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Finite Elemente in der Automobilentwicklung


Die Entwicklungsabteilungen der Automobilindustrie müssen immer umfangreichere Leistungen in sehr kurzer Zeit und unter erheblichem Kostendruck erbringen. In den letzten Jahren hat sich hierbei die numerische Simulation als unentbehrliches Hilfsmittel etabliert, denn sie liefert die geforderten Aussagen schnell und reproduzierbar, macht Modifikationen und Variantenuntersuchungen einfach und bietet fast unbegrenzte Analysemöglichkeiten. Zudem ist sie in der Regel sehr kostengünstig.

Ihre Bedeutung wird in Zukunft noch weiter zunehmen, denn die Berechnungsmethoden werden immer noch zügig weiterentwickelt, und ein Ende des Preisverfalls für Hardware ist nicht absehbar.

Berechnet werden heute routinemäßig unter anderem Bauteilsteifigkeiten und -festigkeiten, Schwingungen und akustische Eigenschaften, das Crashverhalten, die Aerodynamik, das Fahrverhalten, die Verbrennungsprozesse im Motor, die Wärmeleitung sowie Blechumformvorgänge.

Die folgenden Beispiele für Finite-Elemente-Analysen stammen aus der Karosserieentwicklung bei Mercedes-Benz.


Das links oben abgebildete Rechenmodell der Rohkarosserie des Mercedes SLK wird für Steifigkeitsuntersuchungen eingesetzt, beispielsweise um sicherzustellen, daß sich auch dann alle Türen und Klappen einwandfrei öffnen und schließen lassen, wenn das Fahrzeug auf extrem unebenem Untegrund steht. Es besteht aus ungefähr 107000 Schalenelementen und hat etwa gleich viele Knoten; wie für Verformungsanalysen typisch, sind die Elemente von annähernd gleicher Größe. Weil die üblichen Belastungen nur kleine Geometrieänderungen hervorrufen (geometrische Linearität), das Material im linear elastischen Bereich bleibt (Materiallinearität) und dynamische Effekte keine Rolle spielen (Statik), spricht man von einer linear statischen Analyse. Rechts die berechnete verformte Struktur. Der Deutlichkeit zuliebe sind die lokalen Verschiebungen um den Faktor 30 überhöht dargestellt. Die Einfärbung kennzeichnet ihre Größe (ansteigend von hellblau nach rot).

Für Schwingungs- und Akustikanalysen wird ein anderes Modell verwendet (unten); es besteht aus etwa 105000 Elementen und enthält sämtliche dynamisch relevanten Komponenten des Fahrzeugs wie die Karosserie mit Einbauten, Motor und Triebstrang, die Abgasanlage sowie das Fahrwerk mit der Lenkung und das Pedalwerk.

Beispiel für eine dynamische Simulation ist eine Fahrt über eine schlechte Wegstrecke. Dabei werden die Radaufstandspunkte in unregelmäßiger Weise gehoben und gesenkt (links). Andere untersuchte Anregungen sind Schwingungen von Motor und Triebstrang oder Unwuchten von Rädern und Antriebswellen. Die Simulation liefert als Ergebnis zum Beispiel Beschleunigungen am Lenkrad, die für den Fahrer spürbar sein können, oder – bei einer akustischen Analyse – den nach Frequenzen aufgeschlüsselten Schalldruck am Ohr des Fahrers (rechts).

Die Berechnung eines Aufpralls konfrontiert den Ingenieur mit fast allen Problemen, die eine strukturmechanische Simulation bieten kann. Geometrische Nichtlinearität (große Geometrieänderungen) und Materialnichtlinearität (Fließen, Reißen) sind Teil eines hochdynamischen Vorgangs, bei dem nicht nur Trägheits- und Dämpfungseffekte zu berücksichtigen sind, sondern auch Unstetigkeiten in den Randbedingungen (sich öffnende und schließende Kontakte zwischen Flächen) sowie Gleit- und Reibeffekte

Das oben abgebildete Rechenmodell für die Frontalaufprallsimulation (wieder vom Mercedes SLK) besteht aus ungefähr 84000 Elementen. Im vorderen Bereich, wo die größten Deformationen zu erwarten sind, ist die Diskretisierung im Interesse einer möglichst genauen Abbildung besonders fein. Bereiche, die ohnehin nicht oder kaum verformt werden, kann man zur Verringerung des Rechenaufwands gröber vernetzen.

Ein Höchstleistungsrechner wie die CRAY T90 benötigt für die Simulation eines Frontalaufpralls etwa 10 Stunden Rechenzeit (netto) bei etwa 400 bis 500 Millionen Rechenoperationen pro Sekunde. Dabei wird der gesamte Crashvorgang von etwa einer Zehntelsekunde Dauer in rund 170000 Zeitabschnitte zerlegt. Leistungsfähige Workstations setzen die Berechnungsergebnisse in realitätsnah schattierte Bilder um (rechts: Simulation eines Aufpralls mit 50 Stundenkilometern gegen eine ebene Wand). Bei Bedarf läßt sich auch ein kompletter Film des fiktiven Ereignisses erzeugen, der die Ergebnisinterpretation erheblich erleichtert. Je nach Bedarf kann man dabei beliebige Strukturteile ein- und ausblenden; so gewinnt man Einblicke, die ein Film von einem echten Crash niemals liefern könnte.

Ergebnis einer typischen Seitenaufprallsimulation mit etwa 80000 Schalenelementen. In diesem Falle ist die Seite des Aufpralls besonders fein elementiert. Eine Barriere mit deformierbarem Stoßkopf aus Aluminiumwaben rammt das Fahrzeug seitlich mit einer Geschwindigkeit von 61 Stundenkilometern. Nach 0,07 Sekunden ist der Deformationsvorgang beendet.

Weitere Crash-Berechnungen befassen sich mit anderen Arten des Frontalaufpralls, dem Heckaufprall, dem Überschlag, dem Zusammenstoß zweier Fahrzeuge in unterschiedlichen Konfigurationen sowie Schlittenversuchen zur Entwicklung von Rückhaltesystemen.

Dr. Möller ist Leiter der Abteilung Karosserieberechnung in der PKW-Entwicklung der Mercedes-Benz AG in Sindelfingen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1997, Seite 104
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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