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Rezension: Einstein, die Geschichte und andere Leidenschaften. Der Kampf gegen die Wissenschaft am Ende des 20. Jahrhunderts.

Aus dem Amerikanischen von Rainer Sengerling. Vieweg, Braunschweig 1998. 295 Seiten, DM 54,–.

Gerald Holton hat ein Anliegen, und das bringt er arg pathetisch vor. Die Widmung lautet: „Dieses Buch ist den zahllosen Männern und Frauen des 20. Jahrhunderts gewidmet, die ihr Leben dem Fortschritt der Wissenschaft und der Verbesserung der menschlichen Existenzbedingungen geweiht haben – denjenigen, die mit Thomas Jefferson an den Satz glaubten: ,Wissen ist Macht, Wissen ist Sicherheit, Wissen ist Glück.‘ “

Zahlreiche Fragen drängen sich auf. Soll man überhaupt an einen Satz „glauben“? Und warum gerade an diesen? Hat Galilei sein Wissen Macht verschafft? Macht Wissen nicht oft unsicher? Ist man nicht oft ohne Wissen glücklicher? Sollte man dem Streben nach Wissen fragwürdige Belohnungen wie Macht, Sicherheit, Glück in Aussicht stellen? Braucht die menschliche Neugier wirklich solche Krücken?

Ein empörter Klageton, als wäre die scientific community das Fähnlein der sieben Aufrechten, eine bedrohte Spezies oder eine verfolgte Minderheit, durchzieht das ganze Buch des Professors für Physik sowie für Geschichte der Naturwissenschaften an der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts). Nun stimmt zwar, daß die Öffentlichkeit nicht – strenggenommen sogar nie – genug von Naturwissenschaft versteht und darum eine bedauerliche Neigung zu vorschnellen Schlüssen, Schuldzuweisungen und allgemeinem Aberglauben zeigt; aber richtig ist auch, daß die Wissenschaft höchste gesellschaftliche Autorität genießt, weshalb ja sogar der Aberglaube immer verzweifelter bemüht ist, sich „wissenschaftlich“ zu beweisen.

Holtons Alarmruf muß darum europäischen Ohren leicht übertrieben klingen. Doch in den angelsächsischen Ländern gibt es immerhin – ganz abgesehen von den in den USA mächtigen kreationistischen Sekten, die gegen Darwin die Bibel ins Treffen führen – seit einigen Jahren die sogenannten science wars. Die Protagonisten dieses „Wissenschaftskriegs“ sind Geistes- versus Naturwissenschaftler, die einander wechselweise Borniertheit, Unwissen und unfaire Methoden vorwerfen. Dabei betonen die einen (insbesondere die Wissenschaftssoziologen der sogenannten Edinburgher Schule) die sozialen Entstehungsbedingungen und –prozesse von Wissenschaft und versteigen sich manchmal zu der These, die Naturwissenschaft sei „nur“ ein soziales Konstrukt und insofern nicht „wahrer“ als Künste, Spiele oder Eingeborenenriten. Wie kaum anders zu erwarten, kontern die Naturforscher (sofern sie überhaupt Notiz davon nehmen) mit der Gegenthese, ihre Tätigkeit habe wohl mehr mit Wahrheit und Wirklichkeit zu tun als die Publikationen „postmoderner Literaten“ oder – ein anderer Kampfbegriff – der „sozialwissenschaftlichen Intelligenzia“, die von Naturwissenschaft rede wie der Blinde vom Licht.

Holtons polemisches Etikett ist „Romantische Rebellion“. Unter diesem Oberbegriff faßt er alle Gegenbewegungen zusammen, welche der Siegeszug der Naturwissenschaften im Lauf ihrer Geschichte auf den Plan gerufen hat. Er geht auf den Geschichts- und Wissenschaftspessimismus in Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ ein und erwähnt die grotesken Versuche, im nationalsozialistischen Deutschland eine „arische Physik“ zu etablieren. Ausführlich zitiert er eine Rede des tschechischen Dramatikers und Staatspräsidenten Václav Havel, in der dieser erfreut behauptete, das Ende des Kommunismus markiere zugleich das Ende eines auf wissenschaftliche Objektivität gegründeten Denkens. Auch in den modernen Demokratien sieht Holton die Wissenschaft in der Defensive: „Die Trennung … zwischen der Arbeit des Wissenschaftlers auf der einen Seite und der des Intellektuellen außerhalb der Wissenschaft auf der anderen Seite verstärkt sich, und eine echte Akzeptanz der Wissenschaft als vollwertiger Teil unserer Kultur hat immer geringere statt größere Chancen.“

Diese pauschale Diagnose erscheint mir so aussageschwach wie die schon in mesopotamischen Keilschrifttexten dokumentierte Klage über den Sittenverfall bei der jeweils „heutigen“ Jugend. Richtig ist, daß die Ergebnisse der Naturwissenschaften schwer zu vermitteln sind und daß es nötig ist, die Kluft zwischen Fachwelt und Laien immer wieder neu zu überbrücken.

In diesem Bereich liegt auch Holtons eigentliche Stärke. Seine kurzen Abrisse der Wissenschaftsgeschichte von Kopernikus bis zur modernen Großforschung betonen kulturgeschichtliche Aspekte und die Rolle der Imagination – Visualisierung und Anschauung – für die Entstehung neuer Theorien. Holton hat in diesem Zusammenhang den Begriff „Themata“ eingeführt, worunter er gemäß er unmittelbaren Bedeutung des griechischen Wortes „Setzungen“ versteht: Der innovative Forscher geht von grundlegenden Prämissen aus, die er zunächst einfach voraussetzt, ohne sie zu beweisen; er findet sie in der Kultur seiner Zeit vor und übernimmt sie unhinterfragt; erst die Folgerungen aus der darauf gebauten Theorie werden später einer wissenschaftlichen Überprüfung zugeführt.

Diese Umkehrung der vermeintlichen Reihenfolge wissenschaftlichen Vorgehens – erst Beobachtungsdaten, dann daraus abgeleitete theoretische Verallgemeinerungen – hat schon Albert Einstein aus eigener Erfahrung stets betont. Holton ist als Mitherausgeber von Einsteins Gesammelten Werken besonders berufen, über dessen Leben und Werk zu berichten. Die zweite Hälfte des Buches ist dem größten aller Theoretiker gewidmet und bringt viele interessante Details zu Einsteins Einfluß auf die Kultur seiner Zeit, zu seinen frühen Jahren als Forscher und zu seinen philosophischen Überzeugungen. Dies ist angesichts der Fülle von Literatur über das singuläre Genie eine respektable Leistung. Die politische Figur, die Einstein sein Leben lang als Pazifist und Sozialist machte, bleibt allerdings völlig unbeleuchtet.

So ist ein etwas uneinheitliches Buch entstanden – das meiste hatte Holton in Form einzelner Aufsätze in den USA schon zuvor publiziert –, das der Autor mit einem eher unglücklich forcierten Oberthema zusammenzuhalten sucht.

Ein Wort zur Buchgestaltung: Sie ist schlampig. Auf Seite 15 hängen oben gerade noch zwei Worte eines Schlußabsatzes über, bevor weiter unten das nächste Kapitel beginnt, und Seite 47 ist bis auf fünf Worte überhaupt leer. Das Inhaltsverzeichnis führt gleich zweimal untereinander mit unterschiedlicher Seitenangabe ein „Sachwortverzeichnis“ an, das dann aber auch Namen enthält. Es ist ärgerlich, wenn ein Verlag die Diskette des – übrigens sorgsamen – Übersetzers offenbar unbesehen zum Druck gibt, ohne den Umbruch zu kontrollieren, und dann noch für das Buch einen stolzen Preis verlangt.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1999, Seite 114
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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