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Kleine Kulturgeschichte des Alkohols

Unsere heutige zwiespältige Einstellung zum Alkohol ist relativ neu. Jahrtausendelang standen seine Vorzüge im Vordergrund. Oft waren Wein oder Bier sogar das tägliche Hauptgetränk.


Nicht nur Menschen, auch einfache chemische Stoffe können verschiedene, sogar gegensätzliche Seiten in sich vereinen. In unserer Zeit zählt dazu in besonderem Maße der wesent-liche Inhaltsstoff alkoholischer Getränke: Ethylalkohol oder Ethanol. Oft wird Alkohol verteufelt, und trotzdem darf er bei keiner festlichen Tafel fehlen; in Maßen genossen, fördert er die Gesundheit, doch birgt er auch viele Risiken.

Es mag deshalb überraschen, daß dem Alkohol in früheren Zeiten eine völlig andere Bedeutung zukam, zumindest in der westlichen Zivilisation. Leichtere alkoholische Getränke wie Bier, Wein und Met stellen Menschen seit Jahrtausenden her, wohl mindestens seit der Zeit der Sumerer im 7. vorchristlichen Jahrtausend (hochprozentige Destillate allerdings erst etwa seit tausend Jahren). Lange, sogar noch bis in die jüngere Vergangenheit, mag man damit oft selbstverständlich den Durst gestillt haben. Sie waren gleichzeitig Nahrungsmittel – wegen des hohen Kaloriengehalts – und vor allem wohl die hauptsächliche Flüssigkeitsquelle, unverzichtbar in einer Welt mit oft verunreinigten Wasservorräten.

Wie eng – für uns heute unvorstellbar – diese Beziehung zum Alkohol tatsächlich allgemein war, vermitteln historische Quellen, so auch Verlautbarungen des preußischen Königs Friedrichs des Großen (1685 bis 1786), als die Kaffeeimporte in den späten siebziger und achziger Jahren seine wirtschaftlichen Bestrebungen zu untergraben drohten: Es wäre "abscheulich" zu beobachten, daß die Untertanen immer mehr Kaffee tränken und das Land dadurch enorm viel Geld verlöre. Der König, ebenso wie seine Vorfahren und Offiziere, wären "Höchst Selbst in Dero Jugend mit Bier-Suppe erzogen" worden, "mithin können die Leute dorten so gut mit Bier-Suppe erzogen werden, das ist viel gesünder, wie der Caffee". Soldaten, die mit Bier ernährt worden seien, hätten viele Schlachten geschlagen und gewonnen; ob Kaffee trinkende Soldaten verläßlich genug wären, die Strapazen eines Krieges durchzustehen, sei hingegen fraglich.

Heute würde ein Staatsmann und militärischer Führer bei solchen Äußerungen schlicht für verrückt erklärt. Doch noch vor 200 Jahren konnte ein mächtiger Politiker ohne weiteres Bier mit Muttermilch vergleichen. Und in gewisser Weise war es das in der Alten Welt wohl auch – ebenso wie andere Alkoholika – von Beginn unserer Zivilisation an.





Der Ursprung alkoholischer Getränke


Seit es überhaupt zucker- und stärkehaltige Früchte und Samen gibt, existieren in der Natur sicherlich auch vergorene Nahrungsmittel. Dafür sorgen Hefepilze, die aus Zucker (der zugleich Baustein von pflanzlicher Stärke ist) Energie gewinnen und dabei als Nebenprodukt Ethanol bilden. Zwar mögen manche Geschichten und Berichte über besoffene Tiere erfunden sein – doch immerhin verfügt der Mensch über ein Gen für ein Enzym, das Alkohol im ersten Schritt abbauen hilft: die Alkohol-Dehydrogenase. Daß sich ein solcher Stoffwechselweg ausgebildet hat, spricht dafür, daß bereits unsere tierischen Vorfahren oft genug mit alkoholhaltigem Futter in Berührung kamen.

Auch für den Menschen war der Konsum des Rauschmittels bis vor vielleicht 10000 Jahren ein wohl eher zufälliges Vergnügen. Irgendwann in der Jungsteinzeit aber mag ein Leckermaul an einem Gefäß mit Honig genascht haben, das länger in der Sonne gestanden hatte. Der Inhalt hatte in der Wärme zu gären begonnen, und weil die Wirkung des Alkohols angenehm und belustigend war, könnte der Entdecker probiert haben, wieder Honig in die Sonne zu stellen. Sicherlich kamen ihm andere bald auf die Schliche, oder er zeigte ihnen sogar stolz, wie sich aus Honig, Datteln oder Sirup Met machen läßt, an dem man sich wunderbar berauschen kann.

Die Erfindung von Bier mußte warten, bis der Mensch Getreide anzubauen und zu züchten verstand, denn es wird aus den stärkehaltigen Körnern gewonnen, von denen man größere Mengen braucht. Die fruchtbaren Flußdeltas von Mesopotamien und Ägypten lieferten reiche Ernten an Weizen und Gerste, der Hauptnahrung für Bauern, Arbeiter und Soldaten. Wohl zwangsläufig ist Getreidebrei gelegentlich vergoren: Ägypter und Babylonier tranken vor dem dritten Jahrtausend vor Christus Gersten- und Weizenbier.

Auch die Weinkultur basiert auf Erfolgen der Landwirtschaft. Der Saft der meisten Wildfrüchte, auch der von Weintrauben, enthält für eine natürliche Gärung nicht genug Zucker. Als der Mensch nun Obstkulturen anlegte und dabei möglichst wohlschmeckende, süße Früchte züchtete, domestizierte er auch wilden Wein. Soweit die Quellen erkennen lassen, fand der erste gezielte Anbau um 6000 vor Christus im Gebiet des heutigen Armeniens statt.





Vom Sinn des Trinkens


Durch den Ackerbau gab es Nahrungsmittelüberschüsse und dadurch wiederum einen Bevölkerungszuwachs. Auch konnten die Menschen nun in viel größeren Siedlungen, selbst Städten, dicht beieinander leben. Dadurch kam aber die ständige Sorge um sauberes Trinkwasser auf, die seitdem wohl jede größere Gemeinde kennt.

Bis ins 19. Jahrhundert hinein blieb dies ein weitgehend ungelöstes Problem, auch in Mitteleuropa und Nordamerika. Wo immer viele Menschen zusammenlebten, war das vorhandene Wasser durch Abfälle aller Art – insbesondere Fäkalien – und durch Tiere bald verschmutzt und schlimmstenfalls verseucht. Wir werden nie erfahren, wie groß in der Vergangenheit die Zahl derer war, die nur deswegen starben, weil sie ihren Durst mit Wasser stillten. Sie dürfte aber recht groß gewesen sein, wenn man an heutige Epidemien etwa von Ruhr oder Cholera denkt.

Gleiche Gefahren drohten Seefahrern – einer der Gründe, weswegen Ozeanüberquerungen so spät erst stattfanden. Der Portugiese Christoph Kolumbus (1451 bis 1506), der als erster die Welt umrunden wollte und 1492 nach drei Monaten endlich in Mittelamerika an Land ging, hatte eine Ladung Wein an Bord. Im Jahre 1620 landeten die Pilgerväter, die ersten puritanischen Kolonisten in Neuengland, nur deswegen am Plymouth Rock, weil ihnen das Bier ausgegangen war. In der Frühzeit der nordamerikanischen Kolonien setzte man alles daran, Braumeister ins Land zu locken.

Weder in der Bibel noch in den antiken griechischen Epen wird Wasser als Getränk genannt, mit Ausnahme allerdings von Quellwasser aus den Bergen. Der griechische Arzt Hippokrates (um 460 bis um 370 vor Christus) betont ausdrücklich die Unbedenklichkeit von Wasser, wenn es aus Quellen oder tiefen Brunnen komme; sicher sei auch Regenwasser, das in Zisternen gesammelt werde. Demnach hatte man damals aus schmerzlichen Erfahrungen gelernt, daß die meisten Wasservorräte nicht zum Trinken geeignet waren.

Unter solchen Bedingungen war Ethylalkohol vielleicht im übertragenen Sinne tatsächlich die Muttermilch, durch welche unsere Zivilisation überhaupt erst gedieh: Wein wie Bier (das mit Wasser gebraut wird) waren frei von gefährlichen Keimen; außerdem konnte man verschmutztes Trinkwasser damit aufbereiten, weil nicht nur der Alkohol darin, sondern auch die natürlichen Säuren vie-le Erreger abtöteten. Seit die alkoholische Gärung gezielt genutzt werden konnte, war nicht Wasser der übliche Durstlöscher für Jung und Alt; vielmehr nahmen – dies kann man nicht genug betonen – in allen Epochen unserer Vergangenheit Bier und Wein seine Stelle ein (Bild 2).

Dazu zwei Beispiele: Auf mehr als 6000 Jahre alten babylonischen Tontafeln stehen illustrierte Rezepte zur Bierherstellung. Das griechische Wort akratizomai bedeutet "frühstücken", wörtlich aber "unverdünnten Wein trinken". Es scheint einmal Brauch gewesen zu sein, das morgendliche Brot in Wein zu tunken, wie auch die alte Formel "Brot und Bier" keinen Anklang an Ausschweifungen hatte, sondern schlicht das Notwendige benannte, ähnlich wie wir heute von "Brot und Butter" sprechen.

Anders als die Alte Welt gingen weiter östliche asiatische Kulturen schon früh einen anderen Weg. Mindestens seit 2000 Jahren gibt es dort die Tradition, das Wasser zum Trinken abzukochen, gewöhnlich um Tee zu bereiten. So wurden vielerlei nichtalkoholische Getränke erfunden. Dabei dürfte ein genetischer Zusammenhang von Bedeutung gewesen sein: Rund der Hälfte aller Asiaten fehlt ein bestimmtes Enzym für den vollständigen Abbau von Alkohol (den zweiten Abbauschritt); den Betreffenden wird schon nach dem Konsum kleinerer Mengen schlecht, weil ein giftiges Zwischenprodukt (Aldehyd) nicht umgesetzt werden kann. Nur im Abendland hielt man, wie gesagt, bis noch vor 100 Jahren an Wein und Bier als Alltagsgetränken fest.



Geschmacksache


Die alten Verfahren des Weinkelterns und Bierbrauens lieferten Getränke mit – verglichen mit heute – recht geringem Alkoholgehalt; außerdem waren reichlich organische Säuren, beispielsweise Essigsäure, enthalten, die bei der Gärung entstanden. Vermutlich dürften die meisten Weine der vergangenen Jahrtausende nach heutigem Geschmack wohl eher an Essig oder allenfalls an Apfelwein erinnert haben.

Wegen des vergleichsweise niedrigen Gehalts an Alkohol stand weder dessen Giftigkeit noch seine Wirkung als Droge im Vordergrund. Es ging den Konsumenten eher um die Erfrischung und Stärkung mit einem angenehmen Durstlöscher, der nicht leicht verdarb. Die "Nebenwirkung" muß trotzdem allgegenwärtig gewesen sein (Bild 3). Ein leichter Rausch war denn auch wohl jahrtausendelang der Normalzustand.

Auch den Nährwert alkoholischer Getränke sollte man nicht unterschätzen, denn schon wegen ihrer guten Haltbarkeit halfen sie mit ihrem hohen Kaloriengehalt zweifellos, karge Zeiten zu überbrücken. Außerdem enthielten sie reichlich Vitamine und Mineralien.

Sicherlich ließ sich mit Alkohol auch der oft harte, eintönige Alltag besser ertragen. Aber noch wichtiger dürfte die schmerzlindernde Wirkung gewesen sein; denn gewöhnlich waren Bier oder Wein bis vor 100 Jahren die einzigen Analgetika. Schon in den Sprüchen Salomons im Alten Testament steht zu lesen: "Gebt starkes Getränk denen, die am Umkommen sind, und Wein den betrübten Seelen, daß sie trinken und ihres Elends vergessen und ihres Unglücks nicht mehr gedenken" (31, Vers 6 bis 7).

Eine Keilschrifttafel der Sumerer aus der Zeit um 2100 vor Christus mit einem Arzneimittelverzeichnis wird meist als älteste erhaltene Quelle zur medizinischen Anwendung von Alkohol angesehen, doch ägyptische Papyri ähnlichen Inhalts könnten noch früher entstanden sein. Für Hippokrates war Wein ein Mittel gegen einen Großteil der seinerzeit bekannten akuten und chronischen Leiden. Ebenso lobte die Schule von Alexandria seinen medizinischen Wert.

Trotz des im Vergleich zu heute viel geringeren Alkoholgehalts von Bier und Wein waren die Menschen sich auch in alten Zeiten der Gefahren des Trinkens durchaus bewußt. Schon von früh an wurde im hebräischen, griechischen und römischen Kulturkreis immer wieder zu Mäßigung gemahnt. Im Alten Testament wird Trunkenheit an vielen Stellen getadelt. Der Prophet Esra und seine Nachfolger banden Wein in das tägliche jüdische Ritual ein; vielleicht wollten sie so Ausschweifungen vorbeugen – eine religiös begründete kontrollierte Form der Prohibition.

Das Neue Testament sanktioniert offenbar den Alkoholgenuß; denn Jesus verwandelte Wasser in Wein, womit vielleicht auch auf dessen hygienische Vorzüge angespielt werden sollte. Die Apostel einschließlich Paulus suchten zwar Regeln für einen kontrollierten Konsum aufzustellen, predigten aber niemals völlige Abstinenz. Diese moderate Haltung findet sich auch bei den frühen Kirchenvätern. Wein galt ihnen als Gottesgabe, weil er heilte, beruhigte, Schmerzen linderte und Sorgen und Ängste milderte.

Lange war Bier das Getränk der einfachen Leute, während Wein den begüterten Schichten vorbehalten blieb. Weil aber Trauben mehr Profit brachten als Getreide, boomte der Rebenanbau in römischer Zeit – bis das Produkt nach hundertjähriger Expansion um 30 vor Christus fast umsonst und damit für jedermann zu haben war. Mit dem Untergang des Römischen Reiches endete jedoch diese Weinbaukultur; die Tradition wurde von der katholischen Kirche und ihren Klöstern übernommen, den einzigen Institutionen mit ausreichenden Mitteln dafür. Fast 1300 Jahre lang unterhielt die Kirche die größten und besten Weingüter und machte damit beträchtlichen Gewinn.

Während des gesamten Mittelalters war Getreide das Grundnahrungsmittel und Bier das gemeine Getränk der Bauern; höchstens hatten sie noch selbstgebrauten Honig- oder Obstwein, vielleicht auch einmal Rebensaft aus Eigenanbau.

Sofern überhaupt mahnende Stimmen gegen alkoholische Getränke laut wurden, konnten sie sich nach wie vor mangels sicherer Alternativen nicht durchsetzen. Während 4000 Jahren haben politische, religiöse und gesellschaftliche Umwälzungen in den westlichen Ländern die Einstellung zum Alkohol erstaunlich wenig verändert. Doch dann wandelte sich durch eine technologische Neuerung sein Image.





Hochprozentiges


Schnaps war rund 9000 Jahre lang unbekannt gewesen. Die natürliche Vergärung stößt nämlich selbst bei hohem Zuckergehalt der Ausgangssubstanz an eine Grenze, weil die Hefepilze höchstens 16 Volumenprozent Alkohol vertragen. Um das Jahr 700 aber erfanden arabische Alchimisten die Destillation. Sie machten sich zunutze, daß Ethanol bei tieferer Temperatur siedet als Wasser, deswegen eher verdampft und sich beim Abkühlen des Dampfes zuerst wieder verflüssigt. (Aus dem arabischen kuhl, der Essenz von Stoffen, wurde im spanischen Umfeld al-kuhúl und alcohol, zunächst noch als alcohol vini im Sinne von "Essenz des Weines".) Nach Europa kam die Destillierkunst – um das Jahr 1100 – über die berühmte und einflußreiche medizinische Schule von Salerno (Italien). Sie bildete eine wichtige Drehscheibe für den Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse auf den Feldern der Medizin und Alchimie vom orientalischen in den abendländischen Raum. Im 13. Jahrhundert kam für hochprozentigen Alkohol die Bezeichnung Aqua vitae, lateinisch für "Wasser des Lebens" auf; in den Jahrhunderten davor hieß das Destillat dagegen aqua ardens, "brennendes Wasser". Der Straßburger Arzt Hieronymus Brunswig (Brun-schwig, um 1450 bis 1512/13) schrieb über das Destillieren zwei verbreitete Werke, die vor allem auch Anweisungen zum Auszug von Arzneien aus Pflanzen enthielten: einen kleinen Ratgeber für Laien ("Liber de arte distillandi de simplicibus. Das buch der rechten kunst zu distilieren die eintzige ding"), der im Jahr 1500 erschien, und einen 1512 erstmals aufgelegten großen ("Liber de arte Distillandi de Compositis. Das buch der waren kunst zu distillieren die Composita", Bild 4).

In jener Zeit hatte sich das Janusgesicht von Branntwein und anderen Spirituosen jedoch längst offenbart. Hochprozentige Alkoholika verbreiteten sich im Gefolge der großen Seuchen des 14. Jahrhunderts, insbesondere der Pestepidemie von 1347 bis 1352, die schätzungsweise 25 Millionen Opfer forderte. Die Menschen klammerten sich an die scharfen Getränke, die zwar als Gegenmedizin völlig wirkungslos waren, doch den Betroffenen wenigstens psychisch guttaten. Unter diesen Umständen ist verständlich, daß die Ärzte auf die schmerzstillende und gemütsaufhellende Wirkung von Alkohol schworen, während sie machtlos zusehen mußten, wie der Schwarze Tod in einer einzigen Generation schätzungsweise ein Drittel der Bevölkerung Europas dahinraffte.

Nach dem Ende der Pest förderte der europaweite wirtschaftliche Aufschwung den Konsum von Spirituosen. Eine zunehmende Urbanisierung ging einher mit einer beispiellosen luxuriösen Lebensführung. Nachdem die Schrecken der Vergangenheit überstanden waren, griffen im Gegenzug Prunk- und Genußsucht um sich. Man könnte fast sagen, ganz Europa gab sich einem Saufgelage hin, das bis Anfang des 17. Jahrhunderts dauerte, den schwerwiegenden Auswirkungen solcher Exzesse und allen Mahnungen und Anordnungen der Obrigkeit zum Trotz. Dann wurden allerdings Kakao, Kaffee und schwarzer Tee als Stimulantien populär. Sie konnten alkoholischen Getränken den Rang als Nahrungsmittel streitig machen, weil sie mit kochendem Wasser zubereitet wurden und dadurch hygienisch unbedenklich waren.

Im 18. Jahrhundert entstand mancherorts im westlichen Kulturkreis eine religiös begründete Abneigung gegen Alkohol, die insbesondere Quäker und Methodisten schürten, am stärksten in Großbritannien. Die Bewegung fand aber selbst dort wenig Widerhall in der allgemeinen Bevölkerung; schließlich war beispielsweise das aus der Themse geholte Wasser nach wie vor ein Infektionsherd höchsten Grades für Krankheiten wie Ruhr, Cholera und Typhus, die mit verschmutztem Trinkwasser übertragen werden und ähnlich verheerende Seuchen auslösen können wie die Pest, was sie in Europa bis Ende des 19. Jahrhunderts auch immer wieder taten. (Man denke an die Cholera-Epidemie des Sommers 1892 in Hamburg, wo das Trinkwasser ungefiltert aus der Elbe bezogen wurde, in die Fäkalien direkt einflossen. Von den 17000 Erkrankten starb fast die Hälfte.)

Erst nach der Entdeckung der Mikroorganismen im letzten Jahrhundert als Verursacher vieler Krankheiten begann man Wasser zu filtern und von Keimen zu reinigen, so daß es endlich zum sicheren Lebensmittel wurde. Für die totale Abkehr eines nennenswerten Anteils der Bevölkerung vom Alkohol, die nun einsetzte, gab es aber einen weiteren Grund: Man hatte erkannt, daß Alkohol Abhängigkeit verursacht und daß dies eine Krankheit ist.





Alkoholismus als Krankheit


Dadurch, daß im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Naturwissenschaften verstärkt Eingang in das medizinische Denken und die ärztliche Praxis fanden, wurde es möglich, Krankheitssymptome in neuer Weise Kategorien zuzuordnen und somit wissenschaftlich faßbare Krankheiten zu beschreiben. Chronischer Alkoholmißbrauch zählte zu den ersten Gebrechen, die in dieser Weise gesehen wurden. Die ersten wesentlichen Beiträge über Alkoholismus lieferten zwei Medizin-Absolventen der Edinburger Schule: der Brite Thomas Trotter und Benjamin Rush, der als Nordamerikaner, wie damals üblich, in Europa Medizin studiert hatte. Wenngleich der methodistische Einfluß ihre Untersuchungen mitbestimmt haben mag, waren diese doch medizinisch fundiert und machten deutlich, daß Alkoholsucht ein lebensbedrohliches chronisches Leiden ist.

Trotter stellte 1813 in einem Essay über Trunkenheit den Alkoholmißbrauch als Krankheit dar. Er erkannte, daß bei Gewohnheitstrinkern, die über längere Zeit regelmäßig Schnaps konsumieren, die Leber Schaden nimmt und Gelbsucht, Auszehrung und geistige Störungen auftreten – Symptome, die selbst in nüchternem Zustand bestehen bleiben. In Amerika veröffentlichte Rush Arbeiten ähnlichen Inhalts (Bild 5). Da er dort prominent war – so hatte er die amerikanische Unabhängigkeitserklärung mit unterzeichnet – stieß er auf mehr Resonanz. Nicht zuletzt auf seine Bekanntheit und sein hohes Ansehen geht die Temperenzbewegung (Bild 6) zurück, die schließlich in den Vereinigten Staaten in die Prohibition mündete: Bereits um 1900 sprachen mehrere der Staaten ein totales Alkoholverbot aus; zwischen 1919/20 und 1933 galt es für die gesamten USA; weder Herstellung noch Vertrieb oder Konsum alkoholischer Getränke waren gestattet.

Weitere medizinische Studien präzisierten schon im 19. Jahrhundert immer mehr das klinische Bild des Alkoholismus und seiner gesundheitlichen Auswirkungen. Heute gilt die Krankheit als eine der bedeutendsten überhaupt. Deutschland verzeichnet im Jahr rund 40000 Alkoholtote. In den USA sind es um die 100000; damit ist Alkoholkonsum in Nordamerika die dritthäufigste vermeidbare Todesursache – nach dem Rauchen und den Folgen von falscher Ernährung und Bewegungsmangel. Die genaue Zahl der Alkoholabhängigen läßt sich schwer schätzen; für Deutschland nennt die Statistik 2,5 Millionen. Man vermutet, daß 14 bis 20 Millionen heute lebende US-Einwohner (also an die 10 Prozent der Bevölkerung) Leben und Gesundheit durch Alkohol ruiniert haben.

Aber nicht nur die Süchtigen allein kommen zu Schaden. Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten dürfte zu 40 Prozent durch ein trinkendes Familienmitglied direkte Berührung mit dem Problem gehabt haben. Dort werden jährlich etwa 12000 schwer alkoholgeschädigte Kinder geboren, die körperlich und geistig für ihr Leben gezeichnet sind, weil die Mutter Trinkerin war; hinzu kommen viele weitere mit nicht ganz so schweren Defekten. Bisher gibt es gegen Alkoholismus leider keine Idealtherapie. Die einzige wirklich wirksame medizinische Maßnahme ist nach wie vor die völlige Abstinenz. Wie bei jeder Krankheit, ob individueller Natur oder gesellschaftlichen Ursprungs, bildet eine treffende Diagnose die Basis einer erfolgreichen Behandlung. Mit den Wirkungen von Spirituosen muß der Zivilisationsmensch sich erst seit relativ kurzer Zeit auseinandersetzen. Nachdem die auf sie zurückgehende Krankheit jetzt erkannt und auch anerkannt ist, suchen alle Seiten nach Gegenmitteln, seien es Pharmaka oder Verhaltenstherapien. Die wachsenden Erkenntnisse über die physiologischen Hintergründe des Alkoholmißbrauchs sowie anderer Suchtformen sollten dabei eine große Hilfe sein.

Jede Zeit hat ihr Weltbild – dafür ist Alkohol ein besonders gutes Beispiel. Geistige Getränke dienen uns heute zum Abschalten und zum Fröhlichsein, können uns auf der anderen Seite aber auch vernichten. Obwohl es nicht leicht fallen mag, zu akzeptieren, daß sie unsere Zivilisation entscheidend mitgeprägt haben, gilt: Den Exzessen vermögen wir – wie ein guter Arzt einer Krankheit – nur zu begegnen, wenn wir auch die Entstehungsgeschichte würdigen.

Literaturhinweise

– Alkohol – Konsum und Mißbrauch. Alkoholismus – Therapie und Hilfe. Herausgegeben von: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren. Lambertus, Freiburg 1996.
– Die Macht der Trunkenheit. Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland. Von Hasso Spode. Leske und Buderich, Leverkusen 1996.
– Gifte in Natur und Umwelt. Pestizide und Schwermetalle, Arzneimittel und Drogen. Von Otfried Strubelt. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, Berlin, Oxford 1996.
– Toward a Molecular Basis of Alcohol Use and Abuse. Herausgegeben Von B. Jansson, H. Jörnvall, U. Rydberg, L. Terenius und B. L. Vallee. Birkhäuser, Basel 1994.
– The Alcohol Dehydrogenase System. Von H. Jörnvall, O. Danielsson, B. Hjelmquist, B. Persson und J. Shafquat in: Advances in Experimental Medicine and Biology, Band 372, Seiten 281 bis 294, 1995.
– Kudzu Root: An Ancient Chinese Source of Modern Antidipsotropic Agents. Von W. M. Keung und B. L. Vallee in: Phytochemistry, Band 47, Heft 4, Seiten 499 bis 506, Februar 1998.
– Patients with Alcohol Problems. Von P. G. O'Connor und R. S. Schottenfeld in: New England Journal of Medicine, Band 338, Heft 9, Seiten 592 bis 602, 26. Februar 1998


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1998, Seite 62
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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