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Kapazitätsverluste und Neuanfänge an ostdeutschen Universitäten

Erst allmählich wird deutlich, welche langfristigen negativen Folgen das Verfahren der deutschen Vereinigung auch für die Universitäten mit sich gebracht hat. Der Glaube, Selbstheilungskräfte könnten die ministeriellen Hilfen ergänzen, ist dennoch ungebrochen.

Der Ort war gut gewählt: In Frankfurt an der Oder diskutierten Wissenschaftler und Politiker am 8. und 9. Oktober über "Abbrüche und Neuanfänge" in der ostdeutschen Wissenschaft beim Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. In der Grenzstadt zu Polen gehört der Abbruch zur Historie: Schon 1811 wurde die damals mehr als 300 Jahre alte Universität "Viadrina" nach Breslau verlegt. Der Neuanfang wurde 180 Jahre danach mit einer "Europa-Universität" versucht.

Kritiker bezweifeln jedoch, ob das kleine Land Brandenburg mit weniger als drei Millionen Einwohnern seine 1991 gegründeten drei neuen Universitäten tragen kann. Die Technische Universität Cottbus und die Universität Potsdam können auf unmittelbare Vorläufer-Hochschulen (für Bauwesen und für Pädagogik) aufbauen. Für die Viadrina dagegen wurde gemäß der Grenzlage der Stadt ein gänzlich neues Konzept entwickelt: Sie soll zur kulturellen Zusammenarbeit zwischen West- und Osteuropa beitragen. Unter den 462 Studierenden des ersten Semesters (Sommer 1993) waren denn auch 162 polnischer Nationalität. Schwerpunkte dieser Hochschule sind Wirtschafts-, Rechts- und Kulturwissenschaft – Bereiche, die in Ostdeutschland besonders stark unter den Folgen der DDR-Vergangenheit und des Einigungsprozesses gelitten haben.

In Frankfurt an der Oder war jetzt nichts abbruchgefährdet, weil gar nichts mehr vorhanden war. Der Neuanfang unter dem Zeichen Europa ist darum nicht belastet und kann ein Signal für die anderen ostdeutschen Universitäten setzen. Das machte auch der Gründungsrektor der Viadrina, der Bochumer Völkerrechtler Knut Ipsen, auf der Jahrestagung der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) in Frankfurt deutlich. Ipsen ist zugleich Vorsitzender des Beirats dieser interdisziplinär arbeitenden unabhängigen Organisation von rund 400 Wissenschaftlern, die 1959 im Zusammenhang mit der Erklärung der "Göttinger 18" zur Atombewaffnung gegründet worden war.

Elitenwechsel in den Geisteswissenschaften

Detaillierter zum Tagungsthema, ob bei der deutschen Vereinigung Chancen in der Wissenschaft vertan worden seien, äußerte sich Helga Schultz, Geschichts-Professorin an der Viadrina: In den Geisteswissenschaften werde nur etwa ein Zehntel der Lehrstühle mit ostdeutschen Wissenschaftlern neu besetzt, allerdings auch mit solchen, denen dies in der DDR-Zeit aus politischen Gründen versagt war. Die Älteren befänden sich jetzt im (Vor-)Ruhestand, darunter zwar wohl alle politisch Belasteten; doch auch aus der mittleren Generation hätten viele nach Abwicklung und Entlassung kaum noch eine Chance im Beruf.

Der Elitenwechsel, ein in der deutschen Wissenschaftsgeschichte einmaliger Vorgang, sei mithin vollzogen. Die Abbrüche sieht die Historikerin in vier Ebenen:

- Die Geisteswissenschaften waren in der DDR als "eine Funktion des Politischen" strukturiert, im wesentlichen auf die aktuelle Lehrerbildung konzentriert und darum völlig unkompatibel mit dem System der alten Bundesrepublik.

- Das Niveau der wissenschaftlichen Arbeit sei nach dezidiert marxistischen Anfängen mit respektablen Ergebnissen auch in den letzten Jahren der DDR nicht ausschließlich "steril und provinziell" gewesen; in den Geisteswissenschaften seien auch weit zurückreichende Traditionen bewahrt und fortgeschrieben worden, und in manchen Bereichen hätten sich durchaus innovative Forschergruppen gebildet. An differenzierterer Betrachtung habe es freilich in der Bundesrepublik nach wie vor dem Beitritt der DDR vielfach gemangelt.

- Das im Westen verbreitete "manichäische und moralisierende Schema von Opfern und Tätern und Mitläufern" beschreibe auch diesen Bereich der DDR-Wirklichkeit nicht angemessen und sei für die Betroffenen kränkend.

- Den Pakt zwischen Wissenschaft und Politik in der DDR habe wiederum die Mehrheit der Geisteswissenschaftler bis zum Schluß nicht wirklich aufgekündigt – Ursache einer dann traumatischen historischen Erfahrung.

Wenigstens "Funken" marxistischer Ansätze in den Geisteswissenschaften, so Helga Schultz, könnten gerettet werden. Indes seien Abbrüche ebendort notwendig gewesen, "soweit sie sich auf die politische, geistige und institutionelle Verfaßtheit von Wissenschaft beziehen"; nur müßten sie Neuanfänge ermöglichen, die allen nicht schwer belasteten Wissenschaftlern offenstehen.


Forscher und Ingenieure fehlen

Wie bescheiden die realen Neuanfänge sind, zeigt eine Analyse, die Hansgünter Meyer von der Forschungsgruppe Wissenschaftsstatistik des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) auf der VDW-Tagung vorgelegt hat. Als Resultat der "Vereinigungsverluste an Wissenschaft" fehlen in Gesamtdeutschland rund 70000 Forscher und Ingenieure: Vor dem 3. Oktober 1990 waren es 325000, und zwar mit 4050 pro Million Wohnbevölkerung etwas mehr als in Japan mit 3920 und in den USA mit 3680; gegenwärtig sind es nur noch 255000, mit 3230 pro Million Einwohner erheblich weniger als in den beiden Vergleichsländern. Die 35000 in den ostdeutschen Ländern Tätigen sind lediglich 25 Prozent des Forschungs- und Entwicklungspotentials der DDR, vor allem wegen des beängstigenden Rückgangs der Industrieforschung. Aber auch an den Universitäten ist nur noch die Hälfte der früheren Zahl an Wissenschaftler-Stellen besetzt. Ein solches immerhin noch großes, doch unterkritisches Forschungspotential könnte nach Meyer bleibende Strukturschwächen und große Verluste auf dem Weltmarkt zur Folge haben.

Für die Hochschulen der fünf ostdeutschen Bundesländer hat Meyer einen Zahlenvergleich mit der Ausstattung des Bundeslandes Hessen angestellt, dessen Ergebnis bestürzt (Bild 1). Demnach verspricht auch die Zukunftsplanung keine Verbesserung.

Eine große Lücke besteht beim akademischen Mittelbau (Bild 2), von dem seit 1989 nicht weniger als 58,2 Prozent verlorengingen. Es hätte, so Meyer, keine Schwierigkeiten gemacht, die Universitäten in Ostdeutschland in das föderative Prinzip einzugliedern und bestimmte Stärken zu nutzen. Sie wären "nicht zu klein..., sondern gerade klein genug, um ihre elitäre Funktion, ihre Exzellenz, ihre relative Exklusivität vernünftig auszuprägen". Die Abbrüche habe es vor allem deshalb gegeben, "weil Transformation und Evolution zu teuer waren".


Mangel an Koordination bei der Umgestaltung

Ein bei der Tagung Anfang Oktober schriftlich vorgelegter Bericht ergänzte diese Analyse: Der Wissenschaftsrat habe sein Ziel, "eine neue gesamtdeutsche Wissenschaftswelt zu formen", nicht erreicht, meint Hans-Joachim Bieber, der bei diesem Gremium arbeitet.

Er bestätigte damit die Kritik des früheren Ratsvorsitzenden Dieter Simon (siehe meinen Beitrag "Kollegs – neue Chancen für die Hochschulforschung", Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1993, Seite 114). Die Koordinationskommission des Rates, welche die Empfehlungen für die Hochschulen und die außeruniversitären Forschungseinrichtungen aufeinander abstimmen sollte, ist nie zusammengetreten. Statt dessen, konstatiert Bieber, seien westdeutsche Strukturen einfach übertragen worden (vergleiche auch "Deutsche Wissenschaftspolitik im Übergang" von Andreas Stucke, Spektrum der Wissenschaft, November 1993, Seite 88). Hier war etwas im Ansatz falsch.

Bieber verwies auf Simons früheres Urteil über die westdeutschen Universitäten, sie seien "im Kern verrottet". Deshalb fragten manche ostdeutschen Wissenschaftler und Bildungspolitiker "verwundert, warum man den neuen Ländern ein Hochschulsystem beschert und wie selbstverständlich als dem der DDR überlegen dargestellt habe, das offenbar selbst hochgradig reparaturbedürftig ist".

An den ostdeutschen Hochschulen habe man die Veränderungen weitgehend als Fremdbestimmung erlebt. Freilich hätte eine hochschulautonome Entwicklung innere Erneuerung, personellen Wechsel in Leitungspositionen und den Aufbau einer funktionierenden Selbstverwaltung vorausgesetzt, was zumindest in der entscheidenden Umbruchphase nur an einzelnen Hochschulen und Fakultäten stattfand. Außer den von Bieber als nicht ausschlaggebend bezeichneten Beharrungstendenzen und Expansionsinteressen der etablierten westdeutschen Wissenschaftsorganisationen sei es vor allem der Zeitmangel gewesen, der das Etablieren eines neuen Systems verhinderte.

Auch Bieber weist darauf hin, daß vor allem der Mittelbau an den Universitäten drastisch vermindert wurde – und das vielfach mit individuell "fürchterlichen Folgen", denn: "Die Reinigungsaktionen wurden teilweise wie eine Art nachgeholte Revolution veranstaltet und nahmen Züge von Selbstzerstörung an, ohne in der Sache immer sonderlich zu überzeugen."

Für die Zukunft sieht Bieber allerdings nicht ganz so schwarz. Dort, wo an ostdeutschen Hochschulen die Personalstruktur neu aufgebaut oder grundlegend saniert werde, sei in absehbarer Zeit eine bessere Ausstattung als an westdeutschen zu erwarten. Die noch bestehende günstige Relation von Studenten und Hochschullehrern könnte dabei helfen; und Vorteile des stärker praxisorientierten Studiums wie auch Erfahrungen mit größeren Fernstudienangeboten könnten genutzt werden. Schließlich – das führt wieder zurück zur Viadrina – sollten die Kontakte nach Osteuropa ausgebaut werden. Zusätzlich zu den vom Bundesforschungsministerium geförderten Innovationskollegs sind also in den ostdeutschen Universitäten durchaus Möglichkeiten vorhanden, aus eigener Kraft und in Selbstbestimmung Innovationen zu verwirklichen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1994, Seite 115
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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