend: Denn die Krankheit wird von Influenzaviren erzeugt, und zwar von demselben Virus-Typ, der die menschlichen Grippe-Pandemien verursacht.

In der Regel ist der Erreger der Geflügelpest für den Menschen wenig gefährlich, und eine Infektion erzeugt bei ihm nur sehr geringe Symptome. Doch haben die großen Grippewellen der Vergangenheit erwiesen, dass sich das Vogelvirus unter bestimmten Voraussetzungen immer wieder so verwandelt, dass es die menschliche Bevölkerung heimsucht.

Wann und auf welche Weise der nächste hochgefährliche Influenza-Stamm mit dem Potenzial für eine Grippe-Pandemie auftauchen wird, können Wissenschaftler bisher nicht vorhersagen. Doch wie dies im Prinzip geschieht, verstehen sie schon recht genau. Sie wissen, wie der Erreger aufgebaut ist, aus welchen Molekülen er besteht, wie er die menschlichen Zellen infiziert und wie er sich darin vermehrt. Forscher haben sogar bereits viel darüber herausgefunden, wie das Virus sein Gesicht und seine Eigenschaften wandelt und so plötzlich immer wieder höchst gefährliche neue Stämme erzeugt. Einen solchen neuen Stamm erkennt dann nicht einmal das Immunsystem eines Menschen, der bereits eine Virusgrippe durchgemacht hat.

Um die ständige akute Gefahr einer Influenza-Pandemie zu bannen, sind Anstrengungen auf allen Ebenen vonnöten. Die Mediziner, Gesundheitsbehörden und anderen Entscheidungsträger brauchen dazu auf nationaler wie internationaler Ebene die massive Unterstützung der Politik. Vertrackterweise stehen manchen wirksamen Maßnahmen altüberkommene Verhaltensmuster der Bevölkerungen gegenüber. Dazu gehören nicht zuletzt die in Asien – aber auch im Westen, etwa in New York – beliebten Märkte für lebendes Geflügel sowie die Haltung von Schweinen in engem Kontakt mit Menschen. Wir möchten mit diesem Artikel jedoch nicht Ängste schüren, sondern aufklären. Möglichst viele Menschen sollten die Sachlage kennen und die Hintergründe verstehen. Das würde unser aller Chance erhöhen, die nächste Pandemie abzuwehren.

Schon 1972 erkannten Wissenschaftler, dass die großen Influenza-Epidemien von offenbar gesunden Wasservögeln ausgehen. Wildenten, Möwen und andere Küstenvögel beherbergen die Erreger in ihrem Darm und scheiden die Viren mit dem Kot aus. Da diese Vogelarten oft weite Strecken ziehen, verbreiten sie den Erreger über große Distanzen.

Zwischenwirte als Brutstätte für gefährliche Virusstämme

Diese Vogelviren vermehren sich im Menschen schlecht. Das kann sich allerdings leicht ändern, wenn sie vorher einen Zwischenwirt befallen haben, der auch mit menschlichen Influenza-Stämmen infizierbar ist. Denn die unterschiedlichen Virusformen können dann Komponenten voneinander übernehmen – und erscheinen plötzlich mit neuen, dem Menschen gefährlichen Eigenschaften. Ein bisher harmloses Vogelvirus wird auf diese Weise manchmal für den Menschen hochinfektiös, falls es die Fähigkeit gewinnt, sich in dessen Atemwegen einzunisten und zu vermehren.

Bei den Zwischenwirten handelt es sich meist um Haustiere des Menschen. Wale und Robben können ebenfalls Brutstätten darstellen. Auch Pferde und Farmnerze infizieren sich gelegentlich mit Vogelvirus-Stämmen. Eine besondere Gefahr bedeuten aber Hausgeflügel und Hausschweine, die mit Vogelkot verunreinigtes Wasser trinken. Die Zwischenwirte können der Infektion durchaus erliegen – vorher jedoch den Menschen mit dem neuen Erreger anstecken.

Wahrscheinlich dienten in der Vergangenheit besonders oft Schweine als lebende Laboratorien für gefährliche neue Influenza-Stämme des Menschen. Ihre Zellen bieten sowohl dem Humanvirus als auch dem Virus der Wildvögel günstige Bedingungen. Tragen die Schweine gleichzeitig ein menschliches und ein Vogel-Influenzavirus, besteht die Gefahr, dass ein neuer hochgefährlicher Stamm entsteht.

Es verwundert nicht, dass bisher die meisten der von Epidemiologen rekonstruierten Influenza-Pandemien ihren Ursprung in China hatten. In Ostasien leben die Menschen oft mit ihren Haustieren, auch mit Geflügel und Schweinen, auf engstem Raum zusammen, und auf den Geflügelmärkten werden die Vögel in drangvoller Enge gehalten. Solche Bedingungen sind geradezu ein Nährboden für neue Influenzaviren. Beispielsweise stammte der Erreger, der in Hongkong 1997 sechs Menschen tötete, von Wildvögeln. Er hatte über Gänse, Wachteln und Krickenten Gene anderer Virus-Stämme aufgenommen. Bevor das Virus auf Menschen übersprang, waren Tausende von Hühnern verendet. Dies ist der erste dokumentierte Fall, dass ein Influenzavirus direkt von Geflügel auf den Menschen übergegangen war.

Was macht die Influenzaviren so besonders bedrohlich? Warum sind sie dermaßen wandlungsfähig? Grippeviren treten in drei Gattungen auf, Typ A, B und C genannt. Alle drei können den Menschen infizieren, doch wohl nur die Typen A und B verursachen bei ihm eine schwere Grippe. Typ B ruft in der menschlichen Bevölkerung zwar auch häufig Epidemien hervor, doch diese verbreiteten sich bisher nicht sehr weit. Erst kürzlich wurde jedoch auch dieser Typ in Tieren – bei Seehunden in den Niederlanden – nachgewiesen.

Die bisher erforschten Grippe-Pandemien gingen alle auf den Typ A zurück, der in einer Anzahl Untertypen (Subtypen) auftritt und von Vögeln abstammt. Der Typ A befällt eine Reihe von Vogel- und Säugerarten, wobei er sich jeweils an die Wirtsart anpasst. Falls zwei Untertypen in einem Wirt zusammentreffen, können sie anhand der genetischen Ausstattung des jeweils anderen ihre Eigenschaften neu zusammenstellen. Genetiker sprechen dann von einem Antigensprung (deutsch-englisch Antigen-Shift). Das Virus trägt nun völlig neue "Antigene", Erkennungsmoleküle für das Immunsystem. Genauso können verschiedene Varianten (Stämme) desselben Untertyps Gene voneinander übernehmen und sich so immerfort an neue Verhältnisse anpassen. Einen Antigensprung fürchten Epidemiologen beim Grippevirus besonders deswegen, weil so plötzlich Erreger mit neuen Eigenschaften auftreten können, gegen die menschliche Populationen noch keine Immunität besitzen. Dergleichen ereignet sich nach den bisherigen Beobachtungen mehrmals pro Jahrhundert.

Wie die Influenza-Antigene ihr Gesicht verändern

Der Tauschmechanismus bei einem Antigensprung erklärt sich aus der Art des Genmaterials der Influenzaviren. Die Influenza-Erreger gehören zur Familie der Orthomyxoviridae. Ihr Erbmaterial besteht aus RNA (Ribonucleinsäure), das in mehreren kurzen Einzelstücken, so genannten Segmenten, vorliegt. Der Typ A beispielsweise enthält als Erbmaterial acht RNA-Stücke. Darin liegen die Gene für insgesamt mindestens zehn Proteine (pro Segment eines oder zwei). Von diesen Proteinen sind besonders zwei für die Immunerkennung wichtig, weil sie in der Außenhülle des Virus eingebaut werden, aus der sie nach außen ragen. Wenn sich die Erreger mithilfe ihrer Wirtszellen vermehren, sammeln sie quasi für jedes neue Virus die acht RNA-Segmente zusammen. Befindet sich in der Zelle gleichzeitig ein anderer Stamm oder Subtyp eines Typ-A-Virus, kann auch dessen Erbmaterial in Partikel der neuen Virusgeneration verpackt werden.

So können praktisch jederzeit neue, hochgefährliche Erreger mit neu sortierten Genen entstehen, die einzelne Eigenschaften beider Virus-Stämme kombinieren. Theoretisch sind dabei 256 (28) unterschiedliche Nachkommen möglich. Allerdings unterscheiden Epidemiologen die Untertypen von Typ A nur anhand der beiden Proteine in der Außenhülle.

Auch durch einen weiteren, weniger ungewöhnlichen Mechanismus verändern Influenzaviren ihr Aussehen immerzu: durch punktuelle Mutationen der Gene, wodurch auch die Proteine einzelne neue Bausteine erhalten. Denn wenn beim Vervielfältigen der Erbmoleküle falsche Bausteine in die Erbstränge geraten, wird dies bei so genannten RNA-Viren nicht ausgebessert – anders als in unserem aus doppelsträngiger DNA bestehenden Erbgut. Genetiker sprechen von Antigen-Drift: Das Virus schleicht sich vor dem Immunsystem gewissermaßen davon.

Schon durch diese punktuellen Mutationen erscheinen die Viren immerfort in verändertem Gewand. Hat jemand eine Grippe-Infektion überstanden, erkennt sein Immunsystem den betreffenden Virusstamm: Die Person verfügt dann über spezifische Antikörper vor allem gegen die beiden Proteine auf der Virusaußenhülle. Da gerade die Gene dieser Proteine aber sehr oft zu mutieren pflegen, besitzt der Betreffende unter Umständen schon für die nächste Grippewelle keine Immunität. Manchmal genügt schon ein einziger ausgetauschter Baustein im Molekül, damit das Virus dem Immunsystem des Wirts entkommt.

Eines der beiden viralen Oberflächenmoleküle, Hämagglutinin (HA), ist dafür zuständig, dass sich das Virus an Zellen des Wirts anlagert und nun eindringen kann. Das zweite, eine Neuraminidase (NA), hilft den neu entstandenen Viren, sich aus der Wirtszelle zu befreien und somit weitere Zellen zu befallen.

Von HA fanden Molekularbiologen bisher bei Influenza-A-Viren 15 Untertypen, die sie als H1 bis H15 durchnummerieren. Erst einige wenige von ihnen sind bisher bei menschlichen Influenzaviren aufgetreten . Bei Vögeln jedoch kommen alle 15 Untertypen vor. Von NA sind beim Virustyp A neun Untertypen bekannt, N1 bis N9.

Wie Epidemiologen inzwischen wissen, verursachten die Pandemie von 1918/19 Viren der Subtypen-Zusammensetzung H1N1. Die gleiche Kombination trat 1976 bei der "Schweine-Grippe" auf. Die Todesfälle in Hongkong von 1997 gingen allerdings auf die neue Kombination H5N1 zurück.

Wahrscheinlich beschrieb schon der griechische Arzt Hippokrates im Jahr 412 vor unserer Zeitrechnung eine Influenza-Epidemie. Erstmals belegt ist eine Grippe-Pandemie im Jahr 1580. Seit Jahrtausenden scheint das Influenzavirus als Verwandlungskünstler immer wieder über die Menschheit herzufallen, bald nur leicht verändert, bald mit ganz neuem Gesicht. Diese Krankheit zu besiegen, die in fast jedem Winter ihre Todesopfer fordert und offenbar in jedem Jahrhundert mehrmals sehr schwer zuschlägt, darum bemühen sich die Menschen seit langem. Doch bis heute konnten Virusforscher trotz jahrzehntelanger Bemühungen nicht herausfinden, warum gerade das H1N1-Influenzavirus von 1918 so besonders bösartig war.

Das Rätsel der Pandemie von 1918/19 Sie exhumierten eigens damals Verstorbene aus den Permafrostböden Nordnorwegens und Alaskas, um Proben des Erregers von 1918 zu beschaffen. Die Forscher untersuchten auch Proben von Lungengewebe damals gestorbener Personen. Anhand dessen erkannten sie, dass der Erreger von Vögeln stammte und zugleich eng mit einem Influenza-Stamm verwandt war, der Schweine infiziert. Hatte ein Antigensprung das Virus so gefährlich gemacht? Oder hatte eine kleine Mutation diese fatale Wirkung? Von der Entzifferung des gesamten Genoms dieses vertrackten Erregers erhoffen sich die Wissenschaftler auch Aufschluss darüber, warum gerade die Spanische Grippe so viele Todesopfer forderte. Vielleicht werden Erkenntnisse über die Genome von Erregerstämmen und ihrer Wirte bald auch ermöglichen, endlich vorherzusagen, ob ein bestimmtes Tiervirus die Artgrenze zum Menschen zu überwinden droht.

Nach den Hongkonger Todesfällen von 1997 leitete die Weltgesundheitsorganisation WHO dazu sofort wissenschaftliche Untersuchungen ein. Molekulare Analysen bei zweien der Opfer ergaben bei ihnen ungewöhnlich große Mengen von Cytokinen. Solche Proteine – etwa Interferon oder der Tumornekrosefaktor Alpha – regulieren die Heftigkeit und Dauer der Immunabwehr. Sie wirken schon bei der so genannten angeborenen Immunantwort mit, die bei einer Infektion sofort einsetzt und sich unspezifisch gegen jegliche Krankheitserreger richtet (während Antikörper erst später aufkommen und spezifisch wirken). Cytokine bilden gewissermaßen die erste Abwehrlinie im Kampf gegen Viren.

Schon eine kleine Mutation täuscht die Immunabwehr

In der Zellkultur riefen H5N1-Viren – der Untertyp, der vor ein paar Jahren in Hongkong aufgetreten war – eine auffallend starke Cytokin-Reaktion hervor. Beim Menschen kann dies einen toxischen Schock mit Fieber, Schüttelfrost, Erbrechen und Kopfschmerzen auslösen und tödlich enden. Zwar verhindern Cytokine manchmal die Ausbreitung des Virus, doch offenbar fand das H5N1-Virus einen Weg, um die Wirkung der Cytokine zu unterlaufen. Anscheinend antwortete das Immunsystem der erwähnten Patienten darauf mit einer um so höheren Ausschüttung von Cytokinen.

Inzwischen wurde bei H5N1-Viren ein Gen identifiziert, dass dabei wohl mitwirkte. Als das verdächtige Virusgen in einen bislang gutartigen Influenza-Stamm gelangte, erkrankten damit infizierte Schweine erheblich stärker und länger und magerten mehr ab als durch den nicht veränderten Stamm. Auch enthielt ihr Blut eine besonders große Menge Viren. Anscheinend unterdrückte das neue Genprodukt die virustötende Wirkung der Cytokine. Wie sich andeutet, scheint es bestimmte Gene für einen molekularen Signalweg anzugreifen, an dessen Ende sonst Cytokine ausgeschüttet werden. So aber wird die Freigabe unterbunden.

Bei dem verdächtigen Gen des Hongkonger Virus hatte sich nur eine einzige Punktmutation ereignet. Dadurch war in dem zugehörigen Protein an der betreffenden Stelle eine Aminosäure ausgewechselt – mit der in dem Fall fatalen Folge, dass das Molekül nun an entscheidender Stelle anders aussah. Das genügte, damit ein wesentlich virulenterer Stamm entstand. Ob der Erreger von 1918/19 wegen ähnlicher winziger molekularer Umbauten besonders aggressiv war, muss sich erweisen. Zu hoffen ist, dass solche Befunde neue Angriffspunkte für Grippemedikamente liefern.

Vor zwei Jahren tauchte das H5N1-Virus wieder auf Hongkongs Geflügelmärkten auf, diesmal in einer neuen Variante. Es gelang, die Hühner rechtzeitig zu töten, bevor Menschen sich ansteckten. Auch im letzten Jahr trat ein wieder anderes H5N1-Virus auf. Offensichtlich kursieren im Südosten Chinas in wilden Vögeln immer noch Viren, die dem Stamm von 1997 ähneln.

Am Ende des Ersten Weltkriegs standen gegen die Influenza weder virushemmende Medikamente zur Verfügung noch Antibiotika oder Impfstoffe, um Bakterien zu bekämpfen oder fern zu halten, die in den geschädigten Schleimhäuten oder sonst im Körper oft schwerste Sekundärinfektionen erzeugen. Auch eine Grippe-Impfung gab es nicht. Heute ist zwar alles das vorhanden, doch bleibt die Bekämpfung schwierig.

Wegen der extremen Wandelbarkeit des Influenzavirus werden alljährlich neue Impfstoffe benötigt. Über hundert Labors der Weltgesundheitsorganisation untersuchen fortwährend die in der Bevölkerung kreisenden Virusvarianten. Davon wählen sie jedes Jahr zwei Stämme vom Virustyp A und einen vom Typ B, die in der kommenden Grippesaison am wahrscheinlichsten eine Epidemie auslösen könnten. Der Impfstoff ist aus Komponenten aller drei Stämme zusammengesetzt – was zugleich bedeutet, dass er gegen andere, vielleicht frisch auftretende Influenza-Stämme wahrscheinlich nicht schützt.

Früher enthielten Grippe-Impfstoffe komplette Viren und verursachten schwache Grippesymptome. Heute sind sie gewöhnlich nur aus einigen Bestandteilen der Erreger konstruiert, die in der Form nicht infektiös sind. Diese in größerer Menge zu gewinnen ist allerdings mühsam, denn in Zellkulturen lassen sich Influenzaviren schlecht züchten.

Darum werden die Viren in befruchteten Hühnereiern vermehrt und anschließend inaktiviert sowie gereinigt. Gegen die beim Impfen verabreichten Komponenten bildet das Immunsystem Antikörper, die unverzüglich jedes Virus erkennen würden, das die entsprechenden Proteine aufweist. Geimpfte Personen sind gewöhnlich gegen diese Virusstämme gefeit, oder zumindest verläuft die Infektion glimpflich.

In der Entwicklung befinden sich auch verschiedene neue Impfstoffe, von denen man hofft, dass sie noch besser wirken als die bisherigen. Dazu gehören Vakzine mit abgeschwächten lebenden Viren, die gewisse Vorteile bieten könnten, weil sie außer der Antikörperentwicklung auch andere Immunmechanismen anregen. Eine davon, die einfach als Nasenspray verabreicht wird, scheint bei Kindern wie Erwachsenen wirksam und ungefährlich zu sein. Vielleicht wäre sogar eine so genannte genetische Impfung möglich. Bei dieser Vorgehensweise erhält der Organismus im Prinzip DNA-Material mit Bauanweisungen für Proteine des Erregers.

Um im Falle einer Pandemie die passende Vakzine sehr schnell in den benötigten Mengen bereitstellen zu können, möchte man die Impfstoffproduktion gern erheblich beschleunigen. Herstellung, Prüfung und Verteilung dauern heute bei einem völlig neuen Stamm sieben bis acht Monate, also viel zu lange, um eine drohende Pandemie gleich im Keim zu ersticken. Bisher werden die Ausgangsviren für die Grippe-Impfstoffe gewöhnlich erst mühsam und langwierig neu konstruiert und dann vermehrt. Sechs der für die Viren gewählten Gene entstammen Virus-Untertypen wie H1N1, die bereits schwere Epidemien erzeugten.

Die HA- und NA-Gene werden von gerade kursierenden Erregern beigesteuert. So wird das Immunsystem mit den aktuellen Varianten dieser entscheidenden Erkennungsmerkmale konfrontiert. Neuerdings gelingt es, die acht benötigten genetischen Abschnitte schneller zu gewinnen, indem man sie in so genannten Plasmiden – künstlichen doppelsträngigen DNA-Molekülen – vermehrt. Daraus lässt sich dann in Zellen eine Vakzine produzieren.

Die Impfbereitschaft muss zunehmen

Der Nutzen der jährlichen Grippe-Impfung ist vielfach erwiesen. Je größer der Anteil Grippegeimpfter in der Bevölkerung ist, desto weniger leicht kann sich das Virus ausbreiten. Was viele nicht bedenken: Auch wer sich gesund fühlt, kann den Errreger in sich tragen und Mitmenschen anstecken. Die Gesundheitsbehörden propagieren, dass sich nicht nur ältere Personen und Risikopatienten mit chronischen Krankheiten regelmäßig gegen Influenza impfen lassen sollten, sondern auch Kinder, Lehrer sowie all jene, die sonst zu vielen Menschen Kontakt haben. Eine Studie erwies, wie dringlich dies gerade für Ärzte und Pflegepersonal in Heimen und Kliniken ist. Viele aus diesem Personenkreises überwinden eine Virusgrippe selbst oft leicht. Dennoch stecken besonders sie sehr häufig Patienten und Heimbewohner an. Von diesem Kreis lässt sich bisher aber meist nur ein Bruchteil impfen.

Die medikamentöse Behandlung Grippe-Infizierter ist nach wie vor schwierig. Schon länger vorhandene virushemmende Medikamente wie Amantadin und Rimantadin werden wegen ihrer Nebenwirkungen vor allem in Notfällen eingesetzt. Auch sind diese Mittel eigentlich nur dann wirklich effektiv, wenn sie vorbeugend möglichst gleich nach der Ansteckung oder spätestens beim Auftreten der ersten Symptome verabreicht werden. Beide Präparate stören einen Ionenkanal in der Außenhülle des Virus. Da diesen Ionenkanal nur Typ-A-Viren besitzen, wirken solche Medikamente nicht gegen den Typ B. Wichtiger noch: Die Erreger können gegen diese Wirkstoffe schon binnen weniger Tage resistent werden, also noch während der Kranke Viren in sich trägt. Bei Personen, die er dann ansteckt, hätte das Medikament keinen Nutzen mehr.

Warum die nächste Pandemie droht

Seit kurzem gibt es allerdings Grippemedikamente, die nicht so leicht eine Resistenz hervorrufen und auch weniger Nebenwirkungen haben. Zudem wenden sie sich gegen beide Virus-Typen. Aber auch diese Präparate – beispielsweise Zanamivir oder Oseltamivir – erzielen den besten Effekt nur, wenn sie kurz nach der Ansteckung verabreicht werden. Es handelt sich um so genannte Neuraminidase-Hemmer. Sie blockieren also NA, eines der erwähnten Oberflächenproteine des Influenzavirus. Dadurch kommen von einer Wirtszelle keine neuen Viren frei. Vielmehr bleiben sie in der Zelle ihrer Herkunft und können den Organismus nicht überschwemmen.

Würde heute eine Pandemie ausbrechen, wäre die Welt darauf keineswegs vorbereitet. Im Zeitalter der Globalisierung könnten Flugreisende ein neues verheerendes Virus binnen Stunden in andere Erdteile tragen. Dabei würde wenig zählen, ob dieser Virus-Stamm natürlicherweise auftrat oder für terroristische Zwecke eigens angefertigt wurde. Es würde viel zu lange dauern, einen passenden Impfstoff zu entwickeln und in den erforderlichen Mengen zu produzieren.

Schon bei leichteren Grippeepidemien können die Pharmaunternehmen heute den Bedarf kaum decken. Für einen Impfstoff gegen einen neuen Influenza-Untertyp benötigt man allein Monate, um ihn überhaupt zu entwickeln. Auch die Vorräte an antiviralen Medikamenten würden niemals ausreichen. Sie in größeren Mengen herzustellen würde über ein Jahr dauern.

Eine effektive Vorbeugung ist auch eine Frage des Geldes. Bisher sind Grippe-Impfungen erst in wenigen Ländern für die Patienten kostenlos. Verglichen mit den Rüstungsausgaben bringen die Regierungen nur verschwindend wenig Geld dafür auf, Impfstoffe oder vorbeugende Grippemedikamente vorsorglich bereitzuhalten. Hier steht die Wissenschaft steht in der Verantwortung, in der Politik eine bessere Planung und Vorsorge für den Ernstfall durchzusetzten. Sparen an der falschen Stelle ist nicht angesagt, bedenkt man die unermesslichen sozialen und ökonomischen Kosten, welche eine große Influenza-Pandemie verursachen würde.

Unter den gegebenen Umständen ist die nächste Grippe-Pandemie wohl unvermeidlich. Trotz der internationalen Überwachungsprogramme könnte jederzeit wieder eine neue Influenza-Variante aus der Tierwelt auf Menschen überspringen.

Bisher ereigneten sich übergreifende Epidemien mit vielen Toten in jedem Jahrhundert mehrfach. Heute versuchen Wissenschaftler im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation, die Erreger an der Schnittstelle zwischen Tier und Mensch akribisch zu überwachen und Ausbreitungswege frühzeitig zu erkennen. Schnelles Zugreifen verhinderte 1997 vermutlich eine weltweite Katastrophe. Doch eine Garantie können alle nationalen und internationalen Programme zusammen zurzeit nicht bieten.

Literaturhinweise


Entwaffnung von Grippeviren. Von W. G. Laver, N. Bischofberger und R. G. Webster in: Spektrum der Wissenschaft 3/1999, S. 70.

Dossier: Seuchen. Spektrum der Wissenschaft. 3/1997.


Fallbeispiel Hongkong 1977


Das Hongkonger Virus, das 1997 für Aufruhr sorgte, entstand vermutlich aus drei Influenza-Stämmen verschiedener Vogelarten, die sich vermischten. Die traditionellen Geflügelmärkte bieten den Viren dazu vorzügliche Bedingungen. Der neue Stamm könnte in Wachteln entstanden sein, denn für alle bisher daraufhin untersuchen Influenza-Stämme eignen diese sich als Wirte. Zudem können Wachteln Zwischenwirt zwischen Enten und Hühnern sein – an welchen sich dann Menschen ansteckten. Inzwischen ist der Verkauf von Wachteln auf diesen Märkten verboten. Auch 2001 trat derselbe alarmierende Subtyp H5N1 wieder in Hongkong auf.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2003, Seite 48
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