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Die Zerstörung des Immunsystems durch HIV

In einem anhaltenden Stellungskrieg gegen immer neue Varianten des AIDS-Erregers, die sich im Körper des Infizierten bilden, verzettelt sich das Immunsystem, bis schließlich das Kräftegleichgewicht zu seinen Ungunsten kippt. Wie lange die Abwehr durchhält, hängt einem Modell zufolge größtenteils von der Zusammensetzung der anfänglichen Reaktionen gegen das Virus ab.

Das Wechselspiel zwischen AIDS- Erreger und Abwehr ist offenbar viel dynamischer, als die meisten Fachleute noch bis vor kurzem dachten. Neueren Forschungen nach verharrt das Human-Immunschwäche-Virus (HIV) in der gewöhnlich langen, weitgehend symptomlosen Spanne vor Ausbruch des eigentlichen Krankheitsbildes AIDS (acquired immune deficiency syndrome, erworbenes Immunschwäche-Syndrom) keineswegs mehr oder wenig untätig; vielmehr vermehrt es sich vehement und läßt tagtäglich zahlreiche Immunzellen untergehen. Der Organismus vermag jedoch offensichtlich für Nachschub zu sorgen und gewöhnlich über Jahre hinweg durch eine massive Immunantwort den Erreger so weit in Schach zu halten, daß dieser nicht überhandnimmt. Nur verschiebt sich das Kräftegleichgewicht üblicherweise schließlich zugunsten des Eindringlings; er dezimiert die Reihen der Abwehr und verursacht jene schwere Immunschwäche, die das Vollbild AIDS kennzeichnet.

Wir haben eine auf evolutionären Überlegungen basierende Hypothese aufgestellt, die einerseits zu erklären vermag, warum das Virus letztlich der immunologischen Kontrolle entgeht, und andererseits, warum die Spanne bis dahin im typischen Falle lang ist, individuell aber erheblich variiert. Meist bricht AIDS im Laufe von ungefähr zehn Jahren nach der Ansteckung aus, bei einigen Infizierten allerdings schon nach zwei, bei anderen auch nach 15 oder mehr Jahren noch nicht.

Die schlagkräftige Immunantwort, die vielen Infizierten noch jahrelange Gesundheit gewährt, wird unseren Überlegungen zufolge durch fortwährende Mutation des Virus schließlich untergraben. In jedem Infizierten können neue Varianten des ursprünglichen Erregers entstehen, die sich der Erkennung durch die Abwehr etwas entziehen. Unseres Erachtens bringt die Anhäufung zahlreicher solcher Varianten das Immunsystem durcheinander, bis es das Virus nicht länger wirksam zu bekämpfen vermag.

Unsere Hypothese wird durch klinische Erkenntnisse immer plausibler. Um zu verstehen, wie wir überhaupt darauf gekommen sind, muß man allerdings einiges darüber wissen, wie das Immunsystem auf Viren im allgemeinen und auf HIV im besonderen reagiert.


Der Körper wehrt sich

Sobald ein Virus in den Körper eindringt und Zellen befällt, startet die körpereigene Abwehr einen gezielten Angriff von mehreren Seiten. Makrophagen (große Freßzellen) und verwandte Zellen orten freie, nicht in Zellen eingenistete Partikel, verschlingen und zerlegen sie. Bruchstücke der abgebauten viralen Proteine werden von speziellen Molekülen aufgegriffen, zur Zelloberfläche verfrachtet und anderen Abwehrzellen präsentiert.

Codiert werden diese Präsentierteller von Genen des Haupt-Histokompatibilitätskomplexes (MHC, nach englisch major histocompatibility complex) und deshalb auch als MHC-Moleküle bezeichnet; beim Menschen ist aber die alte Benennung Human-Leukocyten-Antigene (HLA) noch üblich. Ein solches Molekül hat eine rinnenartige Vertiefung als Bindungstasche. Nur dazu passende Proteinfragmente (Peptide) werden präsentiert.

Die Inspizienten sind weiße Blutkörperchen aus der Gruppe der T-Lymphocyten, und zwar solche mit Helferfunktion (das T steht für Thymus, ihren Reifungsort). Jede dieser Zellen trägt eine Sorte von Rezeptoren, die nur an eine bestimmte Kombination von Peptid und MHC- Molekül andockt. Die Bindung – die Erkennung – veranlaßt sie, sich zu teilen und kleine Signalproteine abzugeben, die ihrerseits weitere wesentliche Schutztruppen des Immunsystems aktivieren und zur Teilung anregen: cytotoxische T-Zellen, auch Killerzellen genannt, und B-Lymphocyten, die Antikörper bilden (das B steht heute für Knochenmark, englisch bone marrow)..

Unter den richtigen Bedingungen greifen T-Killerzellen virus-infizierte Zellen direkt an. Diese präsentieren Teile der viralen Proteine, die sie in ihrem Inneren gezwungenermaßen herstellen, ebenfalls auf MHC-Molekülen, aber solchen einer anderen Art. Eine Killerzelle mit passendem Rezeptor dockt daran an und zerstört die befallene Zelle.

B-Lymphocyten tragen eine abgewandelte Version des Antikörpers, den sie abgeben können, als Rezeptor auf ihrer Oberfläche. Erkennen sie zu ihm passende Teilstrukturen auf der Oberfläche des Virus und erhalten sie aktivatorische Signale der Helferzellen, dann geben sie große Mengen dieses Antikörpers ab; er markiert freie virale Partikel für andere Komponenten des Immunsystems als zu zerstörende Objekte. Der von einem Antikörper erkannte Bereich wird als antigene Determinante oder auch als Epitop bezeichnet. Die von einem T-Zellrezeptor erkannten Peptide nennt man ebenfalls Epitope. All diese Reaktionen sind wohl auch an der Abwehr von HIV beteiligt (siehe Kasten auf Seite 52) – nur daß das Virus ausgerechnet Helferzellen und Makrophagen befällt.

Nach der Infektion vermehrt es sich zunächst eine Weile ungehindert. Während die Zahl freier Partikel im Blut in die Höhe schnellt, fällt die der Helferzellen (Bild 1; Makrophagen sterben zwar ebenfalls, aber die Auswirkungen davon sind weniger genau erforscht).. Diese gehen nämlich zugrunde, wenn neue virale Partikel zu Tausenden mehr oder weniger gleichzeitig aus der Zellmembran knospen (Titelbild)..

Bald jedoch bauen T-Killerzellen und B-Lymphocyten eine starke Abwehr auf; infizierte Zellen und freie virale Partikel werden in großer Zahl beseitigt. Das hält die weitere Vermehrung des Erregers in Grenzen und gibt dem Körper Gelegenheit, mit dem Nachschub an Helferzellen nachzukommen und deren Anteil – wenigstens einige Zeit – wieder auf nahezu normales Niveau zu bringen. Die Infektion besteht indes weiter.

In dem eben geschilderten, als Akutphase bezeichneten Frühstadium, das einige Wochen dauern kann, zeigen sich bei nur ungefähr einem Drittel der In-fizierten überhaupt gewisse Symptome: oft Fieber, eventuell begleitet von Hautausschlägen und geschwollenen Lymphknoten. Selbst dann folgt aber normalerweise ein ausgedehntes beschwerdefreies Stadium, in dem das Immunsystem seine Aufgaben zufriedenstellend erfüllt. Die Nettokonzentration an nachweisbaren Viren bleibt dabei relativ niedrig; sie steigt jedoch mit der Zeit allmählich, während die Population der T-Helferzellen wieder – wenn auch langsam – schrumpft.

Immer mehr Hinweise lassen annehmen, daß dieser Verlust sowohl auf die Aktivität des Virus wie auf die der Killerzellen zurückgeht und nicht etwa auf eine Beeinträchtigung der Fähigkeit des Körpers, neue Helferzellen zu produzieren. (Nicht befallene Helferzellen werden nach jüngsten Erkenntnissen offenbar von bestimmten viralen Proteinen aus den infizierten Zellen in den Selbstmord getrieben, was den Tribut erhöht.) Ausgerechnet die zur Kontrolle der HIV-Infektion unerläßlichen Killerzellen dezimieren also durch ihr nötiges Vernichtungswerk zugleich die Helferzellpopulation, ohne die sie selbst wiederum nicht effizient funktionieren.

Im allgemeinen spricht man von einem Übergang zum Endstadium AIDS, wenn die Anzahl der Helferzellen, die beim Gesunden ungefähr 1000 pro Mikroliter Blut beträgt, einen Wert von 200 unterschreitet. Der Gehalt an Viruspartikeln schnellt dann steil nach oben, und Meßgrößen für die Aktivität des Immunsystems fallen gegen null. Infolge der zusammenbrechenden Abwehrkräfte können nun sonst harmlose Mikroorganismen (vor allem Einzeller und Pilze) lebensbedrohende Krankheiten auslösen. Ist AIDS erst einmal ausgebrochen, überleben die Betroffenen selten mehr als zwei Jahre.


Vorhersagbare Probleme

Wenn trotz der unaufhörlichen Angriffe von HIV lange Zeit gute Abwehrreaktionen dagegen aufrechtzuerhalten sind, warum vermag dann das Immunsystem den Erreger nicht wenigstens in den meisten Fällen vollständig zu eliminieren? Bereits vor einigen Jahren vermuteten einer von uns (Nowak) und seine Kollegen an der Zoologischen Fakultät der Universität Oxford (England), daß dies mit der Fähigkeit des Virus, sich im Körper des Patienten zu verändern, zu tun habe.

Zufällige Mutationen im Erbgut ergeben gemäß der allgemeinen Evolutionstheorie manchmal ein insofern vorteilhaftes Merkmal, als sein Träger dadurch lebensfeindliche Bedingungen besser meistern und sich stärker fortpflanzen kann als seine Artgenossen. Nachkommen, die das Merkmal geerbt haben, werden mit der Zeit in einer Population dominieren – so lange, bis entweder ein anderes Individuum durch günstige Mutationen noch besser angepaßt ist, oder sich die Umweltbedingungen derart ändern, daß wiederum andere Eigenschaften vorteilhafter sind. Der herrschende Selektionsdruck bestimmt somit, welche Merkmale sich in einer Population ausbreiten.

Bei HIV handelt es sich augenscheinlich um einen Erreger, der außergewöhnlich gut dafür gerüstet ist, irgendeinem Selektionsdruck, wie das Immunsystem ihn ausübt, auszuweichen, sich sozusagen an ihm vorbei weiterzuentwickeln: Seine genetische Ausstattung wandelt sich unaufhörlich, und damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, daß auch irgendeine gerade vorteilhafte genetische Veränderung auftritt.

Die enorme Mutationsrate rührt von dem Enzym her, das die aus Ribonucleinsäure (RNA) bestehende Erbsubstanz des Virus in eine doppelsträngi- ge Desoxyribonucleinsäure (DNA) umschreibt (transkribiert),, die sich ins Erbgut der Wirtszelle integrieren kann. Diese Reverse Transkriptase macht ziemlich viele Fehler: Bei jedem Umschreiben von der RNA- in die DNA-Version im Mittel schätzungsweise einen. Dadurch wird HIV zum genetisch instabilsten aller Viren. Seine hohe Vermehrungsrate vergrößert noch die Chancen einer zufällig günstigen Mutation unter der Nachkommenschaft. So berichteten Anfang dieses Jahres die Arbeitsgruppen von George M. Shaw an der Universität Birmingham (England) und David D. Ho am Aaron-Diamond-AIDS-Forschungszentrum in New York, daß täglich mindesten eine Milliarde neuer Viruspartikel in einem Infizierten entstehen. Bei Ausfall jeglicher Abwehrreaktionen würde sich die Viruspopulation im Schnitt alle zwei Tage verdoppeln. Partikel, wie sie zehn Jahre nach der Ansteckung im Körper vorhanden sind, dürften also einige tausend Generationen von dem ursprünglich infizierenden Virus entfernt sein. Während dieser Spanne kann HIV sich mithin so stark genetisch wandeln wie die gesamte Menschheit wohl nur in Jahrmillionen.


Die Diversitätssschwelle

Ansetzend bei dem schon vor einigen Jahren bekannten evolutionären Potential des Virus entwickelten Nowak und seine Kollegen damals folgendes Szenario, das ihrer Ansicht nach erklären könnte, warum der Erreger einer vollständigen Auslöschung widersteht und dann – gewöhnlich nach längerer Zeit – AIDS verursacht: Durch fortwährend auftretende Erbänderungen, so die Annahme, pflegen immer wieder Virusvarianten mit der Fähigkeit aufzukommen, sich den gerade wirksamen Abwehrreaktionen zu entziehen. Auch wenn Mutationen, welche die Struktur der erkannten Peptide (sprich Epitope) abwandeln, sich oft nicht auf immunologische Aktivitäten auswirken, können sie manchmal doch ein Peptid für die körpereigene Abwehr schlechter erkennbar oder gänzlich unsichtbar machen. Jede Variante mit einer Mutation, die ihre prompte Erkennung erschwert, genießt gemäß der Hypothese einen Überlebens- und damit einen Vermehrungsvorteil – zumindest so lange, bis das Immunsystem das veränderte Peptid als quasi neu entdeckt und ebenfalls darauf anspricht (Bild 2)..

Die mittlerweile gestiegene Virusfracht des Körpers würde sich dann für eine Weile wieder reduzieren. Weil aber währenddessen neue Fluchtmutanten entstehen, die der Kontrolle entgehen, beginnt der Teufelskreis von vorne. Der Körper bekommt demnach nie genug Zeit, alle Viruspartikel auzumerzen.

Ein derartiges Szenario ist freilich extrem schwer ausschließlich mit klinischen Tests zu verifizieren – großenteils deswegen, weil sich die nichtlinearen Wechselwirkungen zwischen Virus und Immunsystem des Wirts in der Praxis unmöglich detailliert überwachen lassen. Deshalb simulierte Nowaks Team mit einem Computermodell die Weiterentwicklung einer zunächst homogenen Viruspopulation unter dem Selektionsdruck des Immunsystems. Zu hoffen stand, daß sich dabei Muster einer fortschreitenden HIV-Infektion ergäben, wie sie bereits aus der klinischen Praxis bekannt waren; damit wäre das auf evolutionären Überlegungen basierende Szenario für das Verständnis der HIV-Pathogenese von gewissem Wert.

Die als Kernstück des Modells fungierenden Gleichungen spiegeln Eigenschaften und Prozesse wider, die Nowak und seine Kollegen als bedeutsam für das Fortschreiten einer HIV-Infektion ansahen:

- Das Virus beeinträchtigt die Funktion des Immunsystems hauptsächlich dadurch, daß es Helferzellen dezimiert; dementsprechend sterben bei höherer Virusfracht mehr davon ab.

- Unablässig entstehen Fluchtmutanten, die bis zu einem gewissen Grade den akuten immunologischen Attacken entgehen; sie verbreiten sich verstärkt.

- Nach einiger Zeit hat sich auch gegen diese Mutanten eine wirksame Abwehr aufgebaut, und ihre Population schrumpft.

Das Modell unterscheidet ferner zwischen zwei Arten von Immunreaktionen: solchen gegen leicht mutierende und solche gegen konservierte Epitope (letztere kommen unverändert auf allen Viruspartikeln im Körper eines Infizierten vor, weil ein Verlust oder auch nur eine Abwandlung dieser Strukturen schadet – solche Mutanten sterben aus)..

Die Simulation lieferte tatsächlich die charakteristische lange Inkubationszeit zwischen Ansteckung und dem am Ende steilen Anstieg der HIV-Konzentration. Zugleich bot sie eine Erklärung dafür, warum der Zyklus von sich bildenden Fluchtmutanten und deren anschließender Unterdrückung durch das Immunsystem nicht unendlich weitergeht, sondern irgendwann in eine unkontrollierte Vermehrung des Virus mündet, die durch die fast völlige Ausrottung der Helferzellpopulation AIDS ausbrechen läßt.

Insbesondere zeigte sich am Modell, daß das Immunsystem oft eine starke Abwehr gegen mehrere Virusvarianten gleichzeitig aufbauen kann. Irgendwann jedoch – gewöhnlich erst nach vielen Jahren – kommt der Zeitpunkt, an dem einfach zu viele existieren: Der Erreger gerät völlig außer Kontrolle.

Die Höhe dieser kritischen "Schwelle der Vielfalt", wie wir sie nennen, kann bei jedem Menschen anders sein. Ist die Immunantwort zum Beispiel von Anfang an relativ schwach, reichen unter Umständen bereits einige wenige Varianten, die körpereigenen Abwehrmechanismen zu überwinden.

Es gibt eine intuitive Erklärung dafür, warum die gleichzeitige Anwesenheit mehrerer Virusvarianten die Effizienz des Immunsystems zu beeinträchtigen vermag. In die Sprache militärischer Strategie übertragen sind die Soldaten der HIV-Armee Allround-Kämpfer, die jede sich ihnen entgegenstellende Zelle angreifen können; die Verteidiger aus den Reihen der körpereigenen Abwehr hingegen sind Spezialtruppen, die einen HIV-Angreifer nur erkennen, wenn er das jeweils ihnen bekannte Abzeichen für feindliches Ziel trägt.

Nehmen wir einmal an, daß beide Seiten gleich stark sind, wenn alle Verteidiger dasselbe Abzeichen erkennen und jeder HIV-Angreifer es auch trägt. In dieser Situation würde das Immunsystem die Stellung halten. Greift aber die HIV-Armee zum Beispiel mit drei getrennten Kampfgruppen an, jede anders markiert, müßten die Spezialisten der Immunabwehr sich daraufhin ebenfalls zu drei Einheiten formieren, deren jede wieder nur eins der drei Abzeichen erkennt – dann befände sich die Immunabwehr erheblich im Nachteil. Denn jeder ihrer Spezialisten würde statistisch gesehen nur jeden dritten Angreifer, mit dem er zusammentrifft, als solchen erkennen und angehen. Die HIV-Allround-Kämpfer hingegen könnten weiterhin jeden ihnen begegnenden Spezialisten der Abwehr aufs Korn nehmen. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie schließlich gewinnen.


Vorhersage des Krankheitsverlaufes

Das Modell lieferte zugleich eine mögliche Erklärung dafür, warum die Infektion unterschiedlich schnell bis zum Endstadium AIDS fortschreitet. Richtet sich die anfängliche Immunantwort vor allem gegen konservierte Epitope, werden Mutationen in anderen ihre Wirksamkeit nicht wesentlich beeinträchtigen; viele der mobilisierten Abwehrzellen erkennen weiterhin jedes feindliche Ziel, sei es eine befallene Zelle oder ein freies Viruspartikel (Bild 3 links).. Der Organismus sollte dann trotz recht vielfältiger Erregervarianten HIV unbegrenzt unter Kontrolle halten können. Bei solchen Personen schritte die Infektion wahrscheinlich nur sehr langsam, vielleicht sogar überhaupt nicht zum Endstadium fort.

Ist die Immunantwort gegen konservierte Epitope zwar allein nicht stark genug, um die Viruspopulation zu kontrollieren, wohl aber anfangs im Verein mit der gegen variable Epitope, könnte die körpereigene Abwehr eine ganze Weile standhalten. Mit dem Auftreten von Fluchtmutanten und steigender Vielfalt an Varianten dürfte aber schließlich die Effizienz der Immunantwort gegen variable Epitope nachlassen und die Virusfracht sich erhöhen (Bild 3 rechts).. Nach diesem Muster verläuft offenbar die HIV-Infektion bei den meisten Patienten.

Sind die Immunreaktionen gegen konservierte und variable Epitope zusammengenommen zu schwach, um die Vermehrung von HIV von Anfang an unter Kontrolle zu bekommen, sollte AIDS rasch ausbrechen. Es gäbe kaum einen Selektionsdruck zugunsten der Vermehrung von Fluchtmutanten. Bei solchen Patienten dürfte die Infektion sogar, ohne daß sich eine erhebliche Vielfalt an Varianten aufbaut, in AIDS übergehen (Bild 3 Mitte)..

Die Simulation gab ferner Aufschluß über die zu erwartenden Eigenschaften der Viruspopulation in den einzelnen Stadien der HIV-Infektion. In den allerersten Tagen, noch bevor das Immunsystem allzu stark aktiviert ist, werden sich jene Virusvarianten durchsetzen, die sich am schnellsten vermehren. Selbst wenn also mehrere Varianten gleichzeitig den Patienten infiziert haben sollten, würden vermutlich nach kurzer Zeit die meisten der dann im Körper befindlichen Partikel von der sich am schnellsten reproduzierenden Version abstammen. Somit ist unseres Erachtens in der akuten, ersten Phase der Infektion nur eine geringe genetische Vielfalt innerhalb der Viruspopulation zu erwarten.

Mit zunehmender Mobilisierung der Abwehr wird das Überleben für HIV schwieriger. Sich rasch zu vermehren genügt nicht mehr. Nun beginnt sich unseren Vorhersagen zufolge unter dem vom Immunsystem ausgeübten Selektionsdruck die Vielfalt erkannter viraler Epitope immer mehr zu erhöhen. Wenn die Abwehr aber erst einmal zusammengebrochen ist, schwindet dieser Druck. Bei Patienten mit AIDS erwarten wir deshalb wieder eine Selektion der am schnellsten sich vermehrenden Virusvarianten bei gleichzeitigem Rückgang der viralen Vielfalt.

Langzeitstudien an einigen wenigen Patienten haben mehrere Befunde unserer Modellierung bestätigt. Beteiligt waren daran unter anderen Andrew J. Leigh Brown von der Universität Edinburgh (Schottland), Jaap Goudsmit von der Universität Amsterdam (Niederlande), James I. Mullins von der Universität von Washington in Seattle und Steven M. Wolinsky von der Medizinischen Fakultät der Northwestern-Universität in Evanston (Illinois).. Die Forscher verfolgten, wie sich ein bestimmter Abschnitt eines HIV-Hüllproteins während mehrjähriger Evolution der Viren im menschlichen Organismus veränderte. Die V3 genannte Region ist ein Hauptangriffspunkt für Antikörper, jedoch hochvariabel. Wie vorhergesagt, glichen sich darin Viren von Proben, die in den ersten Wochen nach der Ansteckung gewonnen worden waren; mit der Zeit fanden sich mehr und mehr mutierte Formen.


Schwerpunkt Killerzellenreaktionen

Die ursprünglichen mathematischen Ansätze der Simulation behandelten das Immunsystem als Einheit, ohne zwischen den Aktivitäten der verschiedenen Zelltypen zu unterscheiden. Weil aber T-Killerzellen einen offenbar enormen immunologischen Selektionsdruck auf HIV ausüben, haben wir (Nowak und McMichael) und unsere Mitarbeiter Modellversionen ausgearbeitet, die speziell ihr Verhalten berücksichtigen sollten.

Den Anstoß dazu gaben im Frühjahr 1994 verblüffende Ergebnisse von Untersuchungen an anfänglich symptomfreien Patienten, bei denen McMichael zusammen mit mehreren Kollegen Reaktionen von Killerzellen auf HIV über etwa fünf Jahre verfolgt hatte. Teilziel dieser Studie war zu ermitteln, wie sich verschiedene HLA-Moleküle auf die immunologische Schlagkraft gegen das Virus auswirken.

HLA-Moleküle haben – wie eingangs angedeutet – eine kritische Funktion bei der Immunantwort, weil von ihnen abhängt, welche viralen Peptide an der Zelloberfläche überhaupt präsentiert werden und wie effektiv das geschieht. In der menschlichen Population gibt es davon zahlreiche Typen und Untertypen; jedes Individuum verfügt aber nur über eine gewisse Auswahl (von der im übrigen auch die Gewebeverträglichkeit, die Histokompatibilität, bei Tansplantationen abhängt).. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sich deshalb zwei beliebige Patienten in der genauen Kombination dieser Moleküle unterscheiden – und entsprechend in den dann präsentierten Peptid-Epitopen. Daraus wiederum resultiert, in welchem Grade die HLA-Peptid-Komplexe die Aufmerksamkeit des Immunsystems auf sich lenken. Bei den meisten Infizierten scheint es nur sehr wenige der vielen möglichen Epitope viraler Proteine zu erkennen – gewöhnlich zwischen einem und zehn.

In den klinischen Untersuchungen prüfte man die Reaktionen von Killerzellen auf verschiedene Epitope von GAG, einem im Inneren von HIV vorkommenden Protein. Bei drei Patienten war die HLA-Variante B27 der Präsentierteller, bei zweien die Variante B8. Im Falle von B27 richtete sich die Killerzellantwort gegen ein einziges Fragment von GAG, das sich während der Studie nur unwesentlich veränderte, im Falle von B8 gegen drei andere; davon tauchten im Verlauf der Studie mutierte Formen auf, von denen sich viele der Erkennung durch Killerzellen entzogen. Auch die relative Stärke der Immunantworten gegen die drei Epitope fluktuierte deutlich.

Diese Befunde belegten erstmals Mutationen der Viren im menschlichen Körper, die sie befähigen, den T-Killerzellen zu entgehen. Zugleich warfen sie neue Fragen auf, insbesondere, warum die Stärke der T-Zell-Reaktionen auf die verschiedenen Epitope so stark schwankte – bei den meisten anderen viralen Infektionen sind sie wesentlich stabiler und gewöhnlich gegen ein einziges Epitop gerichtet.

Bei der spezifischen Siumlation legten wir deshalb entsprechende Annahmen zugrunde: zum einen, daß auf der Oberfläche infizierter Zellen, wenn diese virale Proteine abbauen, viele für Killerzellen erkennbare Epitope präsentiert werden; zum anderen, daß die meisten dieser Strukturen, weil Mutationen darin tolerabel sind, sich verändern und Virusvarianten mit Abwandlungen in manchen Epitopen entstehen lassen.

Die Modelle führten Zufallsmutationen in Epitope ein und verfolgten dann das Wachstum jeder neuen viralen Variante ebenso wie den Anteil der gegen jedes Epitop gerichteten Killerzellen.. Gemäß den Vorgaben hing dieser Anteil – und somit die Schlagkraft der einzelnen Truppen – von der Zahl viraler Partikel mit dem bestimmten Epitop ab und von dessen Immunogenität (einige erkannte Epitope regen die Vermehrung von T-Zellen stärker an als andere).

Die Ergebnisse im Falle mehrerer Epitope waren gelinde gesagt verzwickt. Doch im wesentlichen nahm auch hier die Gesamteffizienz des Immunsystems mit der Zeit ab. Dies war zudem auf eine Fluktuation in seiner Reaktivität zurückzuführen, wie man sie ähnlich bei den beiden Patienten mit HLA-B8-Molekülen beobachtet hatte: Sie schien von einer Art Wettbewerb zwischen den verschiedenen T-Zell-Populationen herzurühren (Bild 4).. Jede solche Teilpopulation ist ein Klon, die Nachkommenschaft einer gemeinsamen Ursprungszelle; deswegen erkennen sämtliche Mitglieder dasselbe Epitop.

Unsere Berechnungen legen somit nahe, daß alle diese Klone im Organismus gewissermaßen um die Führung in der Abwehrschlacht konkurrieren. Wenn die anfängliche, von mehreren Klonen bestrittene Killerzellantwort zu greifen beginnt, wird die Virusfracht geringer – damit aber auch die Zahl stimulierender Signale, welche diese T-Zellen erhalten. Schließlich bleiben nur jene Klone aktiv, welche die am stärksten immunogenen Epitope erkennen. Das kann so weit gehen, daß ein einziger die gesamte Killerzell-Aktivität dominiert.

Ein derartiger Prozeß mag von Vorteil sein und eventuell sogar ein Virus eliminieren, sofern es sich nicht verändert. Wenn doch, dann würden Mutationen in dem vom dominierenden Klon erkannten Epitop, wenn es für ihn dadurch gleichsam unsichtbar wird, die praktisch ungehemmte Weitervermehrung der das Epitop tragenden viralen Partikel ermöglichen. Manchmal wird das Immunsystem wieder aufholen und gegen eben die neue Version des Epitops mobil machen, in anderen Fällen aber vielleicht statt dessen mehr ein anderes, ursprünglich weniger stimulierendes Epitop ins Visier nehmen. Diese Verlagerung kann sich viele Male wiederholen, so daß die relative Häufigkeit der T-Zell-Klone in einem äußerst komplizierten Reaktionsmuster fluktuiert.

Das Auftauchen einer nicht erkannten Form eines Epitops kann somit in mindestens zweierlei Hinsicht Probleme schaffen: daß sich zum einen die Stärke der Gesamtattacke gegen die veränderte Virusvariante verringert, zum anderen die Verteidigungsanstrengungen in Richtung immer schwächerer Epitope verschieben. Die Abwehr würde sich quasi verzetteln (Bild 4).. Die Folge: Die Zahl der Viren steigt, so daß Helferzellen und Makrophagen schneller untergehen und die Gesamtpopulation an Viren schlechter unter Kontrolle zu halten ist. Die Simulationen mit mehreren Epitopen lassen sich mit entsprechendem Ergebnis auf die von Antikörpern vermittelte Immunantwort übertragen. Virale Vielfalt scheint also das Fortschreiten der Krankheit zu beschleunigen.


Schlußfolgerungen für die Therapie

Intuitiv könnte man vermuten, daß es günstiger für einen Patienten ist, wenn sein Immunsystem auf zahlreiche verschiedene Epitope zugleich reagiert, weil ein Viruspartikel, das einem T-Zell-Klon entgeht, vermutlich von einem der anderen erkannt wird.

Unsere Simulationen ergeben aber, daß im Falle von HIV Abwehrscharmützel gegen viele verschiedene Epitope eher ein schlechtes Zeichen sind – nämlich ein Indiz dafür, daß wichtige Epitope sich womöglich bereits bis zur Unkenntlichkeit verändert haben. Die nachhaltige Konzentration auf ein einziges Epitop oder einige wenige dürfte hingegen anzeigen, daß das symptomfreie Stadium noch länger andauert.

Gestützt wird diese Prognose von einer interessanten Beobachtung aus der beschriebenen HLA-Studie: Bei den beiden Patienten mit fluktuierenden T-Zell-Antworten schritt die Infektion viel schneller zum Endstadium fort als bei den Patienten mit einer beständigen Reaktion gegen ein einzelnes Epitop. Allerdings umfaßt diese wissenschaftliche Studie für endgültige Schlüsse noch viel zu wenige Patienten.

Wenn die Modelle den Verlauf der HIV-Infektion präzise abbilden, so hat dies Konsequenzen für die Entwicklung von Impfstoffen (zur Vorbeugung oder Behandlung) ebenso wie für die von Therapien auf der Basis von Wirkstoffen.

Im Falle von Impfstoffen wäre es vermutlich kontraproduktiv, Immunität gegen eine Vielzahl von HIV-Epitopen bei einem Menschen anzuregen – weil das unseren Befunden zufolge mit einiger Wahrscheinlichkeit einen unerwünschten Wettbewerb zwischen den Abwehrtruppen auslöst. Günstiger mag sein, die Immunantwort gegen ein einziges konserviertes Epitop zu verstärken, selbst wenn es normalerweise nicht am besten erkannt wird. Im Idealfall käme eine dauerhafte, die Vermehrung von HIV unter Kontrolle haltende Reaktion zustande. Dazu müßte man nicht nur geeignete konservierte Epitope finden, sondern auch eine die Wirkung optimierende Darreichungsform.

Auch die Erkenntnis, daß sich das Virus in allen Stadien der Infektion fortwährend schnell vermehrt, hat bemerkenswerte therapeutische Konsequenzen. Wirkstoffe, welche die Replikation des Virus hemmen, sind deshalb nach Ansicht vieler Ärzte wahrscheinlich am effektivsten bei frühem Einsatz, also noch bevor der Erreger Gelegenheit hatte, sich zu sehr auszubreiten. Wirkungsvoller als eine Mono- könnte zudem eine Kombinationstherapie sein; selbst wenn sich eine gegen die eine Substanz resistente Viruspopulation aufbaut, dürfte sie gegen eine andere noch empfindlich sein.

Indem derartige Strategien die Vermehrungsrate drosseln, sollten sie die Geschwindigkeit, mit der Mutanten entstehen, verringern und so die virale Vielfalt begrenzen. Reduzierung der Virusfracht und Einschränkung der Vielfalt sollten, worauf unsere Modelle ferner schließen lassen, dem Immunsystem helfen, das Virus aus eigener Kraft in Schranken zu halten.

Alles in allem, klinische und mathematische Befunde zusammengenommen, scheint ein solches auf evolutionären Überlegungen aufgebautes Szenario uns der Antwort auf die Frage, warum eine HIV-Infektion gewöhnlich langsam voranschreitet, aber letztlich immer – oder zumindest fast immer – mit der Zerstörung des Immunsystems endet, ein gutes Stück näher zu bringen.

Literaturhinweise

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Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1995, Seite 52
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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