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Exzentriker. Über das Vergnügen, anders zu sein.

Aus dem Englischen von Frauke Riese.
Rowohlt, Reinbek 1997.
288 Seiten, DM 38,-.

In Gaststätten, Waschsalons, Supermärkten, Bibliotheken, Universitätsinstituten und anderen Gebäuden der schottischen Hauptstadt tauchten 1984 Karteikarten mit einer Kleinanzeige auf: "Wenn Sie glauben, daß Sie exzentrisch sein könnten, rufen Sie Dr. David Weeks im Royal Edinburgh Hospital an..."

Der Neuropsychologe Weeks hatte bemerkt, daß es keine systematische psychologische Studie über Exzentriker gab, Leute, die nach landläufger Auffassung spinnen, ohne aber irgendwelche psychiatrisch definierten Krankheitssymptome aufzuweisen. Nun suchte er genau solche Menschen, um ihre Besonderheiten wissenschaftlich zu erfassen. Da Exzentriker zu selten sind, als daß er sie durch Befragen aus der regionalen Bevölkerung hätte aussieben können, hoffte Weeks auf freiwillige Selbstmeldungen.

Seine Aktion bekam eine unerwartete Eigendynamik. Ein Journalist sah eines der Kärtchen und berichtete in einer Lokalzeitung über die geplante Studie. Die größte Zeitung Schottlands griff das Thema auf, und alsbald wurde es auch in England vom Rundfunk und von den großen Tageszeitungen verbreitet; schließlich kursierte der Aufruf sogar in die USA. Alles in allem muß er an die 150 Millionen Menschen erreicht haben.

Aus den zunächst mehr als 1000 Anrufern, die sich als Exzentriker bekannten und häufig sogleich von ihren Hobbys berichten wollten ("Ich dachte, Sie würden sich vielleicht für meine umfassende Forschung über die Syntax der Katzensprache interessieren"), mußte Weeks einen gewissen Anteil von Witzbolden und "zu Normalen" aussortieren. Es blieb immerhin eine beachtliche Gruppe von zunächst 789 potentiellen Exzentrikern übrig, deren Zahl mit der weiteren Verbreitung des Aufrufs wieder auf mehr als 1000 anstieg. Aufgrund dieser Anzahlen schätzt Weeks den Anteil der "Vollzeit-Exzentriker" an der Bevölkerung Großbritanniens und der USA auf 1 von 10000 – mit einer Unsicherheit von 50 Prozent wegen der Unwägbarkeiten einer Probennahme durch Selbstanzeige.

Mit all diesen Menschen führte der Wissenschaftler Interviews, untersuchte ihr Persönlichkeitsprofil und testete sie auf mögliche psychische Erkrankungen und psycholinguistische Besonderheiten. Die Ergebnisse, ergänzt durch einige Betrachtungen gut dokumentierter historischer Fälle, hat Weeks – unterstützt von dem Wissenschaftsjournalisten Jamie James – zu dem vorliegenden Buch zusammengefaßt.

Der Charme der 1000 Hauptdarsteller, der in zahlreichen Beispielen und historischen Anekdoten lebendig wird, macht das Werk amüsant von vorne bis hinten. Man lernt Exzentriker aus allen Gesellschaftsschichten kennen und lieben, von der Sammlerin mit 7500 Gartenzwergen bis zu Joshua Norton (1815 bis 1880), dem selbsternannten Kaiser der USA; mancher Leser wird zu seiner Befriedigung berühmte Personen wiederfinden, von denen er immer schon den Verdacht hatte, sie tickten nicht richtig, sei es Albert Einstein oder James Joyce.

Etliche Namen, die in Großbritannien zum allgemeinen Kulturgut gehören, weil man dort den Unterhaltungswert von Exzentrikern schon lange zu schätzen weiß, werden dem deutschen Publikum neu sein. So ist die Kindheit der sechs Mitford-Schwestern, die trotz Zugehörigkeit zu älterem Adel keinerlei Erziehung genossen, legendär, weil Nancy, die älteste, später Werke mit autobiographischem Charakter verfaßte. Sprichwörtlich wurde ihre in "Noblesse oblige" getroffene einfache Unterscheidung zwischen U und non-U, das heißt zwischen upper class und dem Rest der Menschheit, nämlich nach der Artikulation mittels falschen oder echten Gebisses. Unity wurde eine glühende Bewundererin Adolf Hitlers, Diana heiratete den britischen Faschistenführer Sir Oswald Mosley, Jessica aber wurde Mitglied der amerikanischen kommunistischen Partei und war damit in Nancys Augen die exzentrischste von allen. Gene oder Umwelt? Diese Frage beantwortet das Buch nicht.

Ein anderer klassischer britischer Vertreter dieser Menschensorte ist der Oxforder College-Vorsteher Reverend W. A. Spooner (1844 bis 1930; Vorname und Geburtsjahr sind im Buch leider falsch angegeben), dessen Sprach-Tick wir das englische Wort spoonerism für Schüttelreim verdanken.

Die Übersetzung wird dem Werk im allgemeinen gerecht, bis auf diese oder jene – sagen wir: exzentrische – Wortwahl. So verwandeln sich etwa full-time eccentrics auf Seite 198 der deutschen Fassung in "Vollblutexzentriker". Imagination ist zwei Seiten weiter recht phantasielos als Einbildungskraft (statt Phantasie) übersetzt. Warum sich das 198 Seiten schlanke coffee-table book sich bei Rowohlt zu 287 Seiten aufgebläht hat, wird nicht recht klar; am Register kann es nicht liegen, denn das schrumpfte von elf auf vier Seiten. Das sechsseitige Literaturverzeichnis listet außer einschlägigen literarischen Werken und Biographien auch einige psychologische Fachbeiträge auf; eine Auftrennung dieser Kategorien wäre hilfreich gewesen.

Sicherlich ist dieses Buch mehr populär als wissenschaftlich, mehr Werbung für ein bisher vernachlässigtes Thema als endgültige Studie zur Psychologie des exzentrischen Menschen. Man mag Weeks vorwerfen, daß seine Methode systematische Fehler hat, daß etwa extrovertierte Exzentriker überrepräsentiert sind gegenüber solchen, die ihrem Spleen still für sich frönen. Aber er hat erstmals einen Grundstein gelegt und den Begriff Exzentriker, der laut Weeks nur in einem der vier Standardlehrbücher der Psychiatrie zu finden ist und auch in meiner Ausgabe des dtv-Brockhaus fehlt, hinreichend definiert.

Außerdem ergab seine Studie bereits eine ganze Reihe ebenso gesicherter wie einprägsamer Fakten: Exzentriker leben glücklicher, länger und gesünder als regelkonforme Normalbürger. Weeks konnte die heilsame Wirkung der Befreiung von Konventionen, die diesem Befund offenbar zugrunde liegt, bereits erfolgreich bei der Behandlung von Neurotikern nutzen, die im genauen Gegensatz zu den Exzentrikern äußere Zwänge in übertriebener Weise wahrnehmen und beachten. Außerdem sind Exzentriker im Durchschnitt intelligenter und kreativer als der Rest der Bevölkerung.

Weeks fand insgesamt 15 für sie typische Eigenschaften, von denen die ersten fünf – unangepaßt, kreativ, durch Neugier motiviert, idealistisch, besessen von meist fünf bis sechs Hobbys – auf praktisch alle Exzentriker zutreffen. Des weiteren ist charakteristisch, daß sie von Kindheit an sich ihres Andersseins bewußt, intelligent, eigensinnig und freimütig sowie nicht konkurrenzorientiert sind, ungewöhnliche Eß- und Lebensgewohnheiten haben, sich nicht sonderlich für die Ansichten oder die Gesellschaft anderer interessieren, über einen schelmischen Sinn für Humor verfügen, alleinstehend, das älteste oder das einzige Kind sind und die Regeln der Rechtschreibung häufig mißachten. Wenn Sie zehn oder mehr dieser Kriterien erfüllen, sind Sie mit großer Wahrscheinlichkeit exzentrisch.

Auf die Frage, ob er selbst es sei, antwortete Weeks, er wäre stolz darauf, habe jedoch noch nicht genug dafür getan, die Bezeichnung zu verdienen. Seine Studie, die er mit Kreativität, Neugier, Idealismus und Besessenheit vorangetrieben und zum Erfolg geführt hat, sollte man ihm allerdings als Extrapunkt im Exzentrikertest anrechnen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1997, Seite 119
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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