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Ein Blick ins Lexikon des Gehirns

Abstrakte Repräsntationen von Wörtern vermitteln zwischen ihren lautlichen Ausgestaltungen und übergeordneten Begriffen. Durch Messungen der Hirnaktivität bei Benennungsaufgaben sowie durch neuropsychologische Analyse von Ausfallserscheinungen aufgrund von Hirnschäden ließ sich ermitteln, daß dieses lexikalische Wissen vor allem im linken Schläfenlappen lokalisiert ist - und zwar je nach Begriffskategorie an einem etwas anderen Ort.

Seit den klassischen Studien von Paul Broca (1824 bis 1880) und Carl Wernicke (1848 bis 1905) ist bekannt, daß für die Produktion und das Verständnis von Sprache bestimmte Hirnregionen erforderlich sind, die bei den meisten Menschen in der linken Gehirnhälfte liegen. Außer diesen klassischen Sprachzentren im hinteren unteren Stirnlappen (motorisches Broca-Areal) und im hinteren oberen Schläfenlappen (sensorisches Wernicke-Areal) haben einige andere Bereiche der Großhirnrinde grundlegende Bedeutung für das Sprachvermögen eines Menschen. Das beweisen Schädigungen, zum Beispiel aufgrund eines Schlaganfalls, die manchmal sehr spezielle Ausfallserscheinungen nach sich ziehen. Die Betroffene sind dann zum Beispiel nicht mehr imstande, Wörter bestimmter semantischer Kategorien zu verwenden, etwa Bezeichnungen für Werkzeuge oder Tiere, während ihr übriges Vokabular erhalten geblieben ist.

Diese spezifischen Aphasien könnten auf einem Defekt in der Repräsentation bestimmter semantischer Eigenschaften beruhen, die all jenen Bezeichnungen gemeinsam sind, die den Patienten nicht mehr zur Verfügung stehen. Eine alternative Erklärung wäre, daß die neuronalen Bahnen zerstört wurden, welche die Repräsentation dieser Eigenschaften mit jener der Wörter verknüpfen.

Noch eine andere Ursache vermuten dagegen Hanna und Antonio R. Damasio von der Universität von Iowa in Iowa City. Danach beruhen kategoriespezifische Defizite auf dem Ausfall einer Vermittlungsinstanz zwischen begrifflichem Wissen und den phonetischen (lautlichen) Repräsentationen der Wortformen (Spektrum der Wissenschaft, November 1992, Seite 80). Diese Vermittlungsinstanz kann man sich als eine Art Lexikon vorstellen; es soll in Kategorien gegliedert und unabhängig von der konkreten lautlichen oder orthographischen Form der Wörter sein. Willem J. M. Levelt vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen (Niederlande) und Merril F. Garret von der Universität von Arizona in Tucson haben aus psycholinguistischen Untersuchungen ähnliche Schlüsse gezogen.

Mit neuen Untersuchungen konnten Damasio und seine Mitarbeiter die Vermittlungshypothese nun erhärten ("Nature", Band 380, Seite 499, 1996). Dabei präsentierten sie 127 Patienten mit verschiedenen Läsionen des Großhirns jeweils mehr als 300 Photographien von Tieren, Werkzeugen und Gesichtern bekannter Persönlichkeiten. 30 Versuchsteilnehmer hatten große Schwierigkeiten, die Bilder zu benennen: Sie erkannten die abgebildeten Objekte zwar und vermochten sie auch korrekt einzuordnen, kamen aber oft nicht auf ihren Namen. Beispielsweise konnte ein Patient ein Stinktier als schwarz-weiß gefärbtes Tier beschreiben, das bei Gefahr eine unangenehm riechende Flüssigkeit verspritzt, wußte aber nicht, wie es heißt. Ihm war also nur das Wort, nicht jedoch der Begriff abhanden gekommen.

Wie anschließend aufgenommene Magnetresonanz- und Computertomogramme zeigten, hatten mit einer Ausnahme alle Personen mit solchen Benennungsdefiziten einen Defekt im linken Schläfenlappen. Dabei war die Unfähigkeit, die Namen berühmter Persönlichkeiten anzugeben, mit Läsionen im Temporalpol verbunden, die Aphasie für Tiernamen mit Schädigungen im unteren Temporallappen, meist der vorderen Seite, und der Verlust von Werkzeugbezeichnungen mit Beeinträchtigungen im hinteren Temporallappen und der Übergangsregion zwischen Schläfen-, Scheitel- und Hinterhauptlappen (Bild).

Ausfälle zweier Wortklassen betrafen entweder die Namen von Personen und Tieren oder von Tieren und Werkzeugen, aber niemals von Personen und Werkzeugen gleichzeitig. Letztere haben nämlich keine überlappenden neuronalen Repräsentationen, die von einer einzelnen Läsion zerstört werden könnten. Bei weiträumigen Schädigungen des Temporallappens kommt es allenfalls vor, daß alle drei Wortklassen verlorengehen.

In einer zweiten Studie wurden die Benennungsaufgaben mit neun gesunden Versuchspersonen wiederholt, die während der Tests in einem Positronen-Emissions-Tomographen (PET) lagen. Damit läßt sich die Gehirnaktivität beispielsweise mit Hilfe von injiziertem radioaktiv markiertem Wasser messen, dessen lokale Anhäufung einen erhöhten Blutfluß in aktiven Hirnbereichen anzeigt; die räumliche Auflösung beträgt dabei wenige Millimeter (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1994, Seite 56). Wie die PET-Studie ergab, wurden bei der Benennung von Personen, Tieren oder Werkzeugen tatsächlich dieselben Regionen im Schläfenlappen aktiviert, die bei den jeweiligen Aphasien geschädigt waren. (Bei der Präsentation von Photos mit Gesichtern leuchtete erwartungsgemäß auch der rechte Temporalpol auf, der an der Wiedererkennung beteiligt ist.)

Nach den übereinstimmenden Ergebnissen beider Studien wird also lexikalisches Wissen in unterschiedlichen, aber benachbarten Hirnregionen repräsentiert. Dabei dürfte es sich freilich nicht um fest verdrahtete Module oder Zentren handeln, sondern um kleine, flexible Neuronenverbände, die durch neue Erfahrungen modifiziert werden können. Sie interagieren über vor- und rückwärtsgerichtete Verschaltungen mit den Großhirnregionen, die für konzeptuelle beziehungsweise phonetische Prozeduren zuständig sind.

Ähnliche Ergebnisse lieferte eine andere PET-Studie von Alex Martin, Cheri L. Wiggs, Leslie G. Ungerleider und James V. Haxby vom amerikanischen Nationalinstitut für Geistige Gesundheit in Bethesda (Maryland) an gesunden Versuchspersonen ("Nature", Band 379, Seite 649, 1996). Dabei ging es um die Benennung von Tieren und Werkzeugen, die als Zeichnungen vorgeführt wurden. Obwohl auch hier je nach Kategorie unterschiedliche Hirnregionen aktiviert wurden, ergab sich im einzelnen eine etwas andere Zuordnung und zusätzlich eine Beteiligung von Zonen außerhalb des Temporallappens.

So erhöhte sich bei Tierdarstellungen die Durchblutung in beiden Temporalpolen sowie an einer Stelle in der Mitte des linken Hinterhauptlappens, von der schon länger bekannt ist, daß sie eine wichtige Rolle in den frühen Stadien der neuronalen Bildverarbeitung spielt; hier finden wahrscheinlich Rückkoppelungen mit nachgeordneten Regionen statt, die dazu dienen, anhand feinerer Merkmale den Gegenstandsbereich einer Kategorie (hier der Tiere) genauer aufzugliedern.

Bilder von Werkzeugen dagegen aktivierten außer den beiden Temporalpolen die linke prämotorische Area. Sie wird auch stärker durchblutet, wenn man sich Bewegungen der rechten Hand vorstellt (alle Versuchspersonen waren Rechtshänder), und scheint für die Kenntnis bestimmter Fertigkeiten wichtig zu sein (handwerkliches Know-how). Zudem war ein Bereich in der linken mittleren Windung des Schläfenlappens (Gyrus temporalis medius) aktiver, in dem vermutlich visuelle Bewegungsmuster gespeichert werden, die mit Objekten assoziiert sind. Er ist unter anderem am Hervorbringen von Wörtern für objektbezogene Handlungen und Tätigkeiten beteiligt und liegt der Region benachbart, die für die Wahrnehmung von Bewegungen zuständig ist.

Trotz der Abweichungen im Detail haben beide PET-Studien übereinstimmend gezeigt, daß unterschiedliche Kategori-en derselben Wortklasse (Substantive) in verschiedenen Hirnregionen – und zwar vor allem im Schläfenlappen – lokalisiert sind. Interessant wäre zu erfahren, ob das gleiche auch für die lexikalischen Repräsentationen von abstrakten Konzepten wie Gerechtigkeit, Demokratie oder Beweisführung gilt. Was grammatische Klassen (Substantive, Verben, Funktionswörter) angeht, so gibt es bereits Hinweise, daß sie zumindest teilweise ebenfalls in spezifischen Hirnarealen verankert sind.

Erst im Anfangsstadium befindet sich dagegen das Studium der syntaktischen Verarbeitungsprozesse. Immerhin haben Karin Stromswold, David Caplan, Na-thaniel Alpert und Scott Rauch vom Massachusetts General Hospital in Boston unlängst nachgewiesen, daß die Bewältigung bestimmter syntaktischer Aufgaben die Aktivität im Pars opercularis erhöht, der zum Broca-Areal gehört ("Brain and Language", Band 52, Seite 452, 1996).

Trotz aller Fortschritte sollte man sich freilich klar darüber sein, daß es präzise Karten der einzelnen Sprachfunktionen wohl nie geben wird. Das liegt zum einen an den Unzulänglichkeiten der Untersuchungsmethoden – zum Beispiel relativ unflexiblen Versuchsanordnungen und einer geringen zeitlichen Auflösung der PET-Messungen von rund 10 Sekunden. Zum anderen sind die individuellen Unterschiede und die zusätzlichen Einflußfaktoren bei den einzelnen Verarbeitungsschritten einfach zu groß. Außerdem wäre eine strikte Lokalisationslehre nicht vereinbar mit der modernen Auffassung, wonach das Gehirn ein komplexes Netzwerk mit dynamisch wechselnden Aktivitätsmustern und Verschaltungen ist (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1995, Seite 92).


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1996, Seite 24
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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