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Evolutionäre Symmetrietheorie. Selbstorganisation und dynamische Systeme.

Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1996.
284 Seiten, DM 68,-.

In den 19 Beiträgen dieses Buches kommen Fachleute aus allen Bereichen von Philosophie und Kunst bis hin zu Mathematik und Physik zu Wort mit dem Ziel, Wissenschaft und Kunst "zu vernetzen, um eine neue umfassende Symmetrietheorie zu entwerfen". Bei diesem Aufgebot an Disziplinen – wobei allerdings in den meisten Fällen ein Autor mehrere vertritt – darf es nicht wundern, wenn der Inhalt etwas heterogen bleibt und nicht recht klar wird, welcher Leserkreis angesprochen werden soll.

Was ist Symmetrie? Bei der Lektüre merkt man sehr schnell, daß eine saubere Definition erforderlich ist. Leider muß man sich dafür erst bis zur Mitte des Buches vorlesen. Auf Seite 145 gibt der Physiker und Philosoph Michael Klein, der am Städelschule-Institut für neue Medien in Frankfurt am Main tätig ist, eine recht anschauliche Erklärung: Ein Gegenstand ist symmetrisch, wenn es eine Transformation gibt, die ihn unverändert (invariant) läßt. Die einfachsten Symmetrietransformationen sind Verschiebung, Drehung und Spiegelung.

Aber nicht nur anschauliche geometrische Objekte können invariant gegenüber Transformationen sein, sondern auch physikalische Gesetze oder Theorien. Das Gravitationsgesetz ist invariant gegenüber einer Verschiebung in der Zeitkoordinate: Es bleibt dasselbe, einerlei von welchem Nullpunkt aus wir die Zeit messen. Gleiches gilt für Verschiebungen und Rotationen des räumlichen Koordinatensystems. Entsprechend läßt sich der Symmetriebegriff als Invarianz nicht nur gegenüber einer Transformation, sondern gegenüber ganzen Transformationsgruppen (im mathematischen Sinne) verallgemeinern und schließlich mit Hilfe der Gruppentheorie erfassen.

Zu jeder Symmetrie gehört übrigens ein Erhaltungsgesetz; die fundamentalen Erhaltungssätze für Energie, Impuls und Drehimpuls lassen sich aus der Invarianz der physikalischen Gesetze gegen zeitliche Verschiebung, räumliche Verschiebung und räumliche Rotation herleiten.

Ebenso wie in der Naturwissenschaft "wird in der Moderne von Kunst und Architektur nach einem neuen Zentrum und nach neuen Strukturgesetzen gesucht", so der Augsburger Philosoph Klaus Mainzer. Symmetrie ist somit ein mächtiges Werkzeug, das angestrebte Ziel der "Vernetzung" zu verwirklichen – allerdings auch zu trivialisieren. Denn wenn man es übertreibt mit der Erweiterung des Symmetriebegriffs, wenn man ganz allgemein "Konstanz, Wiederholung, stabile Transformationsmöglichkeit" darunter versteht, dann wird er deckungsgleich mit Überlebensfähigkeit und damit freilich allgemeines "evolutionäres Prinzip" – aber eben auch nichtssagend, wie der Physikdidaktiker Peter Klein aus Hamburg treffend bemerkt. Betrachtet man andererseits jede strukturelle Ordnung schon als Symmetrie, so wird sie banal.

Irgendwo zwischen einer unergiebig engen und einer nichtssagend weiten Auslegung ist also der Symmetriebegriff sinnvoll anzusiedeln, um einen Erkenntnisprozeß zu ermöglichen – einen iterativen im Sinne Karl Poppers, wobei von Stufe zu Stufe eine bessere Wirklichkeitsdarstellung zu erwarten ist.

Das gilt selbstverständlich nur, wenn auch Schritt um Schritt folgenschwere, fehlleitende Irrtümer ausgesondert werden. Leider sind solche auch im vorliegenden Buch zu finden. Für Verzweigungen, heißt es etwa bei Friedrich Cramer, dem emeritierten Direktor am Göttinger Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin, halte die Newtonsche Physik keinen Mechanismus bereit; sie könne nur mit linearen Differentialgleichungen arbeiten. Wer immer diesen Unfug aufgebracht hat (der im Zusammenhang mit dem klassischen Determinismus-Postulat zu abenteuerlichen Spekulationen Anlaß gibt), hat nicht nur dem erklärten Ziel dieses Buches immensen Schaden zugefügt. Die klassische Mechanik liefert nämlich grundsätzlich nichtlineare Bewegungsgleichungen, auch ohne daß man irgendwelche Regelkreise, wie Peter Weibel vom Institut für Neue Medien sie anführt, postulieren müßte. Der Zustand ihrer Systeme ist in aller Regel verzweigungsfähig in Abhängigkeit von der in das System hineingesteckten Energie, allgemeiner von dem "Kontrollparameter" des Stuttgarter Physikers Hermann Haken. Auch in dessen Beitrag zur Synergetik wäre ein offenkundigerer Bezug zur klassischen Physik manchmal wünschenswert.

Räumt man aber diesen lästigen Irrtum aus, der unter dem pompösen Titel "Jenseits der klassischen Naturwissenschaften" daherkommt, so kommt man einer Basis für das gesteckte Ziel erheblich näher. Die von dem in Leipzig und München tätigen Physiker August Föppl (1854 bis 1927) stammende Charakterisierung "Das beständige Geschehen nach festen Regeln in der Natur hat den menschlichen Geist... gelenkt, bis er zu einer Aufnahme eines Abbildes der Außenwelt tauglich wurde" gilt sicherlich auch für beständig wiederkehrende (geometrische) Symmetrien; jedenfalls lohnt der Versuch, unter Einbeziehung der physikalischen Symmetrien nach Erklärungen zu suchen.

Ein derartiges Bestreben, durch ein Höchstmaß an Abstraktion tiefere Erkenntnis zu erlangen, begleitet die Geschichte durchgängig. Man denke etwa an Pierre de Maupertuis (1698 bis 1759), der zu seiner Zeit als Präsident der Preußischen Akademie der Wissenschaften ein Prinzip der kleinsten Wirkung aufstellte, das er – fälschlich – als eine Art Weltformel ansah, oder an die "Prinzipien der Mechanik" von Heinrich Hertz (1857 bis 1894). Dieser postulierte Vorgänge hinter den beobachtbaren Erscheinungen der Materie (vorsichtshalber nur der unbelebten Materie) dergestalt, daß sie sämtlich von einem einfachen Gesetz – dem Galileischen Trägheitsgesetz – regiert würden. Für uns sehe demnach die Welt viel komplizierter aus, als sie ist, weil wir nur einen kleinen Teil als Projektion in die für uns beobachtbare Welt sehen könnten.

Freilich ist diese Art Mechanik für den praktischen Gebrauch wenig geeignet, jedoch schrieb Hermann von Helmholtz (1821 bis 1894) im Vorwort zu Hertzens Arbeit: "Möglicherweise wird dieses Buch in der Zukunft von hohem Wert sein als Leitfaden zur Entdeckung neuer allgemeiner Charaktere der Naturkräfte." Besser kann man wohl auch das Vorhaben einer evolutionären Symmetrietheorie nicht umreißen, und beispielgebend ist die Hertzsche Sorgfalt, voreilige Spekulationen zu vermeiden. Auch in diesem Buch würde es zur Sorgfaltspflicht gehören, etwas deutlich auszusprechen: daß man sich noch im deskriptiven Stadium befindet und eine taugliche Theorie nicht in Sicht ist.

Während Hertzens Philosophie auf einer physikalischen Theorie aufbaut und aus heutiger Sicht eine physikalische Symmetrie postuliert, beschreibt Johannes Keplers (1571 bis 1632) Gesetz der elliptischen Planetenbahnen eine geometrische Symmetrie. Beide Ansätze gleichen sich darin, daß sie den durch unseren Standpunkt getrübten Blick erhellen: Die Planetenbahnen erscheinen uns als so kompliziert, weil wir nur ihre Projektionen auf die Himmelskugel sehen. Als Kepler nach mehr als zwanzigjährigem Ringen sein drittes Gesetz der Planetenbewegung gefunden hatte, schrieb er: "Nachdem jetzt in voller Klarheit diese höchst wunderbare Schau enthüllt wurde, hält mich nichts mehr zurück. Ich überlasse mich heiliger Raserei – verzeiht mir, so freue ich mich." Diese Euphorie kann man mühelos nachempfinden. Aber es verging noch geraume Zeit, bis Isaac Newton (1643 bis 1727) mit seinem Gravitationsgesetz Ursache und Wirkung mit der Klammer einer tragfähigen Theorie verband.

Es ist diese Klammer, die der heutigen Symmetriebetrachtung – bei allem Verständnis für Begeisterung und Euphorie – weithin fehlt. Über den derzeitigen Stand der Forschung schrieb der Karlsruher Physiker Henning Genz in "Symmetrie – Bauplan der Natur" (Piper 1992, Seite 196): "Was fehlt und dringend benötigt wird, ist Verständnis dafür, welche physikalischen Mechanismen welche fraktale Formen im Lauf der Zeit entstehen lassen – die Bewegungsgleichung, nicht nur die formale Konstruktionsvorschrift." Wenn demgegenüber der studierte Tiermediziner, Erfinder, freie Künstler und Schriftsteller Werner Hahn behauptet "Eine holistische, anti-reduktionistische ,Zauberformel' für den Motor der Evolution sämtlicher Naturformen wurde entdeckt" (Seite 263), kann man das in dieser Form wohl nicht ganz ernst nehmen.

Diese Kritik soll nicht als Ablehnung mißverstanden werden; sie soll vielmehr dazu beitragen, daß die Symmetriebegeisterten nicht den Boden unter den Füßen verlieren. Das Vorhaben, Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft und Kunst mit einem Blick über den jeweiligen Tellerrand zu harmonisieren, ist großartig und das Buch schon deswegen lesenswert – kritisch lesenswert.

Und um nochmals die Frage nach dem angesprochenen Leserkreis aufzugreifen: Das Buch ist nicht nur für Fachleute aus den eingangs erwähnten Disziplinen, sondern auch für (genügend mutige) Laien, die sich insbesondere auch von den vielen Beispielen geometrischer Symmetrien in der Natur begeistern lassen werden.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1997, Seite 121
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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