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Experimenteller Nachvollzug der Forschungsarbeiten von Nicéphore Niépce


Keine der Heliographien Niépces ist erhalten geblieben; die in Bild 2 gezeigte Vorarbeit ist vom endgültigen Stand seiner Erfindung noch weit entfernt. Anscheinend hat seitdem auch niemand das Verfahren wieder praktiziert. Deshalb begann ich 1989 mit eigenen Untersuchungen.

Bei den Recherchen zum Asphaltverfahren stieß ich auf Widersprüche. Französische Bücher über die Geschichte der Photographie behaupten übereinstimmend (und im Gegensatz zu den deutschen), der von Natur aus braune Asphalt bleiche unter der Einwirkung des Lichtes aus, so daß man auf direktem Wege ein Positiv erhalten könne. Dagegen schrieb Niépce in der "Notice sur l'Héliographie": "Auch wenn [die mit Asphalt bedeckte Platte dem Licht] hinlängliche Zeit zur Entwickelung der Wirkung ausgesetzt war, so zeigt doch nichts die wirkliche Existenz derselben an, denn der Eindruck bleibt unbemerkbar." Da aber seiner Korrespondenz keine klare Auskunft zu entnehmen war, entschloß ich mich, das Experiment zu wiederholen.

Die ersten Versuche machte ich mit handelsüblichem Bitumen. In welchen Proportionen sollte es in Lavendelöl aufgelöst werden? Auf den ersten Blick sieht Niépces Rezeptur ganz einfach aus: "Ich fülle ein Glas mit diesem pulverisierten Pech bis zur Hälfte und gieße sodann Tropfen für Tropfen Lavendelöl darauf, bis das Pech nichts mehr einsaugt und nun eben ganz davon durchdrungen ist. Sodann gieße ich noch so viel von diesem ätherischen Öl daran, daß es ungefähr drei Linien [knapp sieben Millimeter] hoch über der Mischung steht, die man alsdann zudeckt und einer mäßigen Wärme aussetzt, bis das noch darauf stehende Öl von dem Färbestoff des Judenpechs gesättigt ist. Wenn dieser Firnis nicht die nötige Konsistenz hat, so läßt man ihn in einer Kapsel an der Luft verdunsten."

Der Asphalt löst sich sehr langsam in Lavendelöl. Erst im Verlaufe eines Tages wurde meine Lösung braun und dickte in den folgenden Tagen allmählich ein. Welche Konsistenz aber ist die richtige, und wie bringt man die zähe Masse auf einen "Ballen von sehr zartem Leder", wie Niépce weiter schrieb?

In einer späteren Schrift erklärte Niépce, daß er den Firnis mit einem Pinsel verstrich. Dem bin ich gefolgt. Danach "legt man die Tafel auf eine heiße Platte, welche mit Papier mehrfach überdeckt ist, dem man dadurch seine Feuchtigkeit vorläufig genommen hat, und wenn der Firnis nicht mehr klebrig ist, so zieht man die Platte zurück, um sie wieder kalt werden und bei einer gemäßigten Temperatur, geschützt vor dem Einfluß der feuchten Luft, vollends trocknen zu lassen." Wie sich zeigte, mißlingt das Verfahren, wenn man nur einen der Parameter Auflösungszeit, verstrichene Menge sowie Temperatur und Zeit der Trocknung ungünstig wählt. Nach zahlreichen Versuchen konnte ich Niépces Anweisungen wie folgt präzisieren: Man löse drei Gramm pulverisierten Asphalt in 15 Millilitern Lavendelöl, verstreiche die Lösung nach vier oder fünf Tagen und trockne die Platte 20 Minuten lang bei 90 Grad Celsius. Der einzige noch variable Parameter ist die Dicke des Lösungsfilms auf der Platte; nach einiger Übung erzielte ich reproduzierbare Ergebnisse.

Weiter auf der Spur Niépces, suchte ich nach den seit langem stillgelegten Asphaltgruben im Département Ain, aus denen er sein Material bezogen hatte. Alte Einheimische wiesen mir den Weg. Ich entnahm einige Kilogramm asphalthaltigen Kalks, aus dem ich den braunen Stoff im Labor extrahierte. Mit Lampen meß- und einstellbarer Lichtstärke konnte ich den Effekt nachweisen, welcher der Heliographie zugrunde liegt: Unter Belichtung ändert sich nicht die Farbe des Asphalts, wohl aber nimmt mit zunehmender Strahlungsintensität die Löslichkeit ab.

Zugleich gewann ich eine Einschätzung der erforderlichen Belichtungszeit. Statt der in der Literatur angegebenen acht Stunden benötigte ich volle fünf Tage, um mit einem Objektiv von der Lichtstärke, die Niépce zur Verfügung gestanden hatte, ein Bild zu erzielen. Kurioserweise hat sich Niépce in keiner seiner erhaltenen Schriften explizit zur Belichtungszeit geäußert. Immerhin erklärte er 1824 seinem Bruder: "Ich habe auf meinem anderen großen Stein... eine neue Aufnahme von Gras angefertigt, und ich habe die Arbeit an zwei kleinen Aufnahmen, auf Glas und auf Stein, von der Ecke des Hinterhofs wieder aufgenommen. Die zwei ersten werden am kommenden Samstag fertig sein, die auf Glas, die ich später angesetzt habe, am Montag abend." Der Brief ist an einem Donnerstag geschrieben, woraus sich eine Belichtungszeit von fünf Tagen erschließen läßt. Niépce beschichtete nicht nur Metall-, sondern auch Glas- und Steinplatten mit seiner Asphaltmischung, letztere, um nach Ätzung direkt Lithographien zu erzielen.

Bereits die ersten meiner Heliographien hatten eine sehr hohe Auflösung und eine außerordentlich gute Abstufung der Grautöne, was im Vergleich zum einzigen erhaltenen Bild Niépces (Bild 2) eine Überraschung war. Außerdem zeigte sich zweifelsfrei, daß das Asphaltbild ein Negativ und nicht, wie früher vermutet, ein Positiv ist. Das erklärt auch, warum Niépce sich so intensiv um eine Umkehrung des Bildes bemühte.

Ein Satz aus der "Notice" schien mir jedoch zunächst nicht zu meinen Befunden zu passen: "Gewiß ist, daß nach dem Abwaschen, vorausgesetzt, daß der Abdruck gut trocken ist, das Resultat schon befriedigend ist." Wie konnte ihn denn ein Negativbild zufriedenstellen? Wieder lieferte ein Experiment die Erklärung: In einem Falle erschien ein Asphaltbild je nach dem Winkel, unter dem man es betrachtete, als Positiv oder auch als Negativ (Bild 3). Diese Aufnahme war unterbelichtet, und der Firnis widerstand auch an den belichteten Stellen dem Lösungsmittel nur unvollkommen; infolgedessen wurde er matt und reflektierte auftreffendes Licht diffus. Nur das völlig blanke Trägermetall spiegelte das Licht aus einer bestimmten Richtung ins Auge des Betrachters; je nach den Beleuchtungsverhältnissen war das heller oder dunkler als das vom Firnis zurückgeworfene Licht, so daß sich entweder ein Negativ oder eben das Positiv ergab, das Niépce so befriedigte.

Der Erfinder hat diesen Effekt offenbar bemerkt und genutzt, wie eine Äußerung von 1824 bestätigt: "Da diese contre-épreuve fast nicht gefärbt ist, kann man den Effekt nur beurteilen, indem man den Stein schräg betrachtet; so wird [der Effekt] durch die Wirkung von Schatten und Reflexion des Lichtes sichtbar." Er fügte hinzu: "Und ich kann dir sagen, mein Freund, der Effekt ist wie Zauberei."

Dank dem experimentellen Nachvollzug vermochte ich auch 1990 bei einem Besuch in Austin (Texas) zu erklären, wie Niépce seine einzig erhaltene Bildplatte gemacht hatte. Die Trägerschicht ist reines, spiegelblankes Zinn, das an der Luft nicht oxidiert (die weißes Zinn genannte Modifikation dieses Metalls). Niépce hat das Asphaltbild nicht weiterbearbeitet; es ist ebenfalls ein Negativ, das unter schrägem Lichteinfall als Positiv erscheint. Damit wurde klar, wie und wann diese Aufnahme entstanden war.

Niépce hatte große Schwierigkeiten gehabt, seine Aufnahmen durch Ätzen mit Säure zu Druckplatten zu machen. Wenn überall auf der Platte noch Firnis verbleibt (und sei er sehr dünn an den maximal belichteten Stellen), ergibt das zwar eine getreue Wiedergabe der Halbtöne, hindert aber das Ätzmittel daran, bis zum Metall vorzudringen. Also versuchte ich, auf Kosten der Bildqualität den Firnis so dünn wie möglich aufzutragen. Tatsächlich wurde dann die Trägerplatte an einer Vielzahl einzelner Punkte angeätzt. Offensichtlich hatte ich so den "sandigen" Effekt reproduziert, den Niépce in der Korrespondenz mit einem Kupferstecher und Drucker erwähnte, als er seine Erfindung, die Photogravur von Strichvorlagen, überarbeitete.

Noch kniffliger war die Aufklärung des Verfahrens von Niépce und Daguerre, bei dem der Destillationsrückstand von Lavendelöl verwendet wird. Daguerre war 1830 auf diese feste Substanz aufmerksam geworden und beschrieb das Herstellungsverfahren im Februar 1830 in einem Brief an Niépce, und zwar in einer Art Geheimcode. Gewisse Wörter sind durch Zahlen ersetzt; der Empfänger hat die Bedeutungen mit Bleistift darüber notiert (hier in Klammern wiedergegeben): "Das ist doch der Durchbruch für die promptitude. Es geschieht genau dasselbe mit der 53 (Destillation) wie mit der 14 (Tag). Was in der 53 (Destillation) nach der 55 (Verdunstung) übrigbleibt, ist durch die 21 (Lösungsmittel) nicht angreifbar. Die Teile, welche die 14 (Tag) empfangen, erleichtert [sic] die 55 (Verdunstung). Was auf der Platte verbleibt, ist ebenso unangreifbar für die 21 (Lösungsmittel). Also scheint die 14 (Tag) so zu wirken wie die 24 (Feuer), was nur beweist, daß in beiden Vorgängen dasselbe Prinzip wirkt."

Selbst nach Auflösung der Geheimzahlen ist der Text nicht gerade erhellend. Daguerres Briefe sind voll von solch kryptischen Sätzen. Dagegen hilft nur eines: das Experiment wiederholen. Bei der Destillation wird das hellgelbe Lavendelöl dunkler, bis es braun ist; als Rückstand bleibt ein schwarzbraunes Teerklümpchen. Hingegen hatte Arago 1839 erklärt, der Rückstand sei ein interessanter Stoff "wegen seiner helleren Farbe". Erst im Experiment klärte sich der Widerspruch: Löst man den Rückstand in Alkohol und verstreicht ihn auf einer Platte, so bildet sich eine weiße Schicht; deren Farbe muß Arago mit der des Rückstands selbst verwechselt haben.

Dessen Farbe wiederum ist gleich der des Asphalts, und das ist der Schlüssel zu Daguerres Bemerkungen. Er sah eine Verwandtschaft zwischen beiden Stoffen: Der Rückstand widersteht Lösungsmitteln für Asphalt; also – meinte Daguerre – befinde er sich in demselben Zustand wie letzterer nach Belichtung, aber statt des Lichtes habe die Hitze bei der Destillation diesen Zustand herbeigeführt. Demnach hätten Licht und Hitze dieselbe Wirkung. (Im codierten Text ist also "Licht" für "Tag" und "Hitze" für "Feuer" zu lesen.)

Für Daguerre muß dieser Schluß einleuchtend gewesen sein, denn Niépce hatte ihm mehrfach Ähnlichkeiten zwischen der Wirkung des Lichts und derjenigen der Wärme aufgezeigt. Daguerre ging sogar so weit zu unterstellen, daß Licht eine Verdunstung verursache. Anscheinend dachte er, daß das, was nach Belichtung und Auswaschung auf der asphaltbeschichteten Platte verblieb, nicht etwa Asphalt, sondern ein durch Licht destillierter Lavendelöl-Rückstand sei. Diesen indessen verwendeten die beiden Gesellschafter zwei Jahre später als Grundlage ihres neuen Verfahrens.

Man weiß inzwischen, daß es sich eher umgekehrt verhält: Durch das Einkochen verwandeln sich die nichtflüchtigen Bestandteile des Lavendelöls in einen Teer, der aus demselben Grunde lichtempfindlich ist wie der Asphalt. Deswegen konnte ich auch verfestigtes Kiefernharz anstelle des Lavendelöls verwenden.

Die Wiederentdeckung des Physautotyp-Verfahrens widerlegt die allgemein publizierte Meinung, daß die Zusammenarbeit zwischen Niépce und Daguerre fruchtlos geblieben sei. Im Gegenteil: Die Vertragspartner erreichten eine stark verkürzte Belichtungszeit und ein Positiv in nur einem Entwicklungsschritt, womit sie ihre beiden Vorsätze von 1829 erfüllt hatten.

Ein weiterer wesentlicher Befund ist, daß die Physautotypen zum Verwechseln den Daguerreotypien gleichen, also jenen Bildern, die Daguerre nach einem 1839 gefundenen Verfahren produzierte – lange nach Niépces Tod, aber zweifellos noch von der Zusammenarbeit inspiriert. Jetzt versteht man, warum ein heftiger Streit zwischen den Erben Nicéphore Niépces und Daguerre ausbrach, als dieser das Verfahren publizierte, das heute seinen (und nur seinen) Namen trägt. Weil die Daguerreotypien genauso aussahen wie die Bilder, die namentlich Isidore Niépce während der Laufzeit des Vertrages gesehen hatte, mußte er sich um das geistige Eigentum seines Vaters geprellt fühlen – nicht gänzlich zu Unrecht, denn bei allen Unterschieden in den Einzelheiten hatte Daguerre in vielem auf die Arbeiten seines Partners zurückgegriffen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1997, Seite 56
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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