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Die Suche nach Resistenz-Genen gegen AIDS

Ein erstes genetisches Merkmal, das gegen das Human-Immunschwäche-Virus schützt oder den Ausbruch von AIDS verzögert, ist entdeckt, und weitere zeichnen sich bereits ab. Mit der Kenntnis der beteiligten Biomoleküle ergeben sich völlig neue Ansätze für Vorbeugung und Therapie.

Die verheerenden Wirkungen des Human-Immunschwäche-Virus (HIV) kennt inzwischen fast jeder – zumindest in Staaten, die auf intensive gesundheitliche Aufklärung setzen. Übertragen wird der Erreger von Blut zu Blut und insbesondere durch ungeschützten Sexualverkehr. Die Infektion kann unter Umständen sehr lange symptomlos bleiben; in der Regel aber hat sie binnen 10 bis 15 Jahren ihr Endstadium erreicht: AIDS, die erworbene Immunschwäche (englisch: acquired immunodeficiency syndrome).

Dann ist eine Schlüsselgruppe befallener Abwehrzellen so weit dezimiert, daß sich selbst harmlose Erreger, die der Organismus sonst in Schach halten würde, unkontrolliert vermehren können; auch gewisse Krebserkrankungen entwickeln sich eher. Allein in den USA hat das Leiden schon mehr als 350000 Opfer gefordert, und in der Altersgruppe zwischen 24 und 44 Jahren ist es sogar zur häufigsten Todesursache avanciert. Mittlerweile sind dort 750000 Menschen infiziert – in Europa schätzungsweise 530000 und weltweit etwa 30 Millionen.

Dank der jüngsten Fortschritte in der medikamentösen Therapie haben zahlreiche Betroffene in den Industriestaaten zumindest Aufschub des tödlichen Krankheitsgeschehens gewonnen. Ausgeklügelte Wirkstoffkombinationen vermindern drastisch den Gehalt an HIV im Organismus, und die Immunfunktionen erholen sich. Diese Erfolge wurden in der Öffentlichkeit weithin stark beachtet, mit Recht. Unter AIDS-Forschern haben vor kurzem allerdings noch andere Befunde Aufsehen erweckt; darüber ist in den Medien erst weit weniger berichtet worden.

Schon seit langem fragen sich die Fachleute, warum manche Menschen sich trotz hohen Risikos nicht mit HIV anstecken und warum die Krankheit bei einigen wenigen Virusträgern ungewöhnlich langsam zu AIDS fortschreitet. So haben zwischen 1978 und 1984, als man Spenderblut noch nicht entsprechend testete (das Krankheitsbild wurde erstmals im Jahre 1981 beschrieben), viele Bluter verunreinigte Blutprodukte erhalten. Aber etwa 10 bis 25 Prozent der Empfänger sind dennoch nicht zu Virusträgern geworden; und von den fast 12000 auf diesem Wege Infizierten ist etwa ein Prozent seit mindestens 15 Jahren relativ gesund geblieben – diese Bluter haben immer noch keine oder nur wenige Symptome und eine ausreichend starke Abwehr.

Wie sich vor kurzem herausgestellt hat, verdanken manche dieser mehr

oder minder HIV-resistenten Menschen ihr günstiges Schicksal ihren Genen.

Genauer gesagt, ihr Organismus ist mit einer bestimmten Variante eines Gens ausgestattet, das bei der Immunantwort mitwirkt. Nun bemüht man sich intensiv, diese Erkenntnis in neue Vorbeugungs- und Bekämpfungsstrategien umzusetzen.

Mit "HIV" ist im folgenden wohlgemerkt stets die Unterart HIV-1 gemeint, die weltweit die meisten Fälle von AIDS verursacht. HIV-2, weitgehend auf bestimmte Gebiete Afrikas beschränkt, läßt die Krankheit langsamer zum Endstadium fortschreiten; genetisch bedingte Resistenzen dagegen sind allerdings bisher nicht untersucht.


Präzedenzfälle bei Tieren

Quälend langsame Fortschritte, gefolgt indes von einer plötzlichen Welle von Entdeckungen, kennzeichnen den Weg zum ersten HIV-Resistenz-Gen. Mit der Suche nach solchen Faktoren begannen wir mit unseren Kollegen am Nationalen Krebsinstitut der USA in Bethesda (Maryland) schon 1984 – gerade ein Jahr nachdem man HIV als Erreger von AIDS entlarvt hatte.

Damals galt unser Projekt als ziemlich gewagt. Zu erklären, warum Menschen trotz gleicher Exposition unterschiedliche Schicksale erleiden, war zwar auch das Anliegen etlicher anderer Forscher. Doch in den achtziger Jahren konzentrierten sich die meisten dazu entweder auf genetische Eigenschaften des Virus (verantwortlich etwa für Unterschiede in der Virulenz, der Gefährlichkeit der einzelnen Stämme) oder auf nichtgenetische Begleitfaktoren, welche vielleicht sein krankheitserregendes Potential beeinflußten (wie etwa eine Infektion mit anderen Mikroorganismen). Handfeste Indizien dafür, daß Menschen aufgrund ihrer Erbanlagen vor AIDS geschützt sein könnten, gab es kaum. Manche unserer Fachkollegen bezweifelten, daß wir bei unseren genetischen Fischzügen jemals etwas finden würden; sie hielten das Unternehmen für eine erhebliche Verschwendung von Zeit und Geld.

Wir begannen freilich nicht aufs Geratewohl. In Tierversuchen hatte sich eindeutig gezeigt, daß sich oftmals die individuelle genetische Konstitution darauf auswirkt, ob gewisse Infektionen angehen und wie sie verlaufen. Insbesondere waren solche Effekte auch zu erkennen, wenn der Erreger aus der Familie der Retroviren stammte, der auch HIV angehört.

Die meisten Gene dienen als Baupläne für Proteine; und diese Molekülklasse ist entscheidend an fast allen zellulären Prozessen beteiligt. Wird ein solches Gen angeschaltet, knüpft die Zelle letztlich gemäß der Abfolge (Sequenz) seiner Nucleotidbausteine eine spezifische Aminosäurekette – eben das zugehörige Protein. Ist nun das Gen polymorph, kommt es also bei einer Population in mehr als einer Form vor, lassen seine Varianten (Allele) abweichende Proteine entstehen, die unter Umständen unterschiedlich gut funktionieren. Bei Mäusen konnte man für bestimmte Allele von mehr als 30 Genen nachweisen, daß sie Resistenz gegen Retroviren verleihen.

Die gesundheitliche Bedeutung genetischer Vielfalt für eine Population ging auch aus anderen Untersuchungen hervor. So sind Inzuchtlinien von Mäusen, Ratten und Nutztieren geradezu berüchtigt für ihre Infektanfälligkeit, vor allem weil ihr Repertoire an Resistenz-Allelen stark eingeengt ist. In einer natürlichen Population trägt mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ein gewisser Teil der Individuen ein Allel, das gegen einen gegebenen Erreger schützt, so daß seine Träger eine solche Epidemie eher überleben und zum Fortbestand der Gruppe beitragen.

Auch menschliche Populationen sind genetisch vielgestaltig. Sie sollten mithin über eine ganze Reihe wirksamer

Resistenz-Allele verfügen – und darunter, so erwarten wir, über solche, die gegen das Immunschwäche-Virus schützen. Sie galt es zu finden.

Zwar hatte man bei Menschen bis dahin erst wenige Allele für eine Resistenz gegen Krankheitserreger überzeugend bestimmen können; doch was die Infektanfälligkeit allgemein anbelangte, war durch mehrere epidemiologische Studien ein starker genetischer Einfluß belegt. Ein adoptierter Jugendlicher beispielsweise, dessen einer biologischer Elternteil schon vor dem 50. Lebensjahr an einer Infektionskrankheit stirbt, hat – einer solchen statistischen Untersuchung zufolge – trotz einer anderen familiären Umgebung und damit eines anderen gesundheitlichen Umfelds ein deutlich höheres als das durchschnittliche Risiko, das gleiche Schicksal zu erleiden.

Unser Problem war, daß es damals kein simples Rezept gab, nach dem sich Allele für eine Resistenz gegen HIV hätten finden lassen. Darum kombinierten wir Kenntnisse und Methoden aus drei verschiedenen Fachgebieten: AIDS-Epidemiologie sowie molekularer Human- und theoretischer Populationsgenetik.


High-Tech-Gensuche

Als erstes brauchten wir Genmaterial aus den für uns interessanten Bevölkerungsgruppen, insbesondere von Personen mit hohem expositionsbedingten Risiko, die sich nach Kontakt mit HIV entweder angesteckt hatten oder nicht. Sollten sich die beiden Kollektive in ihrer Genausstattung – genauer in Allelen bestimmter Gene – unterscheiden, konnten wir annehmen, daß diese Erbfaktoren etwas mit der Anfälligkeit für eine HIV-Infektion zu tun hatten.

Bei der Beschaffung der Erbsubstanz DNA arbeiteten wir mit Epidemiologen der Gesundheitsbehörden zusammen, die das Ausbreitungsmuster der noch neuen Epidemie zu verfolgen suchten. Hierzu stellten sie unter anderem Gruppen von mehreren hundert Personen mit hohem Infektionsrisiko auf – insbesondere homosexuelle Männer, Drogenabhängige, die sich ihr Suchtmittel injizierten, sowie Bluterkranke, die verunreinigte Blutprodukte erhalten hatten. Sie allesamt sollten über Jahre von Ärzten überwacht werden, die – mit Einwilligung der Patienten – Blut, Gewebeproben und Fallberichte zur wissenschaftlichen Bearbeitung weitergaben. Aus den Blutproben legte unser zellbiologisches Team unter Leitung von Cheryl Winkler Dauerzellkulturen an, aus denen sich für unsere genetischen Untersuchungen dann immer wieder DNA in beliebiger Menge gewinnen ließ.

Beim Aufspüren von Genen, die zu vergleichen sich eventuell lohnte, kamen uns jüngste Fortschritte der Gen-Kartierung zugute; mit den neuen Verfahren ließ sich die Lage von Erbfaktoren auf den Chromosomen und schließlich ihre Nucleotidsequenz ermitteln. Menschliche DNA enthält schätzungsweise 50000 bis 100000 Gene, und mehr als 6000 davon sind mittlerweile genau auf den Chromosomen kartiert. Damals, 1984, waren es zwar noch nicht einmal 1000; aber selbst nur diese bei allen Proben zu prüfen wäre praktisch unmöglich gewesen (und auch nicht sinnvoll, weil sicherlich nicht alle mit der uns interessierenden Frage zu tun hatten).

Es galt also, den Kreis enger zu ziehen, und dazu nutzten wir vorhandene Kenntnisse über das Verhalten von

Retroviren in ihren Wirtsorganismen. Beim Befall bedienen sie sich gewisser körpereigener Wirtsmoleküle, die gleichsam arglos Schützenhilfe leisten: Zum Entern einer Zelle muß ein Virus, gleich welcher Art, jeweils spezielle Oberflächenproteine erkennen und daran andocken; normalerweise dienen diese als Rezeptoren für andere körpereigene Moleküle, werden aber vom Erreger als Eintrittsschlüssel mißbraucht.

Im Zellinneren angekommen, schreiben Retroviren ihr RNA-Erbgut in eine DNA-Form um, die sich in die Chromosomen integriert. Dieser raffinierte, gegenüber dem Wirt freilich heimtückische Prozeß stellt sicher, daß ihre Gene – die für eine unbegrenzte Produktion neuer Viruspartikel sorgen können – mit jeder Teilung an die Zellnachkommenschaft weitergegeben werden. Mehrere zelleigene Enzyme leisten auch dabei unfreiwillig Beihilfe – außer zur Integration und Partikelproduktion sogar dazu, daß die Invasion der Immunabwehr entgeht.

Darum konzentrierten wir uns zunächst auf etwa 50 bekannte Gene, deren Proteine möglicherweise den Infektions- und Vermehrungszyklus von HIV beeinflußten. Außerdem prüften wir 250 polymorphe – variable – DNA-Stellen, die man auf Abschnitten zwischen Genen nachgewiesen hatte. Sie fungierten quasi als Landmarken. Würden sich dort bei unseren Probandengruppen irgendwelche Unterschiede finden lassen, so wäre das ein Hinweis, daß wohl auch Allele benachbarter Gene systematisch differieren (die Wahrscheinlichkeit, daß ein bestimmtes Allel gemeinsam mit einem bestimmten Polymorphismus einer DNA-Stelle vererbt wird, ist um so höher, je dichter es bei diesem sogenannten Marker liegt; Spektrum der Wissenschaft, April 1988, Seite 80).

Zur Bestimmung von Resistenzfaktoren unterteilten wir jede Risikogruppe nach bestimmten gesundheitlichen Gesichtspunkten. Verglichen wurden so beispielsweise

- HIV-Infizierte mit Personen, die trotz starker Exposition frei von dem Erreger waren,

- Infizierte, bei denen die Krankheit schnell zum Endstadium AIDS fortschritt, mit solchen, bei denen dies langsam oder gar nicht geschah,

- Infizierte, die sich eine für AIDS typische Erkrankung zuzogen (wie die von Pneumocystis carinii ausgelöste Lungenentzündung oder das Kaposi-Sarkom), mit solchen, bei denen das nicht der Fall war.

Für jede Untergruppe wurde dann zum einen ermittelt, wie oft die einzelnen bekannten Allele oder polymorphen Stellen vorkamen, zum anderen auch, in welcher Zweierkombination Allele eines Gens bei einem Individuum auftraten. Von den Geschlechtschromosomen beim Mann abgesehen, erbt jeder Mensch alle Chromosomen in zwei gleichartigen

Exemplaren – eines vom Vater und eines von der Mutter. Sind auf einem Chromosomenpaar beide Versionen eines Gens genau gleich, bezeichnet man die Kombination als reinerbig (homozygot), ansonsten als mischerbig (heterozygot). In unseren Untersuchungen hielten wir also den Prozentsatz an Personen fest, die in den einzelnen Untergruppen für die bekannten Allele homo- beziehungsweise heterozygot sind. Denn deutliche Unterschiede in der Häufigkeit einzelner Allele, der Allelkombinationen oder von beiden zusammen würden bedeuten, daß das fragliche Gen wahrscheinlich mit dem unterschiedlichen Schicksal der betroffenen Untergruppen zu tun hat.


Zumindest ein gutes Indiz

Im Laufe der Jahre bezogen wir mehr und mehr Patienten, Gene und polymorphe Stellen in das Projekt ein und werteten unsere Daten mit immer raffinierteren Computerprogrammen aus. Vielmals meinten wir einen genetischen Unterschied gefunden zu haben, aber bei genauerer Untersuchung verflüchtigte er sich fast jedesmal wieder. Derweil hielten wir uns über alle neuen Erkenntnisse zur Immunologie des menschlichen Organismus und zum Verhalten von HIV auf dem laufenden, weil wir nach Anhaltspunkten für weitere Gene suchten, deren Prüfung sich lohnen könnte.

Aber erst um die Jahreswende 1995/96 – mehr als zehn Jahre, nachdem wir diese Sisyphusarbeit begonnen hatten – fand sich etwas, wo wir ansetzen konnten. Zu verdanken war dies Forschergruppen, die zwei alte Rätsel der Wechselwirkungen zwischen HIV und seinen Wirtszellen gelöst hatten.

Seit langem wußte man, daß das Virus vor allem deshalb eine Immunschwäche hervorruft, weil es letztlich eine Sorte von T-Lymphocyten zerstört, die auf ihrer Oberfläche ein Protein namens CD4 trägt (T-Zellen sind weiße Blutkörperchen, die im Thymus reifen). Als sogenannte Helferzellen koordinieren sie normalerweise viele Teilprozesse antiviraler Immunreaktionen. Außerdem kann HIV Makrophagen infizieren, eine andere Gruppe von Abwehrzellen mit CD4-Molekülen; diese zerstört es aber nicht, sondern findet darin sichere Zuflucht, so daß es jahrelang überdauern kann.

Die CD4-Moleküle auf T-Zellen und Makrophagen sind in der Regel an der Signalübermittlung zwischen Immunzellen beteiligt. HIV verfügt über ein dazu passendes Hüllprotein (gp120 genannt), als Enterhaken sozusagen. Wie sich in Experimenten jedoch gezeigt hatte, ist CD4 zwar eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für einen Befall; die Zellen müssen noch mindestens ein weiteres Oberflächenprotein tragen, an dem das Virus andocken kann. Aber um was für ein Molekül es sich bei diesem zweiten Rezeptor handeln könnte, das war mehr als zehn Jahre nach der Entdeckung von HIV noch völlig offen.

Die andere bis dahin ungeklärte Frage hing mit einer bereits 1986 veröffentlichten Endeckung zusammen. Wie Jay A. Levy von der Universität von Kalifornien in San Francisco damals festgestellt hatte, vermochte eine andere Sorte von T-Zellen, gekennzeichnet durch das Protein CD8, in Kulturen anscheinend eine Vermehrung von HIV in normalerweise anfälligen Zellen zu unterdrücken. Drei Jahre später wies er nach, daß dies über einen löslichen Faktor (oder auch mehrere) geschieht, der abgegeben wird und sich den infizierbaren Zellen anlagert.

Nach Erkenntnissen anderer Forscher existierten Suppressionsfaktoren auch bei Afrikanischen Grünen Meerkatzen, die in ihrem natürlichen Lebensraum chronisch mit SIV (Affen-AIDS-Virus) infiziert sein können, ohne daß Anzeichen einer Immunschwäche zu erkennen wären – desgleichen bei Menschen, die trotz einer HIV-Infektion bereits ungewöhnlich lange relativ gesund geblieben sind. Welche Substanzen das wohl sein könnten war ebenfalls alles andere als klar.

Im Dezember 1995 verkündete dann aber ein Team unter Robert C. Gallo und Paolo Lusso, damals am Nationalen Krebsinstitut, es habe drei chemisch verwandte Faktoren identifiziert; diese würden in Kulturen gemeinsam eine Ausbreitung von HIV-Varianten unterdrücken, die bevorzugt Makrophagen besiedeln (sogenannte M-trope Stämme). Es handele sich bei allen dreien um bereits bekannte Chemokine. Solche Moleküle bestehen aus kürzeren Aminosäureketten als Proteine und locken Immunzellen, die eigens Rezeptoren dafür haben, in verletztes oder erkranktes Gewebe.

Wie könnten die drei Substanzen – RANTES, MIP-1a und MIP-1b – eine HIV-Infektion unterdrücken? Eine von mehreren Möglichkeiten war, daß sie dem Erreger den Platz auf einem Protein der Zellmembran streitig machen, das er zum Entern und damit zum Befall weiterer CD4-Zellen braucht. Mithin konnte der Rezeptor (oder die Rezeptoren) für diese Chemokine durchaus der Zweitrezeptor für HIV auf Makrophagen und vielleicht noch auf anderen Zellen mit CD4-Molekülen sein. Dieser Verdacht ließ sich aber nicht sofort überprüfen, weil ein Protein mit Paßstelle für RANTES beziehungsweise dessen Verwandte noch nicht isoliert war. Das änderte sich im Frühjahr 1996 mit der Veröffentlichung gleich zweier Entdeckungen; sie gaben uns und anderen Wissenschaftlern zugleich neue Kandidaten für mögliche Resistenz-Gene in die Hand.

Zum einen spürten Edward A. Berger und seine Kollegen am amerikanischen Nationalen Institut für Allergien und Infektionskrankheiten in Bethesda ein Gen auf, dessen Protein als Korezeptor für T-trope Stämme fungieren mußte; das sind HIV-Varianten, die bevorzugt T-Zellen statt Makrophagen befallen. Der Rezeptor (damals Fusin, heute CXCR4 genannt) band zwar weder RANTES noch MIP-1a oder MIP-1b, sondern ein anderes Chemokin; doch nun waren selbst Zweifler unter den AIDS-Forschern überzeugt, daß Chemokin-Rezeptoren für die Infektiosität von HIV von Bedeutung sind.

Fast zur gleichen Zeit isolierte zum anderen ein Team unter Michael Samson und Marc Parmentier von der Freien Universität Brüssel das Gen für einen Rezeptor, an den im Experiment sowohl RANTES als auch MIP-1a und MIP-1b andocken, wenn sie Abwehrzellen in geschädigtes Gewebe locken. Anschließend wiesen fünf Arbeitsgruppen binnen zweier Monate unabhängig voneinander nach, daß das von diesem Gen codierte Protein, neuerdings als CCR5 bezeichnet, auch der lange gesuchte Zweitrezeptor für M-trope Stämme von HIV ist.

Zusammen mit anderen Forschungsergebnissen vertieften diese Befunde entscheidend das Verständnis, wie die Infektion sich etabliert und fortschreitet. Zu Beginn nistet HIV sich vor allem in Makrophagen ein. Um dort einzudringen, koppelt der Erreger mit seinem gp120-Protein an die beiden Rezeptoren CD4 und CCR5 auf der Zelloberfläche an (Bild 2 links). Im Inneren angelangt, leitet er die Produktion neuer Viruspartikel ein, so daß das Immunsystem bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit belastet wird.

Jahre später können in der fortwährend mutierenden Viruspopulation Varianten erscheinen, deren Gen für gp120 so abgewandelt ist, daß im Proteinmolekül die ursprüngliche Erkennungsregion für CCR5 sich nun wirksamer an den

Rezeptor CXCR4 auf T-Zellen heftet (Bild 2 Mitte). Solche T-tropen Varianten setzen sich dann in der Viruspopulation durch – mit fatalen Folgen, denn sie bringen ihre Wirtszellen um. So sinkt nach dem Affinitätswechsel die Zahl der CD4-T-Zellen oft schnell ab, und es treten jene opportunistischen Infektionen und Krebserkrankungen auf, die seit vielen Jahren das Erreichen des Endstadiums AIDS kennzeichnen (Bild 2 rechts). Nach der heutigen Definition der amerikanischen Seuchenbehörde in Atlanta (Georgia) ist dieses Stadium auch dann erreicht, wenn die Zahl der CD4-Zellen im Blut auf weniger als 200 je Kubikmillimeter gefallen ist; bei gesunden Menschen liegt dieser Wert bei immerhin ungefähr 1000.


Endlich Erfolg

Kaum waren die Proteine CCR5 und CXCR4 als Korezeptoren für HIV erkannt, begannen wir in unseren Kollektiven zu prüfen, ob die zugehörigen Gene Einfluß auf die Resistenz haben. Nur wenn sie polymorph, also nicht bei allen Personen identisch waren, kamen sie als eine Ursache unterschiedlicher HIV-Anfälligkeit überhaupt in Frage.

Die von uns untersuchten Exemplare des CXCR4-Gens zeigten keinerlei Unterschiede. Im Falle des CCR5-Gens aber entdeckte Mary Carrington aus unserem Team im Juli 1996 außer mehreren sehr seltenen Varianten auch eine, die bei

ungefähr jeder fünften Person in mindestens einer Kopie vorkam. Beim Vergleich mit dem Standard-Allel für CCR5 stellte sich heraus, daß dem anderen aufgrund einer Mutation 32 innere Nucleotide fehlen. Der Verlust (die Deletion) hatte hier ein Stopp-Codon entstehen lassen: einen Befehl, die Aminosäurekette des Proteins nur bis zu dieser Stelle zu fertigen. Das Resultat ist eine stark verkürzte Form des CCR5-Proteins.

Als wir fast 2000 Risikopersonen der Kollektive auf ihre Allelkombination des Gens CCR5 untersuchten, fanden sich gravierende Unterschiede: Etwa drei Prozent der Nichtinfizierten trugen auf beiden Exemplaren ihres Chromosoms 3 die Verlust-Mutante, sie waren also dafür reinerbig; von den Infizierten – immerhin 1343 – war es dagegen kein einziger. Dieser Unterschied war statistisch höchst signifikant und somit gewiß kein Zufall (Bild 3). Außerdem hing die offenkundige Schutzwirkung durch zwei Exemplare des mutierten Allels nicht vom Infektionsweg ab: Ob Bluter, Homosexueller oder Drogenabhängiger – wer homozygot war, hatte sich nicht mit HIV angesteckt. Das rührte nach unserer Mutmaßung daher, daß verstümmeltes CCR5-Protein entweder gar nicht erst an die Zelloberfläche gelangt oder so fehlgefaltet ist, daß HIV daran nicht mehr andocken kann (Bild 1).

Wenige Wochen, nachdem wir einen Artikel über diese bemerkenswerten Befunde bei der Zeitschrift "Science" eingereicht hatten, erfuhren wir, daß andere Arbeitsgruppen unabhängig von uns schon fündig geworden waren. So hatte ein Team unter Nathaniel R. Landau und Richard A. Koup vom Aaron-Diamond-AIDS-Forschungszentrum in New York den Chemokin-Rezeptor bei einer Gruppe Homosexueller geprüft, die bei ihren Sexualkontakten viele Male dem Virus ausgesetzt gewesen waren, ohne sich angesteckt zu haben. Zweien dieser Männer fehlte funktionsfähiges CCR5-Protein auf den weißen Blutkörperchen, und im Erbgut zeigte sich dann, daß jeweils beide Exemplare des zuständigen Gens um eben das bewußte Stück kleiner waren. Das Team von Samson und Parmentier in Brüssel hatte ebenfalls dieses mutierte Allel entdeckt und unter 743 überprüften HIV-Infizierten keinen einzigen dafür reinerbigen gefunden. (Diese beiden Berichte erschienen im August 1996, unserer wurde im Monat danach veröffentlicht.)

In Folgestudien ließen sich weder unter Afrikanern noch unter Ostasiaten oder Afroamerikanern homozygote Individuen aufspüren. Unter weißen Amerikanern (deren Vorfahren aus Europa und Westasien stammten) waren es hingegen etwa ein bis zwei Prozent (siehe Kasten auf dieser Seite). Und unter jenen Nichtinfizierten, die bekanntermaßen dem Virus extrem ausgesetzt gewesen waren (durch häufigen ungeschützten Geschlechtsverkehr mit Infizierten oder durch hohe Dosen verunreinigter Gerinnungsfaktoren), fanden wir sogar fast 20 Prozent reinerbige Träger der Mutation. Bei den restlichen 80 Prozent muß die Resistenz entweder andere genetische oder sonstige Ursachen haben (siehe Kasten auf Seite 44).

Welchen Effekt hat aber Mischerbigkeit, also die Kombination aus einem mutierten und einem normalen CCR5-Gen? Weil Zellen dann nur halb so viele funktionsfähige CCR5-Proteinmoleküle wie sonst produzieren, würde man einen Teilschutz erwarten. In unseren Gruppen Infizierter und nichtinfizierter Risikopersonen waren jedoch mischerbige Individuen ungefähr gleich häufig vertreten. Deshalb prüften wir einen möglichen Einfluß auf den Zeitraum zwischen Ansteckung mit HIV und dem Auftreten AIDS-typischer Sekundärerkrankungen. Unter mischerbigen Blutern und Homosexuellen mit AIDS war die Infektion, wie sich zeigte, um zwei bis drei Jahre langsamer zum Endstadium fortgeschritten (Bild 4). Auch die Zahl der CD4-T-Zellen als alternatives AIDS-Kriterium war erst später unter die kritische Grenze von 200 je Kubikmillimeter Blut gesunken. Eine solche Mischerbigkeit liegt bei annähernd 20 Prozent der weißen Amerikaner vor.


Neue therapeutische Strategien

All diese Befunde verursachten große Aufregung, bedeuteten sie doch, daß man gesunde Menschen vor Ansteckung schützen und bei bereits infizierten den Ausbruch von AIDS hinauszögern könnte, wenn sich die Interaktion zwischen HIV und dem normalen CCR5-Protein völlig unterbinden ließe. Die Bemühungen der Pharma-Industrie, Mittel gegen die Seuche zu finden, hatten sich seit Jahren fast ausschließlich auf mögliche Angriffspunkte am Virus selbst konzentriert. Zum Beispiel greifen alle in der modernen Kombinationstherapie eingesetzten Wirkstoffe direkt in Aktivitäten von HIV ein, hemmen beispielsweise die Funktion gewisser viraler Enzyme. Nähme man nun wirtseigene Moleküle ins Visier, die zum Fortschreiten der Erkrankung beitragen, könnten sich zuvor ungeahnte Wege eröffnen, die Weitervermehrung von HIV bei infizierten Patienten einzudämmen oder bei Gesunden eine Ansteckung sogar von vornherein zu verhüten.

Wie nicht anders zu erwarten, begannen zahlreiche Wissenschaftler sogleich zu überlegen, wie sich ein Ankoppeln von HIV an das CCR5-Protein verhindern ließe. Theoretisch könnte man das mit Stoffen erreichen, die das gp120 der Virushülle gewissermaßen zukleistern. Da der Erreger aber sein Hüllprotein fortwährend abwandelt, würden vermutlich rasch Virusstämme auftreten, an die sich ein solcher Wirkstoff nicht mehr richtig anlagert.

Anfangs befürchtete man, eine Blockade des Rezeptors selbst könne gefährlich werden – womöglich würde sie

gerade die Immunabwehr schwächen, wenn Makrophagen dann auf das Signal von RANTES und verwandten Chemokinen nicht mehr ansprächen. Aber diese Bedenken wurden schon bald zerstreut: Personen mit zwei mutierten Allelen erwiesen sich als offensichtlich recht gesund; weder fanden sich bei ihnen auffällige Funktionsstörungen des Immunsystems noch pathologische Gewebeveränderungen. Offenbar gleichen andere Chemokin-Rezeptoren den Mangel an CCR5-Protein aus. Zwei davon (CCR2B und CCR3) können, wie sich gezeigt hat, ebenfalls als Zweitrezeptoren für HIV fungieren, bieten dabei aber im allgemeinen bei weitem keine so gute Einstiegshilfe wie das CCR5-Molekül.

Aufgrund dieser Erkenntnisse werden derzeit mehrere therapeutische Strategien erwogen. Chemokine oder davon abgeleitete synthetische Verbindungen etwa könnten direkt die HIV-Bindungsstelle auf dem CCR5-Protein besetzen und dadurch den Zugang des Virus zu Zellen behindern. So hat ein internationales Forscherteam bereits eine chemisch abgewandelte Form von RANTES entwickelt, die sich in Reagenzglasversuchen als vielversprechend erwiesen hat. Man könnte auch Medikamente auf der Basis monoklonaler Antikörper erzeugen, die sich gezielt an das CCR5-Protein heften und HIV darauf keinen Platz lassen.

Anvisiert wird ferner eine Immunisierung von Patienten mit Teilstücken des Proteins, um den Körper selbst zur Bildung von Antikörpern gegen den Rezeptor zu veranlassen. Möglich ist unter anderem auch, Makrophagen mit gentechnischen Methoden neue Gene einzuschleusen, deren Produkte die Synthese des CCR5-Moleküls verhindern oder dafür sorgen, daß es nicht mehr als Anheftungsstelle für HIV dienen kann.

Für gewisse Patienten in unmittelbarer Lebensgefahr – wie solche, die sich im Endstadium von AIDS befinden und außerdem an einem Lymphom leiden (einer Krebserkrankung des lymphatischen Systems) – erwägt unsere Arbeitsgruppe eine radikale Behandlungsmethode. In ähnlicher Form wird diese bereits in fortgeschrittenen Fällen von Brust- oder Blutkrebs angewandt. Dazu sucht man mit einer extrem hochdosierten Chemo- oder Strahlentherapie alle Krebszellen im Körper auszumerzen, was aber zugleich die blutbildenden Zellen im Knochenmark zerstört (aus denen auch alle Abwehrzellen hervorgehen). Darum muß man anschließend gesundes, gewebeverträgliches Knochenmark transplantieren.

Entsprechend würden wir bei den AIDS-Patienten versuchen, alle HIV-infizierten Blutzellen zu zerstören, dann aber Knochenmark von Spendern übertragen, die homozygot für die verkürzte Variante des CCR5-Gens sind. Die Maßnahme sollte, so zumindest unsere Hoffnung, vor einer erneuten Infektion schützen helfen und dazu beitragen, daß HIV-Partikel, die der medikamentösen Therapie vielleicht entgangen sind, sich nicht wieder von Zelle zu Zelle ausbreiten.

Die Idee ist zwar äußerst reizvoll, aber es gibt einige schwerwiegende Vorbehalte. Erstens birgt jede Knochenmarktransplantation von vornherein ein gewisses Risiko: Immunologische Unterschiede zwischen Spender und Empfänger können eine Abstoßung der fremden Zellen bewirken oder – schlimmer noch – die Immunzellen im Transplantat dazu veranlassen, das Gewebe des Empfängers anzugreifen und ihn dadurch umzubringen. Zweitens hat man in den letzten Monaten einige homozygote Personen entdeckt, die sich dennoch mit HIV angesteckt haben. Wie das geschehen konnte, wissen wir noch nicht; aber ersten Befunden zufolge haben diese wenigen Patienten sich einen besonders aggressiven T-tropen Erregerstamm zugezogen – einen Typus, der ansonsten gewöhnlich erst in späten Krankheitsstadien auftaucht.

Bisher bestand allgemein die Ansicht, T-trope Stämme seien nicht von Mensch zu Mensch übertragbar; denn es sah so aus, als könne ein gesundes Immunsystem sie bei Erstkontakt erkennen und zerstören. Ein Festsetzen in Gesunden schien nur M-tropen Stämmen möglich zu sein, die sich zunächst in aller Stille in Makrophagen vermehren, ohne deren Vernichtung einzuleiten. Gewissen Indizien zufolge dürften die homozygoten HIV-Infizierten schlichtweg das Pech gehabt haben, auf ungewöhnliche T-trope Stämme zu treffen, die auch eine gesunde Immunabwehr überwinden und sich festsetzen können, ohne daß M-trope Stämme dazu Vorarbeit leisten müssen. Denkbar wäre aber auch, daß die angeborene Resistenz dieser Patienten gegen M-trope Stämme auf irgendeine Weise die Umwandlung zu aggressiven T-tropen Formen beschleunigt hat, so daß diese dann selbst eine Infektion etablieren.

Wenn dem so wäre, könnten die erwogenen Knochenmarktransplantationen – und eigentlich alle Vorbeugungs- oder Therapiemaßnahmen, die HIV den Zugang zum CCR5-Protein verwehren sollen – den fatalen Effekt haben, letztlich das Etablieren und Forschreiten der Infektion zu begünstigen, statt zu verhüten. Beruhigend angesichts dieser Bedenken ist allerdings, daß die meisten Menschen mit der homozygoten Verlustmutation erst gar nicht von HIV befallen werden. Dennoch müßte vor einem routinemäßigen Einsatz von CCR5-Hemmstoffen an Patienten erst belegt werden, daß sich dadurch die Überlebenschancen wirklich erhöhen und nicht vermindern.

Parallel zu den Bemühungen, die neuen genetischen Befunde praktisch umzusetzen, wird nach weiteren genetischen Faktoren gesucht, aus denen sich zusätzliche Möglichkeiten zum Schutz vor dem Immunschwäche-Syndrom ableiten ließen. Tatsächlich hat unsere Arbeitsgruppe kürzlich eine Variante des CCR2B-Gens identifiziert, die schon in mischerbiger Form den Ausbruch von AIDS um zwei bis drei Jahre hinauszögert, ähnlich wie nur ein Exemplar der CCR5-Genvariante. Jianglin Hes Team vom Dana-Faber-Krebsinstitut in Boston (Massachusetts) berichtete schon zuvor im Jahre 1997, das Rezeptorprotein CCR3 begünstige ein Eindringen von HIV in die Mikrogliazellen (spezielle Immunzellen im Gehirn), und seine Blockade verhindere dies im Laborversuch.

Nach mehr als zehnjähriger zäher Suche nach genetischen Eigenschaften, die Schutz gegen AIDS bieten, kann uns der beschleunigte Erkenntnisfortschritt nur freuen. Oberstes Ziel muß jedoch bleiben, das neue Wissen in innovative Strategien zur Bekämpfung von HIV umzusetzen – einem Erreger, der eben jene Zellen zerstört, die ihn gerade ausmerzen helfen sollten. Noch vermag man über prophylaktische und therapeutische Anwendungen lediglich zu spekulieren, aber wir sind zuversichtlich: Mit vereinten Kräften werden Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete die Seuche schließlich eindämmen.


Kasten Seite 43

Das Allel für die HIV-Resistenz, das durch eine Deletionsmutation des Gens CCR5 entstanden ist, tritt keineswegs gleichmäßig innerhalb der Weltbevölkerung auf. Bei Afrikanern, Ostasiaten und amerikanischen Ureinwohnern kommt es praktisch überhaupt nicht vor und bei Afroamerikanern nur sehr selten (erste violett unterlegte Spalte der Tabelle). Bei Weißen – Nachfahren der frühen Besiedler von Europa und Westasien – ist es recht verbreitet. Aber wie man aus der Karte erkennt, variiert seine Häufigkeit selbst unter Weißen des europäischen und westasiatischen Raums, mit den höchsten Werten im Norden und einem Abfall bis auf nicht mehr nachweisbare Anteile in Saudi-Arabien. Zu ihrer Berechnung zählt man die Kopien des mutierten Allels in einer Population und teilt dann durch die Gesamtzahl aller CCR5-Allele, das heißt durch die Summe der mutierten und normalen Genkopien.

Das Verteilungsmuster beantwortet zwar einige Fragen über Herkunft und Verbreitung der Mutation (die ein verkürztes Protein CCR5 entstehen läßt), wirft dafür aber andere auf. Da die Deletion in Afrika praktisch nicht vorkommt, ist sie offenbar erst aufgetreten, nachdem eine Population aus diesem Kontinent ausgewandert war und den europäischen und westasiatischen Raum besiedelt hatte; diese Migration hat nach verbreiteter Ansicht der Fachleute vor 200000 bis 130000 Jahren vor der Gegenwart stattgefunden. Aber wie konnte die mutierte Version bei Weißen so häufig werden, und das besonders im nördlichen Gürtel Eurasiens?

Die Annahme liegt nahe, daß in diesen Regionen irgendwann ein verheerendes Ereignis eintrat, bei dem die ursprünglich wenigen Menschen mit dieser Mutation einen enormen Überlebensvorteil hatten. Indem sie sich vermehrten, wuchs der Anteil des mutierten CCR5-Allels.

Nach unserer Vermutung handelte es sich bei der Katastrophe um eine große Epidemie, bei der ein Erreger ähnlich wie HIV über das normale CCR5-Protein in die Zellen eindrang, während er die defekte Form nicht nutzen konnte. Das könnte genetischen Datierungen zufolge vor etwa 4300 (spätestens vor 1200) Jahren geschehen sein. Eine solche Hypothese scheint uns deshalb plausibel, weil auch bei Tieren seltene Allele oft häufiger werden, wenn sie zufällig Resistenz gegen einen neu aufgetretenen Krankheitserreger verleihen – und zwar um so mehr, je länger eine solche Epidemie dauert. Da im südlichen Eurasien die Mutation seltener ist, dürfte das Zentrum der Epidemie eher in nördlichen Breiten gelegen haben.

Mit der europäischen oder westasiatischen Herkunft vieler Amerikaner ließe sich somit erklären, warum auch ein relativ hoher Prozentsatz der Weißen in der Neuen Welt das Allel trägt: Es gehörte schon zur genetischen Ausstattung ihrer Vorfahren. Bei manchen Afroamerikanern kommt es – anders als bei Afrikanern – wahrscheinlich infolge einer teilweisen Vermischung mit Weißen vor.

Über die Art jenes Erregers können wir nur spekulieren. Möglicherweise war es ein Virus wie HIV, durch das mehr als 90 Prozent der Infizierten starben. Der heutige AIDS-Erreger war es aber nicht – er verbreitet sich in der menschlichen Bevölkerung erst seit etwa 20 Jahren explosionsartig. Vielleicht hat es jedoch schon in früherer Zeit eine nicht belegte Epidemie einer alten Form von HIV gegeben; auch an Erreger von Cholera, Tuberkulose oder Grippe könnte man denken. Die Beulenpest, die man vorübergehend stark in Verdacht hatte, war es wohl ebenfalls nicht; sie suchte Europa in historischer Zeit wiederholt mit schweren Seuchenzügen heim – darunter als Pandemie im 14. Jahrhundert (im 6. Jahrhundert wütete sie bereits in Kleinasien).


Kasten Seite 44

Wie hier dargestellt, haben Gene zweifellos Einfluß darauf, ob jemand sich bei HIV-Kontakt ansteckt und ob die Infektion schnell zu AIDS, dem Endstadium der Erkrankung, fortschreitet. Dabei können aber noch verschiedene andere Faktoren mitspielen, vom Wirtsorganismus wie vom Virus.

Bei manchen Menschen kommt beispielsweise unverzüglich eine starke Immunreaktion gegen HIV in Gang, vielleicht weil das Abwehrsystem schon früher einmal mit einem ähnlich gebauten Virus Kontakt gehabt hatte. Bei einem schlagkräftigen Angriff auf vorderster Linie, der den Gehalt an Viren im Organismus minimiert, ist denkbar, daß der Erreger in manchen Fällen völlig eliminiert wird. Und wenn nicht, dann kann sich die Stärke der Immunreaktion auch auf die Geschwindigkeit auswirken, mit der schließlich AIDS ausbricht.

Infektionen mit anderen Viren beeinflussen unter Umständen ebenfalls die Anfälligkeit für HIV und das Fortschreiten der Erkrankung zum Immunschwäche-Syndrom. Solche Parallelinfektionen veranlassen im Organismus eine Ausschüttung von Cytokinen, und manche dieser körpereigenen Botensubstanzen begünstigen wahrscheinlich das Eindringen von HIV in die Zellen und seine anschließende Vermehrung.

Außerdem schreitet eine HIV-Infektion auch je nach Virusstamm sehr unterschiedlich schnell fort. Stämme, die bevorzugt gewisse Zelltypen befallen, sich langsam vermehren, relativ selten mutieren und ihre Wirtszellen nicht abtöten, ruinieren das Immunsystem des Körpers nicht so schnell – zumindest am Anfang. Aber auch solche zunächst eher gemäßigten Stämme werden später durch Mutationen ihres Erbguts aggressiver.


Literaturhinweise

HIV-1 Entry Cofactor: Functional cDNA Cloning of Seven-Transmembrane, G Protein-Coupled Receptor. Von Y. Feng, C. C. Broder, P. E. Kennedy und E. A. Berger in: Science, Band 272, Seiten 872 bis 877, 10. Mai 1996.

Homozygous Defect in HIV-1 Coreceptor Accounts for Resistance of Some Multiply-Exposed Individuals to HIV-1 Infection. Von Rong Liu und anderen in: Cell, Band 86, Heft 3, Seiten 367 bis 377, 9. August 1996.

Genetic Restriction of HIV-1 Infection and Progression to AIDS by a Deletion Allele of the CKR5 Structural Gene. Von Michael Dean und anderen in: Science, Band 273, Seiten 1856 bis 1862, 27. September 1996.

Contrasting Genetic Influence of CCR2 and CCR5 Variants on HIV-1 Infection and Disease Progression. Von Michael W. Smith und anderen in:

Science, Band 277, Seiten 959 bis 965, 15. August 1997.

Eine Version des amerikanischen Artikels ist mit zusätzlichen Hyperlinks

zu finden unter http://www.sciam.com/0997issue/0997obrien.html



Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1998, Seite 38
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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