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Wissenschaftstrends: Komplexität in der Krise

In aller Welt sind Forscher auf der Suche nach einer einheitlichen Theorie hochstrukturierter Systeme – vom menschlichen Gehirn über die Wirtschaft bis zu Computernetzen. Doch die anfängliche Euphorie ist einer gewissen Ernüchterung gewichen.

Als Mekka der Komplexitätsforschung hat sich das kleine Santa-Fe-Institut in New Mexico – mit sechs festangestellten Wissenschaftlern und 50 externen Fakultätsmitgliedern – im Jahrzehnt seit seiner Gründung hohes Ansehen erworben. Hier lassen renommierte Gelehrte den klassischen, als langweilig empfundenen Reduktionismus gänzlich hinter sich – die systematisch-begründende Rückführung komplexer Therorien, Wirklichkeitsbereiche oder der gesamten Realität auf elementare Begriffe und Prinzipien; hier streben sie nach einer neuen, vereinheitlichten Sichtweise der unbelebten Natur, des Lebens, des menschlichen Sozialverhaltens, letztlich des ganzen Universums. Doch nun machen sich sogar einige Gründungsmitglieder Sorgen über die Kluft zwischen diesem hohen Anspruch und dem tatsächlich Erreichten.

Zu ihnen gehört Jack D. Cowan, der sich an der Universität Chicago mit mathematischer Biologie beschäftigt. Cowan ist gewiß kein puritanischer Wissenschaftler alten Stils: Er hat die neurochemischen Prozesse erforscht, die den von der Droge LSD hervorgerufenen bizarren visuellen Mustern zugrunde liegen. Außerdem war er einer der Promotoren des Instituts, gehört dessen Vorstand noch immer an und findet manches dort interessant und wichtig.

Aber er beklagt die "Tendenz zur Computerhackerei" und attestiert manchen Theoretikern "ein zu hohes Verhältnis von Mundwerk zu Gehirn", wie er sich ausdrückt. Viele Simulationsforscher wiederum leiden nach seiner Meinung an einer Art Ähnlichkeits-Syndrom: "Sie sagen, 'Schau nur, wie das einem biologischen oder physikalischen Phänomen ähnelt!' Sie tun so, als hätten sie damit schon ein brauchbares Modell für das Phänomen, aber meist hat es nur zufällig ein paar passende Eigenschaften." In Cowans Augen ist die bisher wichtigste Entdeckung des Santa-Fe-Instituts (SFI), daß komplexe Systeme sich nur sehr schwer erforschen lassen.

Doch andere Mitglieder erheben den ehrgeizigen Anspruch, man könne durchaus eine "vereinheitlichte Theorie" komplexer Systeme entwickeln. John H. Holland, ein sowohl an der Universität von Michigan in Ann Arbor als auch am SFI tätiger Computerwissenschaftler, hat diese kühne Vision in einem Vortrag so formuliert: "Viele unserer größten langfristigen Probleme – Handelsbilanzen, nachhaltige Nutzung der Lebensgrundlagen, AIDS, Erbkrankheiten, geistige Gesundheit, Computerviren – betreffen Systeme von außergewöhnlicher Komplexität: Wirtschaft, Umwelt, Immunsysteme, Embryonen, Nervensysteme, Datennetzwerke. Diese Systeme sind auf den ersten Blick so verschiedenartig wie ihre Probleme. Trotzdem haben sie derart wichtige Gemeinsamkeiten, daß wir sie am Santa-Fe-Institut unter dem Oberbegriff komplexe adaptive Systeme (CAS) zusammenfassen. Das ist mehr als bloße Terminologie. Es drückt unsere Intuition aus, daß es allgemeine Prinzipien gibt, die das Verhalten aller CAS steuern und zugleich einen Weg weisen, die damit verbundenen Probleme zu lösen." Dabei gilt Holland noch als einer der eher gemäßigten Komplexologen (siehe "Genetische Algorithmen" von John H. Holland, Spektrum der Wissenschaft, September 1992, Seite 44).

Zweifel am Rande des Chaos

Einige Forscher sind gleichwohl mittlerweile vom Ziel einer vereinheitlichten Theorie abgerückt. "Ich weiß nicht einmal, was damit gemeint ist," sagt Melanie Mitchell, eine frühere Schülerin Hollands, die nun dem SFI angehört. "Ganz abstrakt kann man sagen, alle komplexen Systeme seien Aspekte derselben zugrundeliegenden Prinzipien, aber für sehr nützlich halte ich das nicht." Ohne diese Vision der Vereinheitlichung verliert das Santa-Fe-Institut freilich viel von seinem attraktiven Glanz; es wird einfach ein weiterer Ort, an dem Forscher Computer und andere Werkzeuge nutzen, um offene Fragen ihrer jeweiligen Disziplin anzugehen. Aber tun das nicht alle Wissenschaftler?

Kenner der Geschichte anderer vermeintlicher Vereinheitlichungstheorien geben ihren Kollegen in Santa Fe wenig Chancen (siehe Kasten auf Seite 62). Einer der Zweifler ist Wirtschafts-Nobelpreisträger Herbert A. Simon von der Carnegie-Mellon-Universität in Pittsburgh (Pennsylvania), der auch auf Gebieten wie künstlicher Intelligenz und Soziobiologie geforscht hat. "Den meisten Leuten, die über diese großen Theorien reden, hat die Mathematik den Kopf verdreht," sagt er. "Ich glaube, die Idee der Vereinheitlichung wird bald Bankrott machen." Der gleichen Meinung ist Rolf Landauer von IBM, der sein Leben lang die Verbindungen zwischen Physik, Berechenbarkeit und Information erforscht hat. Er beschuldigt die Komplexologen, nach einem "magischen Kriterium" zu suchen, mit dessen Hilfe sich all die unübersichtlichen Verwicklungen der Natur auflösen sollen, das es aber ebensowenig gebe wie den Stein der Weisen.

Die Probleme der Komplexität beginnen mit dem Begriff selbst. Die Komplexologen haben sich bemüht, ihr Feld von einer eng verwandten wissenschaftlichen Moderichtung abzugrenzen, der Chaos-Forschung. Als der erste Wirbel sich gelegt hatte, blieb als Chaos eine eng umschriebene Gruppe von Phänomenen übrig, die sich zwar nach präzisen Gesetzen, aber in unvorhersagbarer Weise entwickeln (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1987, Seite 78). Man hat verschiedene Versuche unternommen, Komplexität ähnlich genau zu definieren, und verspricht sich dabei besonders viel vom sogenannten Rand des Chaos. Die Grundidee ist, daß aus hochgradig geordneten und stabilen Systemen – etwa Kristallen – nichts wirklich Neues entstehen könne. Andererseits sind völlig chaotische Systeme, wie turbulente Flüssigkeiten oder heiße Gase, wiederum allzu formlos. Wahrhaft komplexe Dinge – Amöben, Aktienhändler und dergleichen – treten demnach stets an der Grenze zwischen starrer Ordnung und totalem Zufall auf.

Die meisten populären Darstellungen schreiben diese Idee Christopher Langton und seinem Mitarbeiter Norman H. Packard zu (von dem der Ausdruck stammt). Aus Experimenten mit zellulären Automaten schlossen sie, daß die Rechenkapazität eines Systems – seine Fähigkeit, Information zu speichern und zu verarbeiten – in einem schmalen Bereich zwischen periodischem und chaotischem Verhalten ein scharfes Maximum erreiche (Bild 2). Doch zwei andere SFI-Forscher, James P. Crutchfield und Melanie Mitchell, konnten die Ergebnisse von Packard und Langton nicht bestätigen. Sie stellen außerdem in Frage, ob "eine Art Drang zu universeller Rechenfähigkeit bei der Evolution biologischer Organismen als treibende Kraft" wirke. Melanie Mitchell beklagt, daß die Verfechter der Idee vom Rand des Chaos als Reaktion auf diese Kritik auswichen, indem sie stets aufs neue ihre Definition änderten.

Nach einer Liste, die der Physiker und SFI-Mitarbeiter Seth Lloyd vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge vor einigen Jahren zusammengestellt hat, gibt es mindestens 31 Definitionen für Komplexität. Die meisten enthalten Begriffe wie Entropie, Zufälligkeit und Information, die sich ihrerseits als äußerst unscharf erwiesen haben (siehe Kasten auf Seite 61). Alle Definitionen haben überdies spezifische Nachteile. So besagt die algorithmische Informationskomplexität, die der IBM-Mathematiker Gregory J. Chaitin unterbreitet hat, daß sich die Komplexität eines Systems durch das kürzeste es beschreibende Computerprogramm darstellen lasse. Doch nach diesem Kriterium ist ein Text, den ein Affe auf einer Schreibmaschine fabriziert, komplexer – weil zufälliger – als jedes Werk der Weltliteratur.

Solche Probleme unterstreichen den unangenehmen Tatbestand, daß Komplexität gewissermaßen Ansichtssache ist. Immer wieder hat man die Frage aufgeworfen, ob der Begriff so bedeutungslos geworden sei, daß man ihn ganz aufgeben solle; doch jedesmal kam man zu dem Schluß, er sei dafür zu attraktiv, wenn nicht gar werbewirksam. Oft verwenden die Komplexologen "komplex" als Synonym für "interessant" – aber welches Forschungsministerium würde Fördermittel für eine "vereinheitlichte Theorie interessanter Dinge" gewähren? (Das Santa-Fe-Institut erhält übrigens etwa die Hälfte seines 5-Millionen-Dollar-Budgets für 1995 von der US-Regierung, den Rest von privaten Gönnern.)


Künstliches Leben

So uneinig die Komplexologen sich über das Was ihrer Untersuchungen sein mögen, so einig sind sie sich über das Wie: mittels Computern. Diese Computergläubigkeit kulminiert im künstlichen Leben (KL), einem vielbeachteten Teilgebiet der Komplexität; es tritt das philosophische Erbe der mehrere Jahrzehnte älteren künstlichen Intelligenz (KI) an. Während die KI-Forscher den menschlichen Geist zu verstehen suchen, indem sie ihn im Rechnersystem imitieren, erhoffen sich die Verfechter des künstlichen Lebens von entsprechenden Simulationen Erkenntnisse über weite Gebiete biologischer Phänomene – und beide haben mehr bombastische Ankündigungen als greifbare Resultate vorzuweisen (Bild 1).

So verkündete Langton 1994 in der ersten Ausgabe der Zeitschrift "Artificial Life":"Durch künstliches Leben werden wir viel über Biologie erfahren – mehr, als wir durch das Studium natürlicher biologischer Objekte allein lernen könnten. Aber künstliches Leben wird letztlich über die Biologie hinaus in einen Bereich gelangen, für den wir noch keinen Namen haben, der aber unsere Kultur und unsere Technik in einer erweiterten Sicht der Natur enthalten muß."

Langton propagiert das sogenannte starke KL. Wenn ein Programmierer eine Welt von virtuellen Molekülen erschafft, die sich nach chemischen Regeln spontan zu Nahrung aufnehmenden, sich reproduzierenden und entwickelnden Wesen organisieren, würde Langton diese als lebendig betrachten – "wenn auch nur im Computer".

Unterdessen hat künstliches Leben auch künstliche Gesellschaften hervorgebracht. Der Politologe Joshua M. Epstein, der zwischen Santa Fe und der Brookings-Stiftung in der US-Bundeshauptstadt Washington pendelt, ist überzeugt, daß die Computersimulation von Kriegen, internationalem Handel und anderen sozialen Interaktionen die Methodik der Sozialwissenschaften grundlegend verändern wird.

KL scheint – wie das gesamte Gebiet der Komplexität – auf einem verführerischen Schluß zu beruhen: Es gibt einfache mathematische Regeln, nach denen ein Computer extrem komplizierte Muster zu erzeugen vermag. Die Welt enthält ebenfalls viele extrem komplizierte Muster. Also liegen vielen extrem komplizierten Phänomenen in der Welt einfache Regeln zugrunde, die sich mit Hilfe leistungsfähiger Computer aufspüren lassen.

Diese Folgerung haben die Philosophin Naomi Oreskes vom Dartmouth College in Hanover (New Hampshire) und andere in einem brillanten Artikel ("Verification, Validation and Confirmation of Numerical Models in the Earth Sciences"), der 1994 im amerikanischen Wissenschaftsmagazin "Science" erschienen ist, entschieden zurückgewiesen. Sie betonen, daß "die Verifikation und Bewertung von numerischen Modellen natürlicher Systeme unmöglich" ist; denn die einzigen Aussagen, die sich verifizieren – das heißt, als wahr beweisen – lassen, betreffen abgeschlossene Systeme, die auf reiner Mathematik und Logik beruhen. Natürliche Systeme sind jedoch offen: Unser Wissen darüber ist immer nur Stückwerk und gilt bestenfalls näherungsweise.

"Wie ein Roman kann ein Modell überzeugend sein – es mag wahr wirken, wenn es mit unserer Erfahrung der natürlichen Welt übereinstimmt", stellen Naomi Oreskes und ihre Mitarbeiter fest. "Doch wie wir bei Romanfiguren vielleicht überlegen, was daran aus dem wirklichen Leben stammt und was pure Erfindung ist, können wir genauso bei einem Modell fragen: Wieviel beruht auf Beobachtung und Messung zugänglicher Phänomene, wieviel auf begründetem Urteil, und wieviel ist beliebige Zutat?"

Numerische Modelle funktionieren besonders gut in Astronomie und Physik, weil dort die Objekte und Kräfte sehr genau ihren mathematischen Definitionen entsprechen. Weniger zwingend ist die mathematische Beschreibung komplexerer Phänomene, vor allem solcher der belebten Welt. Wie der Evolutionsbiologe Ernst Mayr von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) betont hat, ist jeder Organismus einmalig und verändert sich fortwährend; darum widersetze sich die Biologie letztlich der Mathematisierung.

Überraschenderweise scheint Langton die Möglichkeit zu akzeptieren, daß das KL-Studium nicht die Strenge herkömmlicher Forschung erreichen werde. Wie er meint, könnte die Wissenschaft überhaupt weniger "linear" werden. "Lyrik ist ein sehr nichtlinearer Umgang mit Sprache, wobei der Sinn mehr ist als die Summe der Teile", erklärt er. "Ich habe einfach das Gefühl, daß es künftig in der wissenschaftlichen Kultur sozusagen poetischer zugehen wird."

Folgt man dem Evolutionsbiologen John Maynard Smith von der Universität von Sussex in Brighton (England), so ist auf dem Arbeitsfeld KL dieses Stadium vielleicht schon erreicht. Als einer der ersten, der die Mathematik in die Biologie eingeführt hat, interessierte Smith sich anfangs für die Konzepte des Santa-Fe-Instituts und verbrachte insgesamt zwei Wochen dort. Doch er ist zu dem Schluß gekommen, daß künstliches Leben "im Grunde eine tatsachenfreie Wissenschaft" ist. Wie er sich erinnert, wurde während seines letzten Besuchs "ein einziges Mal ein Faktum erwähnt, und zwar von mir, und das galt als ziemlich geschmacklos".


Eine Kritik der Kritizität

Nicht alle Komplexologen akzeptieren die Einschätzung, daß sie unweigerlich vom Boden der harten Fakten abhöben – bestimmt nicht Per Bak, Physiker am Brookhaven-Nationallaboratorium in Upton (US-Bundesstaat New York) und SFI-Mitglied. Dieser Querdenker behauptet, Teilchen- und Festkörperphysik hätten ihren Zenit überschritten; auch die Chaos-Forschung sei schon 1985 (zwei Jahre bevor James Gleicks Bestseller zum Thema erschien) erschöpft gewesen – wie stets sei eine Idee, sobald jedermann sie nachzuplappern beginne, nicht mehr interessant.

Dafür haben Bak und andere etwas entwickelt, das manchen Insidern als aussichtsreichster Entwurf für eine vereinheitlichte Theorie der Komplexität gilt: die selbstorganisierte Kritizität. Baks Paradigma dafür ist der Sandhaufen. Wenn man auf seine Spitze Sand rieseln läßt, pegelt sich ohne weiteres Zutun durch Abgang von Lawinen ein – so Bak – kritischer Zustand ein. Trägt man im Diagramm die Häufigkeit der Lawinen gegen ihre Größe auf, so gehorcht die Kurve einem Potenzgesetz: Mit wachsender Größe der Lawinen nimmt ihre Wahrscheinlichkeit ab (siehe "Selbstorganisierte Kritizität" von Per Bak und Kan Chen, Spektrum der Wissenschaft, März 1991, Seite 62).

Nach Bak folgen viele Phänomene diesem Muster – ob Erdbeben, Börsenschwankungen, das Aussterben von Organismenarten oder gar menschliche Gehirnwellen. Er schließt daraus, daß es eine gemeinsame Theorie dafür geben müsse. Sie könnte erklären, warum schwache Erdbeben viel häufiger sind als starke, warum eine Spezies Millionen Jahre lang besteht und dann verschwindet, warum Aktienmärkte zusammenbrechen und warum das menschliche Gehirn so schnell auf Sinnesreize zu reagieren vermag.

Eine Konzession im Anspruch verbindet Bak sogleich mit einer ambitiösen Prophezeiung: "Wir können nicht alles von allem erklären, aber etwas von allem." Damit werde die Erforschung komplexer Systeme in traditionell wenig rigiden Disziplinen wie Ökonomie, Psychologie und Evolutionsbiologie eine Revolution auslösen; sie dürften dadurch in den nächsten Jahren in gleicher Weise exakte Wissenschaften werden wie seinerzeit Teilchen- und Festkörperphysik.

Wie der Vizepräsident der USA, Al Gore, in seinem Buch "Wege zum Gleichgewicht" schrieb, habe ihm Baks Theorie nicht nur geholfen, die Verletzlichkeit der Umwelt zu verstehen, sondern auch den Wandel in seinem eigenen Leben. Doch Sidney R. Nagel von der Universität Chicago behauptet, daß Baks Modell nicht einmal seinen Musterfall sehr gut beschreibe – statt einem Potenzgesetz zu gehorchen, neigten die in Chicago untersuchten Sandhaufen dazu, zwischen Bewegungslosigkeit und großen Lawinen zu oszillieren.

Bak bestreitet das und kontert, Experimente anderer Forscher würden sein Modell bestätigen. Indes könnte sich die Theorie der selbstorganisierten Kritizität als derart allgemein und in ihrem Wesen statistisch erweisen, daß sie selbst für Systeme, die sie zutreffend beschreibt, keine ausreichende Erklärung liefert. Beispielsweise lassen sich viele Erscheinungen durch eine Gaußsche Glockenkurve – die der statistischen Normalverteilung – charakterisieren; doch kaum jemand würde behaupten, menschliche Intelligenzquotienten und die scheinbare Helligkeit von Galaxien hätten dieselben Ursachen. "Wenn eine Theorie auf alles zutrifft, erklärt sie vielleicht in Wirklichkeit gar nichts," bemerkt der Santa-Fe-Forscher Crutchfield: Für eine ergiebige Theorie brauche man nicht nur Statistik, sondern auch Mechanismen.

Skeptisch ist gleichfalls der Festkörper-Physiker und Nobelpreisträger Philip W. Anderson von der Universität Princeton (New Jersey), der zum Leitungsgremium des SFI gehört. In seinem Essay "More is different", der bereits 1972 in "Science" erschien, argumentierte er zwar, die Teilchenphysik sei – wie überhaupt jeder reduktionistische Ansatz – nur begrenzt fähig, die Welt zu erklären. Die Realität sei hierarchisch strukturiert, wobei jede Ebene von den anderen mehr oder weniger unabhängig sei: "Auf jeder Stufe sind völlig neue Gesetze, Begriffe und Verallgemeinerungen nötig, die ebenso viel Inspiration und Kreativität erfordern wie die vorhergehende", schrieb er. "Weder ist Psychologie angewandte Biologie noch Biologie angewandte Chemie."

Aber ironischerweise folgt aus Andersons Essay, der als aufrüttelndes Plädoyer für Chaos und Komplexität aufgenommen wurde, daß die antireduktionistischen Ansätze wohl niemals in einer vereinheitlichten Theorie komplexer Systeme gipfeln werden, die vom Immunsystem bis zur Wirtschaft alles umfaßt. Das sieht auch Anderson selber so: "Ich glaube nicht, daß es eine Theorie von allem geben wird, sondern nur Prinzipien von hoher Allgemeinheit", etwa Quantenmechanik, statistische Mechanik, Thermodynamik und Symmetriebrechung. "Man darf nicht dem Trugschluß erliegen, ein allgemeines Prinzip, das auf einer Ebene gut funktioniert, gelte auch auf allen anderen."

Diese Sichtweise der Natur entspricht der des Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould von der Harvard-Universität. Demnach wird Leben weniger durch deterministische Gesetze geformt als durch zufällige, unvorhersagbare Umstände. "Ich glaube, mein Vorurteil ist letztlich eine Vorliebe für Naturgeschichte", meint Anderson mit einem Schuß Selbstironie.


Autokatalyse

Damit steht er in glattem Widerspruch zu Stuart A. Kauffman, einem der ambitioniertesten Verfechter des Konzepts vom künstlichen Leben. Der Biochemiker und Biophysiker von der Medizinischen Fakultät der Universität von Pennsylvania in Philadelphia sucht seit Jahrzehnten mit ausgeklügelten Computersimulationen zu zeigen, daß die Darwinsche Theorie allein noch nicht ausreiche, Entstehung und Evolution des Lebens zu erklären (siehe "Leben am Rande des Chaos" von Stuart A. Kauffman, Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1991, Seite 90).

Dabei teilt er durchaus die Bedenken seines früheren Lehrers John Maynard Smith: "An einem gewissen Punkt driftet künstliches Leben ab, bis man nicht mehr weiß, ob noch von der Welt da draußen die Rede ist oder nur von recht netten Computerspielen, Kunstformen und Spielzeugen." Wenn er selber Computersimulationen anstelle, betont Kauffman, suche er immer herauszufinden, wie etwas in der Realität funktioniert – "oder fast immer".

Aus eben solchen Simulationen folgert er unter anderem, daß ein System aus einfachen Chemikalien einen dramatischen Wandel oder Phasenübergang vollziehe, wenn es einen bestimmten Grad an Komplexität erreicht (das verbindet Kauffman sowohl mit dem Begriff Rand des Chaos als auch mit Baks selbstorganisierter Kritizität). Die virtuellen Moleküle jedenfalls beginnen sich dann spontan zu größeren Gebilden von wachsender Komplexität und katalytischer Fähigkeit zu kombinieren. Kauffman behauptet, daß solche autokatalytischen Prozesse – und nicht die zufällige Bildung eines Moleküls mit der Fähigkeit zur Replikation und Evolution – am Ursprung des irdischen Lebens gestanden hätten.

Er meint auch, eine Anordnung wechselwirkender Gene entwickle sich nicht zufällig, sondern konvergiere gegen eine relativ kleine Anzahl von Mustern (oder Attraktoren, um einen bei Chaos-Theoretikern beliebten Begriff zu gebrauchen). Dieses Ordnungsprinzip, das Kauffman Antichaos nennt, war demnach für die Entwicklung des Lebens vielleicht bedeutsamer als die natürliche Selektion. Kauffman hofft mit seinen Simulationen eine "neue Grundkraft" zu entdecken, die dem allgemeinen Trend zu wachsender Unordnung entgegenwirkt, wie ihn der zweite Hauptsatz der Thermodynamik ausdrückt.

In seinem neuen Buch "At Home in the Universe" behauptet Kauffman, die Entstehung und die Evolution irdischen Lebens seien keineswegs extrem unwahrscheinlich, sondern vielmehr unausweichlich gewesen; fast gewiß existierten auch anderswo im Universum Organismen, die vielleicht sogar den irdischen ähnelten.

Über diese Frage haben die Wissenschaftler seit jeher endlose Debatten geführt (siehe Spektrum der Wissenschaft Spezial: Leben und Kosmos). Viele denken wie Kauffman; andere folgen dem französischen Biologen Jacques Monod (1910 bis 1976; Nobelpreis 1965) und meinen, daß für das Zustandekommen von Leben nur eine äußerst geringe Chance bestanden habe. Weil wir nichts über außerirdisches Leben wissen, ist das Thema freilich weitgehend Glaubenssache; daran können Computersimulationen allein nichts ändern.

Der amerikanische Physik-Nobelpreisträger von 1969 Murray Gell-Mann bestreitet zudem, daß eine neue Kraft nötig sei, um das Entstehen von Ordnung und Komplexität zu erklären. In seinem jüngst auch auf deutsch erschienenen Buch "Das Quark und der Jaguar" (rezensiert in Spektrum der Wissenschaft, März 1995, Seite 121) skizziert er ein eher konventionell-reduktionistisches Weltbild. Das probabilistische Wesen der Quantenmechanik erlaubt demnach dem Universum, sich auf unendlich viele Weisen zu entfalten; einige davon schaffen Bedingungen, die dem Auftreten komplexer Phänomene förderlich sind. Und was den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik betrifft, so gestattet er das zeitweilige Anwachsen von Ordnung in relativ abgeschlossenen, mit Energie versorgten Systemen wie der Erde.

Obskurantismus und Mystifikation?

Gell-Mann betont, daß noch viele Fragen zu komplexen Systemen offen seien; darum habe er das Santa-Fe-Institut mitbegründet. Allerdings wende er sich gegen "eine gewisse Tendenz zu Obskurantismus und Mystifikation".

Vielleicht können die Komplexologen zwar nicht eine fundamentale Basis für die Forschung des nächsten Jahrtausends schaffen, dafür aber den Bereich des überhaupt Erfahrbaren abstecken. Ein SFI-Symposium über "die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis" schien 1994 diesen Anspruch zu erheben. Drei Tage lang debattierten Naturwissenschaftler, Mathematiker und Philosophen darüber, ob die Wissenschaft zu wissen vermag, was sie nicht wissen kann. Immerhin ziehen viele der tiefgründigsten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts – Relativitätstheorie, Quantenmechanik, Kurt Gödels Unvollständigkeitssatz, Chaos-Theorie – dem begreifenden Geist bestimmte Schranken.

Einige Teilnehmer – vorwiegend Institutsmitglieder – drückten die Hoffnung aus, mit wachsender Computerleistung werde auch die Fähigkeit zunehmen, Naturvorgänge umfassend vorherzusagen, zu kontrollieren und zu verstehen. Andere wie der Psychologe Roger N. Shepard von der Stanford-Universität in Kalifornien waren skeptischer: Selbst wenn es gelänge, mit Computern die Kompliziertheit der Erscheinungen einzufangen, könnten die Modelle ihrerseits so kompliziert sein, daß sie sich menschlichem Verständnis entzögen. Francisco Antonio Doria, ein brasilianischer Mathematiker, lächelte betreten und meinte: "Wir geraten von der Komplexität zur Perplexität." Niemand widersprach.

Literaturhinweise

- Thinking in Complexity: The Complex Dynamics of Matter, Mind, and Mankind. Von Klaus Mainzer. Springer, Heidelberg, New York 1994.

– Nature's Imagination: The Frontiers of Scientific Vision. Herausgegeben von John Cornwell. Oxford University Press, 1995.

– Das Quark und der Jaguar. Vom Einfachen zum Komplexen – die Suche nach einer neuen Erklärung der Welt. Von Murray Gell-Mann. Piper, München 1994.

– Inseln im Chaos. Von M. Mitchell Waldrop. Rowohlt, Reinbek 1993.

– Die Komplexitätstheorie: Wissenschaft nach der Chaosforschung. Von Roger Lewin. Hoffmann und Campe, Hamburg 1993.

– KL – Künstliches Leben im Computer. Von Stephen Levy. Droemer Knaur, München 1993.

– Das digitale Universum – Zelluläre Automaten als Modelle der Natur. Von Martin Gerhardt und Heike Schuster. Vieweg, Braunschweig 1995.

– Das Paradox der Zeit. Zeit, Chaos und Quanten. Von Ilya Prigogine und Isabelle Stengers. Piper, München 1993.

– Die Erforschung des Komplexen. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis der Naturwissenschaften. Von Grégoire Nicolis und Ilya Prigogine. Piper, München 1987.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1995, Seite 58
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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