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Künstliche Enzyme - synthetische Supramoleküle machen katalytischen Antikörpern Konkurrenz

Nach dem Vorbild der Natur Katalysatoren zu erzeugen, die geziehlt bestimmte Reaktionen ablaufen lassen, ist derzeit ein fruchtbares Forschungsfeld im Grenzbereich zwischen Biochemie, organischer Chemie, Pharmazie und Werkstoffwissenschaften. Eine entscheidende Rolle spielt dabei das Prinzip der molekularen Erkennung.


Im vorletzten Absatz einer Publikation über den "Einfluss der Configuration auf die Wirkung der Enzyme" erlaubte sich der Berliner Professor ein wenig Spekulation: Die Wechselwirkung zwischen Enzym und Substrat, so seine gewagte Hypothese, finde nur dann statt, wenn beide komplementäre Strukturen enthielten: "Um ein Bild zu gebrauchen, will ich sagen, dass Enzym und Glucosid wie Schloss und Schlüssel zueinander passen müssen, um eine chemische Wirkung aufeinander ausüben zu können." Doch da er mehr von Experimenten als von Hypothesen hielt und an Strukturuntersuchungen von Enzymen 1894 nicht zu denken war, verfolgte er diesen Gedanken nicht weiter – nur ein einziges Mal griff er die Analogie in einer späteren Publikation wieder auf, um sie ein wenig zu verfeinern. Seinen Ruhm als überragender Chemiker und den Nobelpreis für Chemie des Jahres 1902 verdankte Emil Fischer (1852 bis 1919) denn auch nicht dieser Hypothese, sondern seinen Beiträgen zur Zuckerchemie.

Doch die Vertreter der gerade aufkeimenden "physiologischen Chemie" griffen die Schlüssel-Schloß-Analogie rasch auf; und heute, ein Jahrhundert nach ihrer erstmaligen Formulierung, ist molekulare Erkennung nach diesem Prinzip aktueller denn je. Dem tut auch keinen Abbruch, daß viele Enzyme, wie Daniel E. Koshland jr. schon vor Jahrzehnten an der Universität von Kalifornien in Berkeley herausfand, nicht so starr sind wie ein herkömmliches Schloß, sondern sich in ihrer Struktur in gewissem Maße dem Schlüssel – das heißt dem Substrat – anbequemen (auch die echten Schlösser haben sich seither weiterentwickelt und enthalten in ihrer modernsten Form bewegliche Zapfen für eine dynamische Anpassung an den Schlüssel).

Ein weiterer Grund für die anhaltende Popularität von Fischers Metapher liegt darin, daß die molekulare Erkennung längst nicht mehr die alleinige Domäne der Enzymologie ist. Auch die sogenannte supramolekulare Chemie befaßt sich mit Molekülpaaren oder -gruppen, die sich nur aufgrund ihrer gegenseitigen Paßform zusammenfinden, ohne eine dauerhafte Bindung einzugehen. Allerdings gebraucht man für die Interaktion hier meist das Bild vom Wirt und seinem Gast. Des weiteren befassen sich Polymer-, Oberflächen- und Kolloidchemie mit ähnlichen Problemen – beispielsweise wenn es darum geht, sogenannte intelligente Werkstoffe zu entwickeln.

Dennoch stehen die Enzyme und ihre Substrate – die Schloß-Schlüssel-Verbindungen der Natur – auch weiterhin im Mittelpunkt des Forschungsbereichs molekulare Erkennung, und sei es nur als Meßlatte für die Effizienz eines künstlichen Katalysators. Im einfachsten Fall kann man bestehende Enzyme einfach durch gezielte Modifikation einem anderen Substrat anpassen. Gänzlich neue, in ihrer Art aber immer noch biochemische Katalysatoren erhält man dagegen, wenn man künstlich einen großen Pool von geeigneten Ausgangsmaterialien wie Antikörpern oder Nucleinsäuremolekülen erzeugt und die aktiven Komponenten daraus selektiert. Noch einen Schritt weiter von der Natur entfernt sich schließlich die gezielte Synthese eines maßgeschneiderten Katalysators mit chemischen Methoden.

Ein etabliertes Verfahren ist inzwischen die Gewinnung katalytischer Antikörper für eine vorgegebene Reaktion (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1988, Seite 78). Auch sie erfordert trotz der engen Anlehnung an die Biologie im ersten Schritt ein wenig Design. Die Wirkung eines Katalysators besteht darin, die Energie des Übergangszustands der Reaktion – gewissermaßen die zu überwindende Barriere zwischen Ausgangs- und Endprodukt – zu erniedrigen. Entsprechend muß man zunächst eine Verbindung entwerfen, die jenem aktivierten Komplex ähnelt, der im Übergangszustand der betreffenden Reaktion auftritt.

Diese injiziert man anschließend einem Tier, dessen Immunsystem paßgenaue Antikörper dagegen erzeugt. Mit etwas Glück befindet sich darunter einer, der auch mit dem aktivierten Komplex der zu katalysierenden Reaktion zusammenpaßt und so dessen Energie und damit die Reaktionsbarriere erniedrigt. Auf diese Weise sind bereits Antikörper-Enzyme für zahlreiche Reaktionen entwickelt worden – einschließlich solcher, für die es in der Natur kein Enzym gibt, zum Beispiel die dipolare 2,4-Cycloaddition (Diels-Alde-Reaktion), die eines der wichtigsten Verfahren zur Synthese ringförmiger Verbindungen ist.

Kürzlich gelang den Anhängern dieser Forschungsrichtung ein weiterer beachtlicher Erfolg. Sie konnten Antikörper erzeugen, welche die Knüpfung der Peptidbindung katalysieren, über die Aminosäuren zu Proteinen verkettet sind ("Science", Band 265, Seite 234). Nur sechs Wochen später wurde die Kristallstruktur eines Antikörpers veröffentlicht, der umgekehrt die Zerlegung von Proteinen in kürzere Peptide fördert; seine Substrat-Bindungsstelle ist derjenigen von Serinproteasen, der am besten charakterisierten Familie proteinspaltender Enzyme, verblüffend ähnlich ("Science", Band 265, Seite 1059).

Noch nicht ganz so erfolgreich, wenn auch vielsprechend ist bisher die chemische Konstruktion von künstlichen Enzymen. Insbesondere die jüngsten Fortschritte in der Wirt-Gast-Chemie eröffnen dabei interessante Perspektiven. Die frühen Arbeiten aus den achtziger Jahren beruhten hauptsächlich auf der Gastfreundlichkeit der Cyclodextrine, ringförmiger Verbindungen aus sechs Molekülen des Zuckers Dextrose, in deren Mitte sich eine Art Bindungstasche für hydrophobe (wassermeidende) Substanzen befindet. Nun hat man mit Porphyrinen als Bausteinen synthetische molekulare Riesenräder entworfen, mit denen sich neue Bindungs- und Katalysewege auftun. Porphyrine sind relativ große, stickstoffhaltige organische Ringverbindungen, die sich in der Natur zum Beispiel (mit einem Magnesium-Ion in der Mitte) im Blattfarbstoff Chlorophyll oder (mit einem zentralen Eisen-Ion) im Blutfarbstoff Hämoglobin finden.

Der Arbeitsgruppe von Jeremy Sanders an der Universität Cambridge (England) gelang die Synthese eines Super-Rings, in dem drei Porphyrine mit jeweils einem Zink-Ion in der Mitte über synthetische Abstandshalter miteinander verknüpft sind ("Angewandte Chemie", Band 106, Seite 445). Die Zink-Ionen können elektronenreiche Molekülteile wie etwa das Stickstoffatom in einem Pyridinring binden. Sanders Gruppe fand heraus, daß dies eine Diels-Alder-Reaktion nicht nur zu beschleunigen, sondern auch ihre Richtung zu beeinflussen vermag (Bild). Unter normalen Bedingungen ist die Umsetzung kinetisch kontrolliert; das heißt, nicht das stabilere, sondern das schneller erreichbare Produkt wird bevorzugt gebildet, und das ist die gebogene Endo-Variante, bei der die beiden äußeren Ringe einander zugewandt sind. Durch die Reaktionsbeschleunigung in Anwesenheit des Triporphyrins entsteht dagegen ausschließlich das sterisch weniger behinderte und dadurch thermodynamisch begünstigte, flachere Exo-Produkt.

Nun gehört zu jedem ordentlichen Enzym auch ein Hemmstoff (Inhibitor). Entsprechend bauten die Mitarbeiter von Sanders eine zweite Verbindung, die alle drei Zinkatome gleichzeitig mit je einem Pyridinring blockieren kann. Tatsächlich zeigt sie das klassische Verhalten eines Inhibitors, der mit einem Substrat um die Bindungsstelle konkurriert.

Ein kleiner Makel haftet dem künstlichen Enzym freilich noch an: Es läßt sein Reaktionsprodukt nach getaner Arbeit nicht wieder los. Eigentlich handelt es sich also nicht um einen Katalysator, der definitionsgemäß bei der Umsetzung nicht verbraucht und deshalb nur in kleinen Mengen benötigt wird. Doch die Konstrukteure sind hoffnungsvoll, diesen Schönheitsfehler beheben zu können; denn der prinzipielle Vorzug synthetischer Systeme besteht ja gerade darin, daß man etwas, das nach Plan gebaut ist, auch gezielt umbauen kann, um die Bindungseigenschaften in allen Facetten dem angestrebten Zweck anzupassen.

Anwendungsmöglichkeiten für synthetische Katalysatoren mit jener hohen Substratspezifität, die Enzyme auszeichnet, lassen sich überall dort vermuten, wo es kein Naturprodukt gibt oder die Anwendungsbedingungen ein stabileres Molekül erfordern. So ist es schwierig, ein therapeutisches Enzym unbeschadet an den Zielort im Körper zu bringen, und mancher biotechnische Prozeß erfordert Temperaturen oberhalb der Stabilitätsgrenzen normaler Proteine. Beide Probleme dürften sich mit synthetischen Enzymen umgehen lassen.

Außerdem stellt sich bei der Synthese von komplizierten Arzneistoffen das Problem, daß diese oft in zwei spiegelbildlichen Formen existieren, die sich wie ein linker und ein rechter Schuh zueinander verhalten, wobei nur die eine wirksam und die andere manchmal sogar schädlich ist. Folglich sollte möglichst nur die gewünschte Form erzeugt werden. Mit herkömmlichen chemischen Katalysatoren gelingt das in der Regel nicht, während Enzymen nachgebildete Moleküle die beiden Formen genauso hundertprozentig unterscheiden können wie die Originale. Gerade diese Fähigkeit der Enzyme hatte Fischer vor 100 Jahren mit seinem Schlüssel-Schloß-Bild zu illustrieren versucht.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1994, Seite 28
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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