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Aggression: Macht Gedränge aggressiv?

Soziale Enge führt zu Gewaltausbrüchen – dieser Glaube hält sich hartnäckig und wird doch von neuen Forschungen widerlegt. Weder Primaten noch Menschen neigen bei Platzmangel zu verstärkter Aggression.


Vor vierzig Jahren erregte die Öffentlichkeit eine Verhaltensstudie an Laborratten. Der amerikanische Psychologe John B. Calhoun hatte kleine Gruppen der Nagetiere zu großen Kolonien anwachsen lassen, ohne ihnen dazu aber mehr Platz zur Verfügung zu stellen. Zu seinem Experiment hatte ihn die alte Frage angeregt, was sich für die Menschheit bei steigender Bevölkerungsdichte eigentlich verändert. Ihn störte, dass Sozialökonomen seit den Abhandlungen des englischen Wegbereiters Thomas Robert Malthus im späten 18. Jahrhundert über die Auswirkungen von Überbevölkerung in dem Zusammenhang fast nur von Verelendung, Hunger oder Krankheiten sprachen, aber nicht von den Auswirkungen auf das Verhalten.

Eben dieses wollte Calhoun an Ratten beobachten. Für sein Experiment setzte er mehrmals eine kleine Anzahl männlicher und weiblicher Tiere in Käfige, die jeweils aus mehreren gleich eingerichteten, verbundenen Abteilen mit eigenen Futterplätzen bestanden. Anfangs boten diese Gehege den Insassen reichlich Raum. Als die Ratten sich allerdings vermehrten, wurde es bald ziemlich eng. Und wie erwartet begannen sie sich nun in sozialer Hinsicht anders zu benehmen.

Am Ende beobachtete Calhoun in allen Gruppen eine Menge abwegiges Verhalten bis hin zu sexuellen Auswüchsen und schließlich auch Kannibalismus. Größtenteils ereigneten sich solche wüsten Exzesse dort, wo das meiste Gedränge herrschte: in einem der mittleren Käfigabteile. Diesen hatten überproportional viele Ratten zu ihrer Heimstatt erkoren. Hauptsächlich die Bewohner dieses einen Abteils verhielten sich derart abnorm. In den Randabteilen dagegen, wo deutlich weniger Tiere hausten, lief alles viel ruhiger ab.

Dennoch schienen die Tiere gerade zu diesem Zentrum des Geschehens wie magisch hingezogen. Insbesondere wenn dort andere Ratten fraßen, versuchten sie sich noch dazwischenzuzwängen – obwohl viele gar nicht bis zum Futtergefäß vordrangen. Calhoun sprach von einem pathologischen Zusammenschluss der Ratten. Angesichts des Verhaltenschaos und des Verfalls im sozialen Umgang prägte er den Ausdruck "behavioral sink", als würde alles im Abfall oder in einem stinkigen Ausguss verrotten.

Geradezu gierig stürzten sich manche Leute sofort auf diese Befunde und übertrugen sie auf den Menschen. Politische Aufmärsche gewannen bei ihnen Züge von Rattensippen, Innenstädte wurden für sie zu Orten des Verhaltensverfalls und Städte überhaupt zu Zoos. Der amerikanische Wissenschaftsjournalist Robert Ardrey beispielsweise malte Schreckensbilder, dass unsere Gesellschaft entweder der Anarchie oder der Diktatur anheim fallen werde. Von 1970 stammt sein Ausspruch über den menschlichen Hang zum Gedränge: "Ganz so, wie Calhouns Ratten zum Fressen freiwillig die mittleren Käfigabteile aufsuchten, begeben auch wir uns freiwillig in die City." Nicht lange, und Calhouns These geriet in der umfangreichen Aggressionsliteratur zu einem der zentralen Dogmen.

Der geistige Spagat, den solche Popularisatoren von Ratten zum Menschen vollführten, war reichlich gewagt. Man braucht nur menschliche Bevölkerungen genauer anzuschauen, um das zu erkennen. Wir schlugen im Demographischen Jahrbuch der Vereinten Nationen von 1996 nach, ob bei höherer Bevölkerungsdichte pro Kopf mehr Morde vorkommen. Aber wir fanden hierzu keinerlei statistisch sinnvollen Zusammenhang. Existiert er vielleicht doch und ist nur verschleiert: beispielsweise durch die Einkommensunterschiede zwischen den Nationen oder die andersartigen politischen Systeme? Auch als wir die Daten nach Ländern mit vergleichbarem Einkommen sortierten, fanden wir noch keinen Zusammenhang. Erst als wir die Staaten nach den politischen Systemen klassifizierten, stießen wir auf eine Korrelation. Wir hatten die Nationen in drei Kategorien unterteilt: Länder mit länger etablierter freier Marktwirtschaft, ehemalige Ostblock-Staaten und Drittwelt-Länder. Dies brachte eine einzige statistisch gesicherte Beziehung – aber in verkehrter Richtung: Im früheren Ostblock wurden in den am dünnsten besiedelten Ländern vergleichsweise die meisten Gewaltverbrechen verübt. Von den marktwirtschaftlich orientierten Nationen wiesen die relativ dünn besiedelten USA die höchste Rate von Tötungsdelikten auf; in den Niederlanden mit ihrer 13-mal höheren Bevölkerungsdichte geschahen pro Kopf ein Achtel so viel Morde wie in den USA.

Wie steht es aber mit dem Verhältnis zwischen Stadt und Land? Bekanntlich geschehen in den Städten mehr Verbrechen. Doch auch als wir den Anteil großstädtischer Bevölkerung eines Landes einrechneten, kam nicht heraus, dass engeres Zusammenleben mehr Morde heraufbeschwört. Es mag am übermächtigen geschichtlichen und kulturellen Einfluss liegen – doch sofern soziale Enge überhaupt Aggressionen fördert, schlägt dies ganz sicher nicht deutlich durch.

Die These lässt sich nicht einmal erhärten, wenn Menschen eng zusammengepfercht leben müssen. Unter Kindern oder Collegestudenten, denen eine Institution wenig persönlichen Freiraum lässt, kommt zwar manchmal eine gereizte und leicht aggressive Stimmung auf. Aber im Allgemeinen scheint es den Menschen zu gelingen, Konflikte zu vermeiden. Nach einer amerikanischen Studie aus den achtziger Jahren ziehen Studenten in Wohnheimen sich mehr zurück und halten ihre Zimmertüren öfter geschlossen, wenn sie mit vielen anderen jungen Leuten sehr dicht zusammenleben. Die Folgerung der Forscher: Soziale Überfüllung und Enge würden sich längst nicht so krass auswirken wie zunächst angenommen. Andere Studien brachten ähnliche Ergebnisse. Dadurch kamen zumindest unter den Wissenschaftlern allmählich Zweifel auf, dass Ratten und Menschen auf bedrängende Enge gleich reagieren. Schließlich gehören Massenansammlungen zu unserer heutigen Gesellschaft, ob auf dem Weg zur Arbeit oder beim Wochenendeinkauf. Meistens haben wir uns dann hervorragend unter Kontrolle.

Gemeinhin trifft Calhouns Rattenmodell auf menschliches Verhalten also nicht zu. Erheben uns unsere Kultur und Intelligenz über diese tierischen Zwänge? Oder gehört Friedfertigkeit in der Masse etwa zu unserem Primatenerbe? Wenden wir uns also dem Verhalten unserer nächsten Verwandten im Tierreich zu. Zunächst sah es so aus, als würden Affen, die eng gedrängt leben müssen, ähnlich verrohen wie Ratten. Noch in den sechziger Jahren meinten Primatologen, die Affen in Indiens Städten seien aggressiver als ihre Artgenossen im Wald. Insbesondere Zoo-Primaten galten damals als unmäßig gewalttätig. Forscher beschrieben die Vorgänge in den Affengehegen so, als würde ein Tier zum Despoten, vor dem die gesamte Truppe zitterte. Damals hielten Wissenschaftler die streng hierarchische Ordnung unter den Gruppenmitgliedern noch für ein Gefangenschaftsartefakt. Sie glaubten, in der Natur würden Affen friedfertig miteinander umgehen und jedem die gleichen Rechte zugestehen. Und als jemand beobachtete, wie ein paar Paviane sich in Gefangenschaft als Gruppe zusammenrotteten, sprach er voreilig von einem "Ghetto-Aufruhr".

So einseitig blieben die wissenschaftlichen Befunde über einen Zusammenhang von Dichte und Aggression allerdings nicht lange. Bald schon häuften sich dazu nämlich einander scheinbar widersprechende Beobachtungen. Es gab Fälle, in denen die Aggression anscheinend wegen der höheren Populationsdichte wuchs, doch manchmal geschah gerade das Gegenteil. So bekämpfte sich eine Gruppe Makaken bis aufs Blut und teils mit tödlichem Ausgang, nachdem sie ein 73-mal größeres Gehege erhalten hatte. Nur – als die Affen zweieinhalb Jahre später wieder in einen engen Käfig ziehen mussten, benahmen sie sich kein bisschen sanfter.

Kein stressarmes Leben für Primaten in der Wildnis


Wie war das nun zu deuten? Die Forscher wollten zwar den Einfluss der sozialen Dichte untersuchen, aber sie hatten den Makaken beide Male auch eine neue Umwelt verpasst – womit die Affen sich ebenfalls arrangieren mussten. In anderen Dichte-Studien jener Jahre ließen die Primatologen die Affen zwar im gewohnten Gehege, doch sie setzten zu der etablierten Gruppe mehr Tiere dazu.

Nun reagieren Primaten ausgesprochen reserviert, ja feindlich auf Fremdlinge. Was die Forscher in dem Fall an Aggressivität zu sehen bekamen, dürfte also an erster Stelle kein Dichte-Effekt gewesen sein. Trotzdem – je sauberer die Forschungen in den folgenden Jahren angelegt waren, desto unklarer wurde das Bild. Nur in 11 der 17 bestdurchdachten Studien der letzten Jahrzehnte führte gestiegene Dichte auch zu einem Anstieg der Aggression.

Aber nicht nur dank immer besser aufgebauter Gefangenschaftsexperimente änderte sich allmählich unser Verständnis vom Primatenverhalten. Auch unsere Vorstellung vom Leben wild lebender Affen wandelte sich zunehmend, je eingehender Freilandforscher verschiedenste Arten in ihrem natürlichen Lebensraum beobachteten. Primaten zeigten sich nämlich auch in ihrer eigenen Umwelt keineswegs als friedliebende, gleichberechtigte Wesen. In den siebziger Jahren mehrten sich sogar Berichte über zwar seltene, aber tödliche Gewaltakte bei einer Vielzahl von Arten, von Makaken bis Schimpansen. Nun hörten wir auch von strengen und festen, teils über Jahrzehnte stabilen Rangordnungen. Dass es unter Affen nicht angstfrei zugeht, bestätigten schließlich Nachweise von hohen Blutspiegeln des Stresshormons Cortisol bei wild lebenden Affen (siehe dazu Spektrum der Wissenschaft 3/1990, S. 114).

Je genauer die Wissenschaftler hinschauten, umso komplexer erschien das Verhalten der Primaten. Vor allem benahmen sie sich häufig ganz und gar nicht so wie die Ratten in Calhouns Studie. Der Verdacht, dass sie mit gedrängten Verhältnissen zurechtkommen, weil sie Konflikte abfangen und lösen können, kam uns zum ersten Mal während einer Studie an der weltgrößten Schimpansenkolonie im Arnheimer Zoo in den Niederlanden. Diese Gruppe streunt den Sommer über auf einer recht geräumigen baumbestandenen Insel umher. Im Winter dagegen müssen sich die Menschenaffen mit einem beheizten Raum arrangieren, der ihnen nur ein Zwanzigstel der Fläche wie draußen bietet. Trotzdem benahmen sie sich im Winterquartier nur wenig aggressiver. Und bemerkenswerterweise nahmen zugleich manche freundlichen Verhaltensweisen zu, etwa gegenseitige Fellpflege oder auch Küssen als Begrüßung oder unterwürfiges Verbeugen.

Benutzten die Schimpansen solch versöhnliches Verhalten etwa dazu, soziale Spannungen abzubauen? Und wenn ja, setzen auch andere Primatenarten Konflikten in ihrer Gruppe freundliche Kontakte entgegen? Wir suchten nach einer Möglichkeit, diese These zu prüfen. Dabei wollten wir nicht etwa leugnen, dass beengtes Zusammenleben das Konfliktpotenzial steigert. Wir setzten dies sogar als gegeben voraus. Aber wir fragten uns, ob Affen Wege kennen, Eskalationen zu vermeiden und trotz sozialer Spannungen friedfertig zu bleiben.

Unseres Erachtens mussten dies Strategien sein wie die, möglichen Angreifern aus dem Weg zu gehen oder sie irgendwie zu beschwichtigen oder zu beruhigen. Einige dieser Umgangsweisen lernen die Affen wahrscheinlich. Deswegen erwarteten wir, dass die Tiere bei wenig Raum umso geschickter miteinander umgingen, je länger sie schon so gedrängt miteinander lebten. Vielleicht hatten sie in den engen Verhältnissen ja eine besondere "soziale Kultur" geschaffen – so wie wir unter einer Privatsphäre nicht in jeder Kultur das Gleiche verstehen und nicht unbedingt die gleiche räumliche Nähe zu einem Gesprächspartner als angenehm empfinden.

Wir suchten nach einer Affenart, von der Gruppen existierten, denen seit langem unterschiedlich viel Platz zur Verfügung stand, die aber sonst auf ähnliche Weise lebten. Rhesusaffen erschienen uns schließlich als die idealen Kandidaten. Diese Makakenart ist an sich in Südasien zu Hause. Schon lange leben aber viele Tiere unter verschiedensten Bedingungen in Gefangenschaft. Wir wählten drei Orte in den USA: das Wisconsin-Primatenzentrum in Madison mit seinen recht beengten Außenkäfigen, das Yerkes-Primatenzentrum in Atlanta (US-Bundesstaat Georgia) mit großen offenen Gehegen, und Morgan Island, eine Atlantikinsel vor South Carolina, die pro Tier zweitausendmal so viel Platz bietet wie in Madison. An jedem Ort beobachteten wir eine gemischte Gruppe; insgesamt waren es 122 Tiere. Die Gruppen bestanden jeweils seit Jahren und oft seit Generationen. Außerdem waren die drei Gruppen insofern vergleichbar, als sie alle in Menschenobhut lebten und gefüttert sowie medizinisch versorgt wurden.

Bewährungsprobe Rhesusaffen


Größere Rhesusaffenverbände bilden typischerweise Untergruppen. Das Gerüst stellen Familienclans aus nah verwandten Weibchen dar, im Kern typischerweise Mutter und Töchter. Die erwachsenen Töchter bleiben lebenslang ihrer Herkunftsfamilie eng verbunden, während die jungen Männchen sie in der Pubertät verlassen und sich anderen Gruppen anschließen. Diese Primaten unterscheiden genau zwischen verwandten und nichtverwandten Individuen. Den mit Abstand freundlichsten Kontakt pflegen die Weibchen eines Clans. Zum Beispiel lausen sie sich viel. Die verwandten Weibchen treten auch füreinander ein, wenn eines Streit mit einer anderen Familie hat. Rhesusaffen verhalten sich im Allgemeinen recht aggressiv, und sie bilden überdies strenge Rangordnungen aus. Wir dachten uns, falls ausgerechnet diese Primatenart ein Geschick hätte, brenzlige soziale Situationen zu beheben, dann wäre unsere Hypothese schon so gut wie bestätigt.

Schon der erste Befund überraschte uns: Die Aggressivität der Männchen war in allen drei Gruppen ähnlich, ob sie nun viel oder wenig Platz zur Verfügung hatten. Aber wenn die Affen beengt zusammenlebten, unterhielten die erwachsenen Rhesusmännchen mehr freundliche Kontakte sowohl untereinander als auch mit Weibchen. Sie wurden dann auch von den Weibchen öfter gelaust. Dass soziale Körperpflege beruhigt, wissen wir aus anderen Studien. Nachweislich sinkt dabei der Herzschlag des gelausten Tiers. Ein zweiter Befund unserer Studie: Je gedrängter es war, umso öfter entblößten Weibchen Männchen gegenüber die Zähne, ein Signal für Unterlegenheit. Dies Verhalten beschwichtigt ranghöhere Tiere, die sonst vielleicht ungemütlich würden.

Ein anderes Muster fanden wir im Verhalten der Weibchen untereinander. Sie hatten nämlich in beengteren Verhältnissen tatsächlich mehr Krach, und zwar sowohl innerhalb der Familie als auch mit anderen Familien. Im eigenen Clan blieben die freundlichen Zuwendungen trotzdem so hoch wie unter entspannteren Verhältnissen. Die Weibchen lausten weibliche Mitglieder anderer Clans aber öfter, und sie grinsten die nichtverwandten Weibchen öfter unterwürfig an. Das macht durchaus Sinn. Das soziale Band zwischen Müttern und Töchtern oder zwischen Schwestern ist fest genug, dass es wegen eines Streits nicht gleich zerreißt. Außerdem sind Rhesusaffen daran gewöhnt, mit familiären Reibereien umzugehen, genauso wie es bei ihnen dazu gehört, sich danach auszusöhnen und dann im Körperkontakt wieder sein inneres Gleichgewicht zu finden. Soziale Enge ändert an all dem wenig – außer dass die Tiere vielleicht noch öfter Zerwürfnisse flicken müssen.

Doch das Auskommen mit anderen Clans wäre bei wenig Platz ernstlich gefährdet: Freundliche Kontakte zwischen Familiengruppen sind an sich selten, Streit an der Tagesordnung. Wenn man sich aber schlecht aus dem Weg gehen kann, würden Konflikte leicht ausufern. Offensichtlich strengen Rhesusweibchen sich dann an, diese heiklen Beziehungen zu anderen Familien aufzuwerten.

Eine zweite Dichtestudie führten wir an Schimpansen durch. Neben den Bonobos (Zwergschimpansen) stellen sie unsere nächsten Primatenverwandten dar. Sie ähneln uns äußerlich, psychisch und geistig fast am meisten. Sogar ihre sozialen Strukturen sind den unseren ähnlich. Zum Beispiel kennen Schimpansen enge Männerbindungen – was bei Säugern selten vorkommt. Individuen unterstützen sich auch gegenseitig, und Kinder sind sehr lange auf ihre Mutter angewiesen. Wilde Schimpansen geben sich hochgradig territorial. Es kommt vor, dass eine Männergruppe ein Nachbarrevier überfällt und dabei fremde Männchen umbringt.

Am Yerkes-Primatenzentrum in Atlanta konnten wir im Laufe der Jahre über hundert Schimpansen beobachten, die zu verschiedenen Gruppen gehörten. Obwohl ihre Gehege sehr verschiedene Größen und manche Tiere miteinander nur ein Zehntel so viel Platz hatten wie andere Gruppen, wirkte sich dies auf die aggressiven Akte nicht messbar aus.

Anders als bei den Rhesusaffen beeinflusste die Enge auch das gegenseitige Lausen und die Beschwichtigungen nicht. Falls der beschränkte Raum soziale Spannungen schuf, vermochten die Schimpansen diese anscheinend direkt unter Kontrolle zu bringen. An sich trauen wir Tieren nicht zu, dass sie ihre Gefühle verstecken können. Aber Schimpansen bilden möglicherweise eine Ausnahme. Zum Beispiel werden ihnen Täuschungsmanöver nachgesagt. Es soll vorkommen, dass sie eine feindliche Absicht hinter einem freundlichen Gesicht verbergen – bis der Gegner in Reichweite gerät. In unserer Untersuchung äußerte sich solche mutmaßliche Gefühlskontrolle darin, wie die Affen auf die Stimmen von Nachbargruppen reagierten. Gewöhnlich beginnen sie, sowie im Nachbargehege Laute ertönen, mit Rufkonzerten und geräuschvollen Kraftdemonstrationen. Wilde Schimpansen würden mit solchem Verhalten Eindringlinge abschrecken. In einem Gehege erzeugt das wilde Gebaren aber hauptsächlich in der eigenen Gruppe ein hektisches, kopfloses Durcheinander.

In der beengtesten Haltung unserer Studie allerdings neigten die Schimpansen viel weniger dazu, laut anzugeben und sich aufzuregen, sobald sie eine Nachbargruppe hörten, nämlich nur ein Drittel so sehr wie die Gruppen mit größeren Gehegen. Besitzen Schimpansen so viel Schlauheit, dass sie ihre Stimme im Zaum halten, wenn ihnen die Lautreaktion nur Ärger einbringen würde? Frei lebende Schimpansenmännchen auf Revierpatrouille sollen Geräusche vermeiden, wenn es unbedingt darauf ankommt, von den Nachbarn nicht vorzeitig entdeckt zu werden.

Aber emotionale Äußerungen zu unterdrücken hat seinen Preis. Dauerstress kann zum Beispiel das Immunsystem schwächen. Bei den Schimpansen können wir psychischen Stress indirekt einfach am Verhalten messen, und zwar daran, wie häufig die Affen sich kratzen. Nicht nur wir kratzen uns am Kopf, wenn wir nicht weiterwissen. Als einen zweiten Parameter für die psychische Belastung bestimmten wir im Kot der Tiere den Gehalt des Stresshormons Cortisol. Beide Messungen bestätigten, dass der Stress bei Schimpansen in einem engen Gehege stieg, wenn sie Nachbargruppen hörten. Es war auch klar, dass nicht etwa der geringe Raum allein eine größere Belastung bedeutete. Denn wenn die Schimpansen keine lärmenden Nachbarn hatten, waren die Werte nicht höher als bei Gruppen mit viel Platz (Grafik Seite 81).

Das heißt nun keineswegs, dass ihnen das zusammengepferchte Dasein nichts ausmacht, dass sie in der Enge entspannt sind und sich zufrieden fühlen. Vielmehr müssen sie sich offenbar tüchtig Mühe geben, um den Frieden zu wahren. Hätten sie die Wahl, würden sie sicher ein weitläufigeres Gehege bevorzugen. Jedes Frühjahr, wenn die Schimpansen im Arnheimer Zoo hören, wie das Tor zur Außenanlage zum ersten Mal wieder geöffnet wird, ertönt ein Freudenchor. Alle rennen sofort hinaus. Ob jung oder alt – die Affen umarmen und küssen sich, klopfen sich gegenseitig auf den Rücken und vollführen auch sonst ein höchst begeistertes Spektakel.

Die bisher geschilderten Beobachtungen betrafen Primatengruppen, die sich dauerhaft mit wenig Platz arrangieren mussten. Wie aber verhalten sich Affen, wenn sie nur kurz sehr nah zusammengepfercht werden? Wir Menschen sind dergleichen Gewühl gewohnt, auf der Straße, im Bus oder im Kino. Rhesusaffen benehmen sich im Gedränge etwas gereizter als sonst. Sie drohen anderen mehr. Jedoch artet dies nicht in Gewaltakte aus. Schimpansen gehen sogar noch einen Schritt weiter, indem sie selbst die Aggressivität zurücknehmen. Das erinnert an Menschen im Fahrstuhl, die möglichst still stehen, Blickkontakte und lautes Reden vermeiden. Die Art, wie Menschen und auch andere Primaten sich in solchen Situationen körperlicher Nähe benehmen, nennen wir denn auch Fahrstuhleffekt.

Aus unseren Studien dürfen wir folgern, dass unsere Primatenvorfahren als soziale Wesen seit langem das Potenzial besaßen, sich auf verschiedenste Situationen mit Artgenossen einzustellen, auch auf ganz unterschiedliche räumliche Verhältnisse. Sie kommen, wenn es sein muss, auch im engen Käfig zurecht – und selbst unter Verhältnissen wie in einer Stadt. Ganz umsonst gelingen ihnen und uns solche Anpassungen wohl nicht. Trotzdem ist dies sicherlich der bessere Weg – wenn die Alternative Chaos und soziale Verkommenheit hieße wie in den Rattenexperimenten.

Dennoch müssen wir einräumen, dass Calhouns Ratten möglicherweise doch nicht allein wegen der Überbevölkerung verwahrlosten. Denn anscheinend spielte damals auch Nahrungskonkurrenz mit. Dies sollte uns wegen unserer wachsenden Weltbevölkerung eine ernste Warnung sein. Diejenigen, die uns prophezeien, dass unsere sozialen Gefüge einbrechen werden, hätten sich dann auf die falsche Variable konzentriert. Offenbar besitzen wir ein natürliches Talent, uns in gedrängter Enge zurechtzufinden. Diese Kräfte werden nur manchmal unterschätzt. Doch was geschieht, wenn gleichzeitig die Ressourcen knapp werden?

Literaturhinweise


Wilde Diplomaten. Versöhnung und Entspannungspolitik bei Affen und Menschen. Von Frans de Waal, Hanser 1991.

Inhibition of Social Behavior in Chimpanzees under High-Density Conditions. Von F. Aureli und F. B. M. de Waal in: American Journal of Primatology, Bd. 41, Heft 3, S. 213–228, März 1997.

Rhesus Monkey Behaviour under Diverse Population Densities: Coping with Long-Term Crowd-ing. Von P. G. Judge und F. B. M. de Waal in: Animal Behaviour, Bd. 54, Heft 3, Seiten 643–662, Sept. 1997.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2000, Seite 78
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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