Direkt zum Inhalt

Winters' Nachschlag: Hitlisten und Blutrache

Zu zweit ist man seltener allein, in guten wie in schlechten Zeiten.
Erstgeborene übernehmen oft Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister, schreibt Jürg Frick in seinem Artikel ab S. 24. Bei meinem zwei Jahre älteren Bruder und mir verhielt es sich allerdings nicht immer so. Ein grausames Schicksal in Gestalt der allgemeinen Schulpflicht hatte meinen Bruder jäh aus unserer bis dahin geradezu symbiotischen Beziehung ("Mama, wir müssen ganz dringend aufs Klo!") gerissen. Das Schlimmste daran: Für unsere geliebten, penibelst geführten Listen, in denen wir notierten, wie oft welcher Song an einem Tag im Radio lief, war ich nun ganz allein zuständig – obwohl ich doch noch kein einziges Wort lesen konnte!

Ich musste mir also merken, welches Gekrakel meines Bruders "Über sieben Brücken musst du gehn" und welches "Mendocino" bedeutete, und dann jeweils ein Kreuzchen an der richtigen Stelle machen. Er wiederum versuchte nach besten Kräften, innerhalb eines Schuljahrs gleich zweimal sitzen zu bleiben, damit wir dann wieder in einer Klasse vereint sein würden. Und nachmittags plagte sich mein Bruder damit, mich durch intensives Einzelcoaching zur vorzeitigen Schulreife zu bringen. Das scheiterte jedoch kläglich – ich verstand einfach nicht, warum 7 plus 7 nicht 77 ergeben sollte.

Leider wurde mein Bruder bereits nach wenigen Schultagen zum Mobbing-Opfer. Er litt unter den Drangsalierungen zweier Mitschüler, die ihn auf dem Nachhauseweg regelmäßig und völlig grundlos aufzogen und sogar glaubhaft die Anwendung körperlicher Gewalt in Aussicht stellten. Als er mir davon erzählte, zögerte ich keine Sekunde und bot ihm bereitwillig an, die beiden Unholde "zusammenzuschlagen".

Meine Furchtlosigkeit gründete zum einen in einer umfassenden Unkenntnis dessen, was "zusammenschlagen" genau bedeutet und wie man so etwas überhaupt macht, zum anderen aber auch in der Kraft der Verzweiflung. Meinem Bruder durfte schließlich nichts zustoßen – denn wer, bitte schön, sollte dann in Zukunft entscheiden, welches Fußballerbildchen auf welche Seite des Albums geklebt wird?

Am nächsten Tag (dreimal "I did what I did for Maria" und zweimal "Lucille") ging ich kampfbereit hinter der Haustür in Stellung. Sollte die Drohung "Mein kleiner Bruder schlägt euch zusammen!" nicht gewirkt haben, würden sie hier und heute ihre verdiente Abreibung bekommen! Schon von Weitem hörte ich, dass die Abschreckungstaktik tatsächlich fehlgeschlagen war – der Spottgesang der beiden Raufbolde begleitete meinen Bruder bis vor unser Haus.

Wild entschlossen riss ich die Tür auf und sah mich zwei rohen -Gestalten gegenüber, die etwa doppelt so groß waren wie ich. Ihnen war anzusehen, dass sie mit mir nicht gerechnet hatten. Offenbar war es ein geschickter Schachzug meinerseits gewesen, für diesen Showdown meinen heiß geliebten Cowboyhut aufzusetzen. "Wenn ihr nicht weggeht, schlage ich euch zusammen", sagte ich betont ruhig, während mein Bruder in den Flur huschte. Ich folgte ihm und verriegelte hinter uns die Tür.

Ein paar Sekunden lang geschah nichts, dann erhob sich draußen ein ungeheures Gelächter. Nichtsdestotrotz: Vielleicht hatte ihnen ja mein tollkühner Auftritt ein wenig Respekt abgenötigt oder sie waren doch etwas über meine Drohung beunruhigt – was auch immer der Grund gewesen sein mag, die beiden Radaubrüder haben ihn von diesem Tag an jedenfalls nie wieder belästigt.

Und was haben mein Bruder und ich nach dieser Konfrontation gemacht? Dasselbe wie jeden Tag: Wir gingen in unser Zimmer und besprachen die Schlagerliste. Es ist doch einfach schön, wenn man Geschwister hat!

Kennen Sie schon …

Spektrum Kompakt – Abenteuer Familie

Miteinander leben und gemeinsam aufwachsen: Der Familienalltag bedeutet ein intimes Miteinander, das in guter Erinnerung bleiben will. Denn das Netzwerk aus Eltern und Geschwistern flicht Verbindungen solcher Art, die auch Jahre später noch prägend sein werden - ob positiv oder negativ.

Spektrum - Die Woche – Die Kinder, denen die Nazis die Identität raubten

Kinder mit »gutem Blut« hatten im Nationalsozialismus keine Wahl: wer sich nicht eindeutschen lassen wollte, wurde zurückgelassen oder getötet. In der aktuellen Ausgabe der »Woche« beleuchten wir das Schicksal zehntausender verschleppter Kinder, die nie von ihrer wahren Herkunft erfahren haben.

Spektrum - Die Woche – Das große Schmelzen

Die Alpengletscher sind extrem geschrumpft, die Schule fängt zu früh an, und ein neues Rezept soll für perfekte Seifenblasen sorgen. Was man aus Wissenschaft und Forschung nicht verpasst haben sollte, lesen Sie ab sofort in »Spektrum – Die Woche«.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.