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Gehirn, muskuläre Arbeit und Psyche

Körperliche Tätigkeit verändert die Biochemie des Gehirns. So erhöht sich die Durchblutung bestimmter Regionen, während der Glucose-Stoffwechselzurückgeht. Zudem werden vermehrt körpereigene Opiate gebildet, und auch die Konzentration des Neurotransmitters Serotonin steigt. Beides wirkt sich günstig auf die psychische Verfassung aus.


Zwischen Motorik und Geist existieren enge strukturelle sowie funktionelle Verbindungen. So sind die Befehlszentralen zur willkürlichen Motorik im Gehirn den Zentren der Psyche räumlich benachbart. Beziehungen bestehen aber auch zum Thalamus, zum limbischen System, zu Zentren des Stammhirns und zum Kleinhirn. Dies erklärt den starken Einfluß von Bewegungsaktivität auf Stimmung und Gefühl.

Bis in die achtziger Jahre glaubte man, das Gehirn werde unabhängig von körperlicher Anstrengung immer gleich stark durchblutet. Dann zeigte sich jedoch, daß schon der Gedanke an eine bevorstehende motorische Aktion die Durchblutung in der Großhirnrinde regional steigert. Das gilt erst recht für muskuläre Arbeit selbst. So beobachteten Karl Herholz vom Kölner Max-Planck-Institut für Hirnforschung mit seinen Mitarbeitern sowie einer von uns (Hollmann) bei gesunden männlichen Personen des dritten und vierten Lebensjahrzehnts bereits bei einer Belastungsintensität von 25 Watt am Fahrradergometer (langsames Spaziergangstempo) in acht Sektoren der untersuchten linken Hirnhälfte eine Steigerung um durchschnittlich 15 Prozent. Bei einer Belastung von 100 Watt, was etwa 40 Prozent der maximalen individuellen Leistungsfähigkeit entspricht, erhöhte sich die Durchblutung um durchschnittlich 25 Prozent des Ruhewertes. Stets war dabei die aus Nervenzellen bestehende graue Substanz stärker durchblutet als die weiße (das Stützgewebe). Inzwischen haben S. N. Thomas und seine Mitarbeiter aus einer Kopenhagener Forschungsgruppe diese Befunde bestätigt und sogar Durchblutungszunahmen bis zu 50 Prozent beobachtet.

Im Gegensatz zur dynamischen muskulären Arbeit, die mit einer Bewegung verbunden ist, läßt statische Muskelarbeit, bei der die Muskeln nur angespannt werden, die Hirndurchblutung allerdings nicht ansteigen. Die Ursachen dieses Unterschieds sind noch unbekannt.

Endorphine


Was ist der Sinn einer vermehrten regionalen Gehirndurchblutung bei dynamischer muskulärer Arbeit? Wir stellten die Hypothese auf, daß bei körperlicher Betätigung im Gehirn vermehrt neuronale Botenstoffe wie zum Beispiel Neuropeptide gebildet würden und der verstärkte Blutstrom die Aufgabe habe, sie so schnell wie möglich an periphere Zielorte zu befördern.

Zuerst untersuchten Thomas Arentz und einer von uns (Hollmann) an der Deutschen Sporthochschule in Köln sowie Kenny de Meirleir von der Freien Universität Brüssel Beta-Endorphine, opiumähnliche Substanzen, die seit 1975 bekannt sind und als Neurotransmitter fungieren. Bei Belastungsintensitäten, die so gering waren, daß der arterielle Milchsäurespiegel praktisch konstant blieb, konnten wir keine Veränderungen in der Konzentration dieser endogenen opioiden Peptide beobachten. Wenn die Anstrengung dagegen stark genug war, daß der Milchsäurespiegel deutlich anstieg, oder wenn sie mindestens 45 bis 60 Minuten andauerte, registrierten wir erhöhte Endorphin-Konzentrationen; bei erschöpfender Belastung betrug die Zunahme 300 bis 400 Prozent.

Um einen Hinweis auf die Rolle der endogenen Opiate bei muskulärer Arbeit zu erhalten, forschten Meirleir und seine Mitarbeiter in Doppelblindversuchen nach Auswirkungen einer Opiat-Blockade durch Naloxon – allerdings ohne greifbares Ergebnis: Die maximale Sauerstoffaufnahme als Bruttokriterium der Leistungsfähigkeit von Herz, Kreislauf und Stoffwechsel blieb ebenso unbeeinflußt wie die maximale Herzschlagzahl, die Atmungsfrequenz, die Milchsäure-Ausschüttung und der Blutdruck. Auch hormonale Reaktionen wie die Freisetzung von Prolaktin, Gonadotropin, adrenocorticotropem Hormon (ACTH) sowie Wachstums- und Schilddrüsenhormonen veränderten sich durch die Opiat-Blockade nicht.

Daraufhin konstruierte Arentz eine künstliche Zahnkrone, welche bei den Versuchspersonen einem füllungsfreien Schneidezahn aufgesetzt und über einen elektrischen Kontakt mit der Zahnpulpa, einer der schmerzempfindlichsten Stellen im menschlichen Körper, verbunden wurde. Die Probanden erhielten darüber elektrische Reize und mußten auf Fragebögen ankreuzen, ab welcher Reizintensität sie einen Schmerz spürten und bis zu welcher Schwelle er gerade noch erträglich schien. Dabei zeigte sich, daß die Schmerzschwelle nach erschöpfender Belastung auf dem Fahrradergometer stark erhöht war (Bild auf Seite 27).

In einem nachfolgenden Doppelblindversuch erhielten die Probanden vor der Anstrengung entweder physiologische Kochsalzlösung oder Naloxon injiziert. Unter Einfluß des Opiat-Blockers waren sie selbst nach erschöpfender körperlicher Belastung schmerzempfindlicher als sonst unter Ruhebedingungen. Während die Versuchspersonen nach ausgiebiger muskulärer Arbeit normalerweise über eine signifikante Stimmungsverbesserung berichteten, war die Stimmmung bei Opiat-Blockade äußerst schlecht bis aggressiv.

Offenbar hat die verstärkte Freisetzung von Endorphinen bei muskulärer Arbeit die Aufgabe, dem Menschen schwere körperliche Belastungen zu erleichtern und ihn durch die 70 bis 90 Minuten anhaltende Stimmungsverbesserung danach sogar zum Wiederholen der physischen Betätigung zu ermuntern. Dieser Effekt dürfte auch für das bekannte Phänomen des Runner’s High verantwortlich sein, jenem Wohlbefinden, dem einige Ausdauersportler gewissermaßen bewußt nachlaufen.

Serotonin und Sportentzugserscheinungen


Die angenehm gelöste, positive Stimmung nach sportlichen Belastungen kann aber auch noch andere Ursachen haben. So steigt in der der Insulinspiegel im Blut. Dadurch werden, wie Heiko Strüder in unserem Arbeitskreis nachwies, die meisten der im Blut zirkulierenden Aminosäuren verstärkt von Muskelzellen aufgenommen. Da dies aber nicht für Tryptophan gilt, steigen dessen Chancen, an der Blut-Hirn-Schranke Carriersubstanzen zu finden, ohne die Aminosäuren nicht in den Gehirnraum übertreten können. Der aus dem Tryptophan im Gehirn vermehrt gebildete Neurotransmitter Serotonin hebt dann offenbar über das limbische System die Stimmung.

Ohnehin steigt bei körperlichen Belastungen, die länger als 30 Minuten dauern, der Tryptophanspiegel im Blut, weil die Aminosäure aus Verbindungen freigesetzt wird. Zudem nimmt die Konzentration an Noradrenalin und Dopamin zu, die als wichtige Neurotransmitter im Gehirn ebenfalls die Stimmung positiv beeinflussen können. Von diesen und zahlreichen weiteren, hier nicht aufzuführenden Befunden schließen wir auf eine enge biochemische Verbindung zwischen Gehirnfunktion, Skelettmuskulatur und dem System von Herz, Kreislauf und Atmung.

Seit gut 60 Jahren kennt man Entzugserscheinungen, die auftreten, wenn ein jahre- oder jahrzehntelang an Training gewöhnter Mensch plötzlich jegliche sportliche Betätigung aufgibt. Er leidet dann unter Unruhe, Angstgefühlen, depressiven Verstimmungen, Schlafstörungen, Appetitverlust, labilem Blutdruck und Herzrhythmusstörungen. Erfahrungsgemäß verschwinden die Symptome innerhalb weniger Tage nach Wiederaufnahme eines leichten Ausdauertrainings wieder.

Als Ursache legen unsere Befunde zerebral ausgelöste Störungen in Produktion, Abbau oder rezeptorvermittelter Wirkung von Neurotransmittern und Hormonen nahe. Besonderes kritisch scheint die Konzentration von Serotonin in bestimmten Gehirnbezirken zu sein. Sinkt sie unter den durch langjähriges Training gewohnten Wert, treten Entzugserscheinungen auf; überschreitet sie dagegen für längere Zeit den Optimalwert, kommt es zum sogenannten Übertraining, das außer Leistungsverlust die gleichen Symptome wie beim Entzug mit sich bringt. Inwieweit endogene opioide Peptide dabei ebenfalls eine Rolle spielen, ist noch nicht geklärt.

Stresshormone und Gehirnstoffwechsel


Parallel zum Beta-Endorphinspiegel steigt bei Ausdauerbelastungen auch der Gehalt des Blutes an Cortisol, einem Stresshormon der Nebennierenrinde. Ein erhöhter Cortisolspiegel wirkte sich in Tierversuchen schädlich auf das Gehirn aus; insbesondere schrumpften Neuronen des Hippocampus, der maßgeblich an der Gedächtnisleistung beteiligt ist. Florian Holsboer vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München hält deshalb Störungen der Merkfähigkeit durch täglich stundenlang erhöhte Cortisolwerte im Blut für möglich. Normalerweise blockiert Cortisol die Aktivität des ihm übergeordneten Corticotropin-Releasing-Hormons (CRH), das im Hypothalamus gebildet wird. CRH stimuliert die Produktion von adrenocorticotropem Hormon (ACTH), das seinerseits die Ausschüttung von Cortisol bewirkt. Bei regelmäßiger Belastung dürfte dieser Rückkoppelungsmechanismus gestört und der Organismus auf einen höheren Cortisolspiegel eingestellt werden.

Interessant ist schließlich auch, ob und wie körperliche Belastung den Hirnstoffwechsel beeinflußt. Hans Herzog und seine Mitarbeiter am Medizinischen Zentrum der Forschungsanlage Jülich untersuchten mit der Positronen-Emissions-Tomographie in einzelnen Gehirnabschnitten den Glucoseverbrauch. Wie sich zeigte, nimmt bei Fahrradergometer-Arbeit, die 80 Prozent der maximalen Leistungsfähigkeit abverlangt, der Umsatz an Traubenzucker in den meisten Hirnregionen trotz Durchblutungssteigerung um 10 bis 15 Prozent ab; nur im Okzipitalhirn bleibt er gleich oder erhöht sich sogar etwas. Auf einen verminderten Hirnstoffwechsel bei Belastung deutet auch die globale Abnahme der elektrischen Hirnaktivität.

Der Effekt scheint plausibel; denn bei körperlicher Anstrengung sollte die Glucose vor allem den beanspruchten Muskelzellen zur Verfügung stehen, während das Gehirn nicht vermehrt tätig ist und deshalb keinen erhöhten Energiebedarf hat. Denkbar wäre auch, daß die Hirnneuronen wegen des höheren Angebots an Ketonkörpern und Ammoniak diese Substanzen anstelle von Glucose stärker nutzen, als sie dies normalerweise tun.

Die aufgeführten Befunde und weitere Indizien lassen jedenfalls auf enge biochemische und biophysikalische Verbindungen zwischen Gehirn, Psyche und Körperfunktionen schließen. Körper und Geist des Menschen sind eine Einheit – dem muß besonders die Medizin Rechnung tragen. Eine einseitige Sichtweise ist der Therapie und Rehabilitation ebenso wie der Gesunderhaltung abträglich.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1994, Seite 25
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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