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Azteken: Götterwahn und Menschenopfer

Prächtige Tempelbauten, wüste Opferrituale - der Alltag der Azteken wurde durch ihre Religion bestimmt. Die jüngsten spektakulären Funde, zurzeit in Deutschland ausgestellt, liefern neue Einsichten in eine vergangene fremdartige Kultur.


Eine kleine sumpfige Insel im salzigen Tetzcocosee, die kein anderes Volk im zentralamerikanischen Hochland beanspruchte, wurde Ausgangspunkt ihrer Macht: Von hier aus entwickelten sich die Azteken, die zuvor umherstreiften und gelegentlich Feldbau betrieben, zur jüngsten der indianischen Hochkulturen in Mesoamerika. Der Legende nach wurden sie von ihrem Stammesgott Huitzilopochtli angewiesen, auf der Insel zu siedeln. Jedenfalls gründeten sie hier Anfang des 14. Jahrhunderts ihre Hauptstadt Tenochtitlán, bauten im seichten Wasser des Sees Flöße aus Rohrgeflecht, schichteten Schlamm darauf und ernährten sich von den Erträgen dieser schwimmenden Gärten.

Das straff organisierte und durch strenge militärische Disziplin geprägte Reich der Azteken nahm zahlreiche Merkmale älterer mesoamerikanischer Völker auf. Die Götterwelt, das religiöse Ballspiel und der astronomische Kalender gehen bis auf die von ihnen sehr verehrte Kultur der Olmeken zurück, die ab 1600 v. Chr. für etwa 2000 Jahre die maßgebende Zivilisation Mittelamerikas darstellten.

Das Aztekenreich hingegen sollte nicht einmal 200 Jahre bestehen. Durch kriegerische Expansion sowie Unterdrückung und Ausbeutung besiegter Völker hatten die Azteken ihr Machtgebiet gerade bis an die Küsten des Pazifiks und des Golfs von Mexiko ausgedehnt, als sie mit einem neuen Gegner konfrontiert wurden, dem sie schließlich selbst unterlagen: Binnen zweier Jahre hatte der spanische Eroberer Hernán Cortés (1485- 1547) mit seinen Soldaten und indianischen Hilfstruppen das Reich der Azteken erobert, den König Motecuzoma II. (1502-1520) getötet und die Stadt Tenochtitlán, die damals über 200000 Einwohner aufwies, dem Erdboden gleichgemacht. In der Folgezeit legten die Spanier den See in dem abflusslosen Hochtal trocken und errichteten auf den Überresten der aztekischen Hauptstadt ihre eigene Siedlung. Dort, wo sich einst das Machtzentrum der Azteken befand, erstreckt sich nun die Metropole Mexico City, wie ihr Vorläufer eine der bevölkerungsreichsten Städte der Erde.

Die systematische Zerstörung der Aztekenkultur, die darauf folgende 300-jährige Herrschaft der Spanier, aber auch der Bau der Millionenstadt Mexico City waren geeignet, die merkwürdigste aller Hochkulturen Altamerikas der Vergessenheit anheim fallen zu lassen.

Durch Zufall entdeckt

Anders als im Falle der in Europa weitaus besser bekannten, tausend Kilometer weiter östlich im tropischen Urwald auf der Halbinsel Yucatán gelegenen Kultur der Maya, die wenige Jahrzehnte vor Ankunft der Spanier zerfiel, wurde das Zentrum des aztekischen Imperiums erst spät von der Forschung entdeckt. Nur zufällig stieß man im Jahre 1790 auf dem Hauptplatz von Mexico City bei Bauarbeiten auf zwei aztekische Großskulpturen – unter ihnen ein für die Kosmologie der Azteken bedeutsames, mehrere Tonnen schweres Rundrelief mit einem Durchmesser von 3,60 Metern. Die monumentale Skulptur zeigt die fünf Weltalter der Azteken. Dieser "Sonnenstein", den man auf Grund seines Alters zunächst in das Mauerwerk der ab 1573 errichteten katholischen Kathedrale eingemauert hatte, weckte – als "Kalenderstein" – auch das Interesse des Berliner Gelehrten Alexander von Humboldt (1769-1859), der im Rahmen seiner privat finanzierten, fünfjährigen Weltreise von 1803 bis 1804 in Mexico City weilte.

Vermittelt durch das Amerikabild von Humboldts und anderer Forscher, wuchs im 19. Jahrhundert in Europa das Interesse an den Azteken. Drei Jahre nachdem Mexiko 1821 von Spanien unabhängig geworden war, fand in London sogar die erste Ausstellung über die Azteken statt. Und 1866 wurde in Mexico City auf Initiative des habsburgischen Kaisers Maximilian das Historische und Archäologische Museum eröffnet. Eduard Georg Seler (1849-1922), der maßgeblich an der Entzifferung der Schrift der Azteken beteiligt war, begründete in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Berlin dann die Mexikanistik als neues Forschungsgebiet.

Das "Venedig der westlichen Welt"

Doch wenngleich der spektakuläre Fund von 1790 den Beginn der mexikanischen Archäologie markierte, währte es fast noch einmal 200 Jahre, bis ein ähnlicher Zufall im Februar 1978 eine monumentale runde Steinplatte von drei Meter Durchmesser zu Tage brachte; dargestellt ist die Zerstückelung der Mondgöttin Coyolxauhqui – der Schwester und Gegenspielerin des aztekischen Hauptgottes Huitzilopochtli. Der Fund löste die größte Grabungskampagne im Zentrum von Mexico City aus: das "Templo-Mayor-Projekt". Die Erforschung des bedeutendsten des vermutlich mehr als fünfzig Gebäude umfassenden Tempelbereichs in der Mitte von Tenochtitlán dauert aktuell noch an. Sogar ein aus denkmalpflegerischer Sicht erhaltenswertes Stadtviertel der Kolonialzeit östlich der Kathedrale wurde zu diesem Zweck abgetragen.

Unter der gigantischen Kirche selbst vermuten Wissenschaftler die Reste von mindestens elf aztekischen Tempeln, nachdem man in den 1990er Jahren bei Bohrungen zur Stabilisierung des Gebäudes im Inneren auf zahlreiche Mauerreste gestoßen war. Insgesamt 78 Bauwerke soll es nach Aussage des Franziskanermönches Bernardino de Sahagún (1494-1590) einst im heiligen Bezirk von Tenochtitlán gegeben haben. Als das "Venedig der westlichen Welt" wurde die Hauptstadt des Aztekenreiches auf Grund der exponierten Lage im Tetzcocosee sowie ihres immensen Reichtums genannt. Die nach der Mitte des 16. Jahrhunderts von de Sahagún verfasste "Allgemeine Geschichte der Dinge in Neu-Spanien" dient den internationalen Forschern am Templo Mayor als Anhaltspunkt. Rund 43 Bauwerke konnten inzwischen – zum Teil nur zwei Meter unter dem heutigen Bodenniveau – archäologisch nachgewiesen werden.

Am Templo Mayor, wo bei der Erforschung der Fundamente Sondierungen in bis zu 18 Meter Tiefe vorgenommen wurden, lassen sich heute sieben Bauphasen unterscheiden – von der Errichtung des Tempels im Jahre 1325 bis zu seiner Zerstörung durch die Spanier, die Teile des Gebäudes einfach sprengten. Zur Zeit von Phase VII (um 1502) maß die Grundfläche des dem Regen- und Wassergott Tlaloc sowie dem Sonnen- und Kriegsgott Huitzilopochtli geweihten pyramidenförmigen Doppeltempels 82 mal 82 Quadratmeter. Die oberste Terrasse des Templo Mayor in 45 Meter Höhe war Ort der rituellen Opferung von Menschen. Spuren dieser blutigen Handlungen, die in den Kodizes der Spanier und indigenen Bevölkerung vielfach Erwähnung fanden, konnten die Archäologen in den Trümmern des Bauwerks ebenfalls nachweisen.

Die Bedeutung des Templo-Mayor-Projekts ist in der Tatsache begründet, dass dieses einst farbig bemalte Gebäude im Zentrum von Tenochtitlán der Vorstellung der Azteken zufolge Mittelpunkt des Kosmos war. Von Tenochtitlán aus führten vier Dämme (Straßen) über den Tetzcocosee in die vier Weltgegenden des aztekischen Kosmos. Bezogen auf die drei Bereiche der Welt, welche die Kultur der Azteken kannte, war die Erde Schnittpunkt der 13 Himmelsebenen mit den neun Stufen der Unterwelt.

Im Lichte des Mythos des siegreichen Kampfes zwischen dem Sonnengott Huitzilopochtli und der mächtigen Mondgöttin Coyolxauhqui werden die Befunde von den Ausgrabungen am Templo Mayor verständlich. Der komplexe, 500 Meter lange heilige Platz in Tenochtitlán mit seinen vielen Architekturen kann, wie der langjährige Leiter des Templo-Mayor-Projekts, Eduardo Matos Moctezuma, unlängst überzeugend aufzeigte, als Umsetzung eben dieses Mythos in Stein verstanden werden.

Die Funde am Templo Mayor liefern aber auch Erkenntnisse über die Beziehungen der Azteken zu ihren Nachbarn, mit denen sie ein kompliziertes Bündnis- und Tributsystem verband, sowie über ihr Verhältnis zur Vergangenheit. Die Architektur des nördlich des Templo Mayor gelegenen, so genannten Hauses der Adler etwa – hier waren 1994 zwei farbig bemalte Tonstatuen des Totengottes Mictlantecuhtli entdeckt worden – verweist präzise auf toltekische Säulenhallen, das Bild- und Ornamentprogramm auf die Tolteken-Stadt Tollán, rund achtzig Kilometer von Mexico City entfernt. Und die Verwendung von Bauteilen aus anderen Bauten oder die Nutzung verlassener Kultplätze durch Azteken deuten darauf hin, dass diesen – wie anderen mesoamerikanischen Kulturen vor ihnen – die Architektur der Vorfahren heilig war.

Bemerkenswert ist, dass die aztekische Kultur weder das Rad noch die Töpferscheibe kannte. Die Metallverarbeitung beherrschten sie erst spät. Selbst ohne das von den Maya entwickelte Kraggewölbe musste ihre Architektur auskommen; Werkzeuge und Waffen wurden aus Stein gefertigt. Trotz dieser Einschränkungen konnten sie Tenochtitlán zu riesiger Größe ausweiten, den Templo Mayor errichten, die Hauptstadt über ein Aquädukt mit Trinkwasser versorgen und ihre schwimmenden Gärten durch einen Damm vor weiterer Versalzung schützen.

Termin

Die Ausstellung "Azteken" ist noch bis zum 10.08.2003 im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin, zu sehen; danach vom 19.09.2003 bis 11.01.2004 in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundes­republik Deutschland, Friedrich-Ebert-Allee 4, 53113 Bonn.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2003, Seite 76
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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