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Hirschhausens Hirnschmalz: Einmal ausbluten, bitte …

Eine neue Studie zeigt, warum der Aderlass einstmals so populär werden konnte – und weshalb wir auch heute vor magischem Denken in der Medizin nicht gefeit sind.
Eckart von Hirschhausen

Noch vor 250 Jahren hat man Ertrunkenen ein Tabak­klistier verabreicht. Auf gut Deutsch: Ärzte pumpten Menschen, deren Lunge voll Wasser war, mit einem Blasebalg starken Nikotinrauch in den Po. Durch die Reizung des Darms wollten sie die Wiederbelebung in Gang setzen. Tabak kam aus Amerika, galt als heilsam und fortschrittlich. So wurden die Blasebälge zum Erste-Hilfe-Equipment für Schiffbrüchige und verunglückte Badegäste. Eine Art Defibrillator der Aufklärung.

Warum gehen Sie Blut spenden?

  1. A) Ich mache es für mich.
  2. B) Ich mache es für andere.
  3. C) Ich mache es wegen dem Geld.
  4. D) Ich mache es wegen dem Dativ.

Noch schräger als diese einfach nur unwirksame ­Methode erscheint uns heute eine definitiv schädliche: der Aderlass. Der antiken Säftelehre folgend, hielten es Ärzte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts für heilsam, Kranken literweise Blut abzuzapfen. Zu den zahlreichen Todesopfern dieser Behandlung zählt etwa George Wa­shington. Anthropologen aus der Schweiz und Frankreich untersuchten nun, wie der Aderlass so populär werden konnte. Sie fanden heraus, dass ähnliche Praktiken nicht nur in Europa verbreitet ­waren, sondern unabhängig voneinander an vielen Orten der Erde entstanden. "Wer heilt, hat Recht" kann diesen Erfolg nicht erklären. Was machte den Aderlass also so attraktiv?

Die Forscher baten Versuchspersonen, eine Heilungs­geschichte in einer von vier Varianten zu lesen und sie anschließend weiterzuerzählen. Siehe da, eine so dras­tische Symbolhandlung zum Ausleiten böser Kräfte, ausgeführt von einem "Fachmann", ist einfach eine gute Story. Die Probanden konnten sich viel besser daran erinnern als etwa an die Variante, in der ein mit Pflanzen herbeigeführtes Erbrechen zum Erfolg führte. Letzteres ist zwar auch eklig – was die Faszina­tion bekanntlich steigert –, bedient aber unsere Denkmuster offenbar nicht so passgenau wie das Aufschlitzen an der Stelle, wo man "schlechtes Blut" vermutet. Im Aderlass steckt zudem eine Opfergabe, und die Idee, dass Krankheit etwas mit Schuld und Sühne zu tun haben muss, ist ja weit verbreitet. Bis heute ­schildern Borderline-Patienten, die sich ritzen, eine seltsame Form der Befriedigung und "Reinigung" durch Schmerz und Blutopfer.

Magisches Denken kann also erklären, warum eine schädliche Therapie rund um die Welt praktiziert wurde und wird. Die zivilisierte Form des Aderlasses ist ­allerdings tatsächlich gesundheitsförderlich: das Blutspenden. Zumindest bei jungen Männern, die zu viel Eisen im Körper haben. Es steckt in den roten Blutkörperchen und hemmt das Immunsystem. Frauen dagegen essen weniger Fleisch als Männer und haben durch die Menstruation einen natürlichen Weg gefunden, Eisen loszuwerden, sie leiden also eher an Eisenmangel.

Die Geschichte der Medizin ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Über vieles, was hoch angesehene Doktoren in der Vergangenheit verabreicht haben, kann man sich heute nur wundern. Von der Gegenwart schweige ich mal. Und in der Zukunft wird man sich wegen manchem, was wir derzeit für den letzten Schrei halten, genauso ungläubig an den Kopf fassen. Nach dieser Studie bin ich jedenfalls sehr viel vorsichtiger mit alternativen Heilverfahren, die keine Wirksamkeit belegen können, aber stolz sind auf Tradition und Universalität. "Hat man immer schon so gemacht" ist kein Argument. Genauso wenig wie: "sogar schon mal in Amerika beim Präsidenten!"

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