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Experiment Zukunft. Die nanotechnologische Revolution


K. Eric Drexler ist – als Leiter eines einschlägigen Forschungszentrums in Palo Alto (Kalifornien) – der erste hauptberufliche Prophet der Nanotechnologie. In Büchern, Vorlesungsreihen und Konferenzen wirbt er unermüdlich um Aufmerksamkeit für die neue Kunst, Strukturen in der Größenordnung von Nanometern (millionstel Millimetern) zu formen – nach seiner Ansicht bedeutsamer als alle technischen Revolutionen der Vergangenheit.

Sein erster Versuch dieser Art erschien 1986 unter dem Titel "Engines of creation – the coming era of nanotechnology" und krankte sowohl an einem Übermaß an prophetischem Pathos als auch an der unzureichenden Trennung von wissenschaftlicher Realität und Science-fiction. Zumindest letzteres hat sich in seinem neuesten, durch die Mitwirkung seiner Frau Chris Peterson und der Journalistin Gayle Pergamit gemilderten Buch gebessert: Die Science-fiction-Passagen sind im Text eingerückt und als "Szenarien" kenntlich gemacht.

Bereits heute sind nanotechnologische Analyse-Geräte verfügbar: das Rastertunnelmikroskop (scanning tunnel microscope, STM) und das Kraftmikroskop (atomic force microscope, AFM). Mit einer Spitze, die nur ein Atom dick ist, kann man elektronisch (STM) oder mechanisch (AFM) eine Oberfläche abtasten und mit nahezu atomarer Auflösung ihre Struktur analysieren (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1985, Seite 62, und Dezember 1989, Seite 62). Im Jahre 1990 gelang es einer Arbeitsgruppe vom Almaden-Forschungslabor der IBM in San Jose (Kalifornien), 35 Xenon-Atome so präzise nebeneinander auf die Oberfläche eines Nickel-Kristalls zu plazieren, daß man mit Hilfe eines STM den Schriftzug "IBM" lesen konnte – ein erster Schritt von der Analytik zur Synthese (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1990, Seite 36).

Drexlers Vision ist die Weiterentwicklung dieser Nahfeldsonden zu universellen Synthese-Werkzeugen. Mit solchen Nanomaschinen soll es möglich sein, Atome und Moleküle nahezu beliebig zu positionieren und dadurch auch gezielt zu chemischen Reaktionen zu zwingen. Oft ist nämlich die Ausbeute eines konventionellen Verfahrens dadurch begrenzt, daß die Reaktionspartner nur mit geringer Wahrscheinlichkeit in der richtigen Orientierung und mit der nötigen Energie aufeinandertreffen.

Diese neu zu entwickelnden Maschinen nennt Drexler Assembler. Allerdings würde man unvorstellbar viele Assembler benötigen, um – Atom für Atom – nennenswerte Mengen Materie in die gewünschte Form zu bringen. Und wie baut man einen Assembler? Wieder mit einem Assembler. Solche Nanogeräte, die Kopien ihrer selbst herstellen können, bezeichnet Drexler als Replikatoren.

Die Kombination dieser beiden Grundelemente werde, so der Autor, eine technische Revolution auslösen, die größer sei als sämtliche Neuerungen unseres Jahrhunderts zusammen. Drexler liebt es, wie schon in "Engines of creation", in positiven Utopien zu schwelgen, die nur voraussetzen, daß die Nanotechnologie zum Wohle der Menschheit angewandt wird. Demnach könnten zehn Milliarden Menschen auf der Welt in naher Zukunft in unvorstellbarem Reichtum leben. Die fortschrittliche Technik würde die Umweltverschmutzung auf null reduzieren und sogar die Folgen früherer ökologischer Sünden rückgängig machen. Krankheiten vom Schnupfen bis zu Krebs und AIDS könnten durch Nanomaschinen geheilt werden, die im Blut zirkulierend Jagd auf böse Krankheitserreger oder entartete Zellen machen; Weltraumflüge sollen so selbstverständlich werden wie heute der Luftverkehr.

Bis in die letzten Niederungen des Alltags soll die Nanotechnologie vordringen. So kündigt uns Drexler eine Wandfarbe an, die sich dank eingebauter Nanomaschinen selbst auf die vorbestimmten Flächen verteilt, Beschädigungen selbständig repariert, sich auf Abruf wieder ablöst und in die Dose zurückwandert. Keine Frage, daß die Tapeten dieser Ära auf Wunsch das Motiv wechseln und bei Bedarf als Fernsehschirm oder Computermonitor dienen werden.

Diese Szenarien, so erläutern die Autoren im politisch orientierten Schlußteil des Buches, zielen darauf ab, eine breitere Öffentlichkeit von dem positiven Potential der kommenden Technologie zu überzeugen, damit die Entwicklung unter demokratischer Kontrolle und nicht in militärischen Geheimlabors stattfinde.

Ob es denn wirklich so kommen wird und ob manche Szenarien nicht eher das 22. als das 21. Jahrhundert beschreiben, mag dahingestellt bleiben. Drexler schert sich in seiner prophetischen Globalperspektive wenig um Schwierigkeiten im Detail; immerhin bereitet es uns heute noch die größten Schwierigkeiten, bereits existierende Nanomaschinen im Inneren lebender Zellen in ihrer Funktionsweise zu durchschauen. Aber seine Richtungsangabe ist vermutlich richtig. Die Technik wird irgendwann, und sei es erst in hundert Jahren, bis zum molekularen Maßstab vordringen, und das wird erhebliche Umwälzungen zur Folge haben. Darüber sollte man sich lieber jetzt als zu spät Gedanken machen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1995, Seite 123
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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