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Oktober 2016: Das GPS im Gehirn

Wie orientieren sich Säugetiere? Die Entdecker unseres neuronalen Navigationssystems beschreiben, wie dessen­ Komponenten zusammen­arbeiten, damit wir den Weg von A nach B finden.
Navigieren im Labyrinth des Gehirns

Dank GPS kann sich heute jeder problemlos in einer unbekannten Stadt zurechtfinden. Doch wie kommen wir ohne technische Hilfsmittel ans Ziel? Vor dem digitalen Zeitalter gelang uns dies ja schließlich auch!

Tatsächlich nutzt das Gehirn von Säugetieren ein vergleichbares, höchst raffiniertes Orientierungssystem. Ähnlich wie das GPS in Handys und Navigationsgeräten bestimmt es, wo wir uns befinden und wohin wir uns bewegen. Dazu verrechnet es eine Vielzahl an Informationen über unsere Position im Raum und den Verlauf der Zeit miteinander. Das alles läuft normalerweise ganz mühelos im Hintergrund ab, so dass wir kaum etwas davon mitbekommen. Erst wenn wir uns verlaufen oder unser Orientierungssinn durch Verletzungen oder Krankheiten in Mitleidenschaft gezogen ist, merken wir, wie wichtig das neuronale Navi im Kopf für unseren Alltag ist.

Ohne die Fähigkeit, den eigenen Aufenthaltsort zu bestimmen und sich in der Umwelt zurechtzufinden, könnten Menschen und Tiere sich weder ernähren noch fortpflanzen – sie ist also lebensnotwendig. Welchen Perfektionsgrad dabei speziell das Navigationssystem der Säugetiere erreicht hat, zeigt der Vergleich mit anderen Arten. Der eher primitiv aufgebaute Fadenwurm Caenorhabditis elegant zum Beispiel besitzt nur 302 Nervenzellen und orientiert sich fast ausschließlich entlang zunehmender oder abnehmender Intensität von Geruchssignalen.

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Tiere mit höher entwickeltem Nervensystem wie beispielsweise Wüstenameisen oder Honigbienen nutzen zusätzliche Strategien. Eine davon ist die Wegintegration. Bei diesem GPS-artigen Mechanismus berechnen Nervenzellen die jeweils aktuelle Position, indem sie fortlaufend die Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit bezüglich eines Ausgangspunkts registrieren. Dies gelingt ihnen, ohne Anhaltspunkte aus der Umwelt, etwa markante Objekte oder Geländeformationen, zu Hilfe zu nehmen.

Wirbeltiere haben ein noch umfangreicheres Repertoire von Fertigkeiten zum Orientieren entwickelt. Speziell Säuger erstellen detaillierte neuronale Karten der Außenwelt, und zwar in Form elektrischer Aktivitätsmuster von Nervenzellgruppen im Gehirn. Deren Feuersalven bilden die Umgebung des Tiers und seine Position darin ab. Solche mentalen Karten finden sich wohl vor allem in der stark gefalteten Hirnrinde, die sich erst vergleichsweise spät in unserer Evolution herausbildete.

In den letzten Jahrzehnten entwickelten Forscher eine recht genaue Vorstellung davon, wie das Gehirn solche Karten erzeugt und bei Ortsveränderungen aktualisiert. Laut neueren Studien besteht das Navigationssystem der Säuger aus mehreren spezialisierten Zelltypen, die gemeinsam den Aufenthaltsort, die zurückgelegte Distanz und die Richtung sowie Geschwindigkeit der Fortbewegung aufzeichnen. Im Verbund produzieren diese Zellen eine dynamische Karte der Umwelt, die nicht nur der aktuellen Orientierung dient, sondern auch zum späteren Verwenden im Gedächtnis gespeichert bleiben kann.

Ratten erstellen mentale Karten ihrer Umgebung, um die jeweils beste Route zu planen

Die Forschung auf dem Gebiet begann mit dem amerikanischen Psychologen Edward C. Tolman (1886 – 1959), der von 1918 bis 1954 an der University of California in Berkeley lehrte. Vorherige Experimente mit Ratten schienen zu zeigen, dass die Tiere sich zurechtfinden, indem sie auf Reize entlang ihrer Route reagieren und sich diese einprägen. So glaubte man zum Beispiel, sie merkten sich die Abfolge von Links- und Rechtswendungen zwischen Start und Ziel, um sich in einem Labyrinth zu orientieren. Diese Vorstellung zog jedoch nicht die Möglichkeit in Betracht, dass die Nager ein mentales Gesamtbild des Labyrinths entwerfen könnten, um die beste Route zu planen.

Tolman verabschiedete sich von solchen herrschenden Lehrmeinungen. Er hatte nämlich beobachtet, dass Ratten Abkürzungen nehmen oder Umwege gehen – was sie nicht tun sollten, falls sie sich lediglich eine Abfolge von Bewegungsmustern einprägen. Daraus schloss Tolman, dass die Tiere mentale Karten ihrer Umgebung erstellen, welche die räumlichen Gegebenheiten der Außenwelt repräsentieren. Diese neuronalen Modelle der Umwelt dienen Tolman zufolge nicht nur dazu, den Weg zu einem Ziel zu finden, sondern scheinen auch Ereignisse und Erlebnisse zu speichern, die mit bestimmten Orten verknüpft sind.

Tolmans Ideen, die er um das Jahr 1930 erstmals formulierte, blieben für Jahrzehnte umstritten. Die Fachwelt akzeptierte sie nur zögernd, vor allem weil sie ausschließlich auf Beobachtungen des Verhaltens von Versuchstieren beruhten, die sich ganz unterschiedlich interpretieren ließen. Denn Tolman verfügte nicht über die nötigen Werkzeuge, um zu prüfen, ob im Gehirn der Tiere tatsächlich virtuelle Karten der Umgebung existierten.

Es dauerte rund 40 Jahre, bis sich die Existenz solcher mentaler Karten experimentell belegen ließ. In den 1950er Jahren ermöglichten neu entwickelte, extrem dünne Mikroelektroden erstmals, die elektrische Aktivität einzelner Neurone im Gehirn eines wachen Tiers aufzuzeichnen. Um Informationen weiterzuleiten, lösen die Zellen Aktionspotenziale aus – schlagartige Veränderungen der elektrischen Spannung der Zellmembran. Dadurch setzen sie an ihrem Ende Botenmoleküle frei: so genannte Neurotransmitter, die das Signal zum nächsten Neuron übertragen.

John O’Keefe vom University College London verwendete solche Mikroelektroden, um Aktionspotenziale im Hippocampus von Ratten zu registrieren. Diese Hirnstruktur spielt eine wichtige Rolle für das Gedächtnis. Wie O’Keefe 1971 berichtete, feuerten manche Nervenzellen in ihr immer dann, wenn sich eine Ratte an einer bestimmten Stelle im Versuchskäfig aufhielt. Er nannte diese Neurone deshalb Ortszellen. Der Forscher beobachtete, dass an verschiedenen Positionen im Käfig jeweils unterschiedliche Ortszellen aktiv wurden und dass das Aktivitätsmuster aller Ortszellen gemeinsam eine Art topografische Karte der Umgebung bildete. Anders ausgedrückt: Anhand des mit Hilfe von mehreren Elektroden erfassten Musters der Ortszellenaktivität lässt sich der jeweilige Aufenthaltsort des Tiers genau bestimmen. O’Keefe und sein Kollege Lynn Nadel – der jetzt an der University of Arizona forscht – schlugen daher 1978 vor, Ortszellen seien ein zentraler Bestandteil der von Tolman postulierten mentalen Karte.

Die Entdeckung der Ortszellen öffnete darüber hinaus erste Einblicke in die am tiefsten liegenden Teile der Großhirnrinde – weit entfernt von den sensorischen Regionen, die Signale der Sinnesorgane empfangen, und vom motorischen Kortex, der Bewegungen steuert. Denn als O’Keefe Ende der 1960er Jahre mit seinen Arbeiten begann, beschränkten sich die Kenntnisse über neuronale Aktivitäten noch überwiegend auf die primären sensorischen Areale, wo Sinneseindrücke wie Licht, Geräusche und Berührungen sie direkt auslösen.

Neurowissenschaftler vertraten damals die Auffassung, der Hippocampus wäre nicht unmittelbar genug mit den Sinnesorganen verbunden, als dass er ihre Signale auf eine Weise verarbeiten könnte, die sich mit Hilfe von Mikroelektroden erschließen lasse. Die neu entdeckten Zellen in dieser Hirnstruktur, deren Aktivität die Topografie der Außenwelt repräsentiert, widerlegte die Ansicht auf einen Schlag.

O’Keefes bemerkenswerter Fund wies darauf hin, dass Ortszellen eine Rolle bei der Navigation spielen. Doch es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis klar wurde, welche Funktion sie dabei tatsächlich erfüllen. Die Ortszellen liegen in einer Region namens CA1. Dort endet eine Signalkette, die anderswo im Hippocampus ihren Ursprung hat. Man vermutete daher, dass Ortszellen viele für die Navigation entscheidende Informationen aus den übrigen Bereichen des Hippocampus zusammenführen. Zu Beginn des neuen Jahrtausends beschlossen wir beide, diese Hypothese in unserem neuen Labor an der Norwegischen Universität für Wissenschaft und Technologie in Trondheim genauer zu untersuchen. Das Projekt führte uns schließlich zu einer Entdeckung mit weit reichenden Konsequenzen.

Die Nervenzellen feuerten munter weiter

Zusammen mit Menno Witter und einigen höchst kreativen Studenten zeichneten wir per Mikroelektroden die Signale von Ortszellen bei Ratten auf. Zuvor hatten wir aber in deren Hippocampus einen Teil jenes Schaltkreises zerstört, der diesen Neuronen Informationen schickt. Wir waren sicher: Die Experimente würden bestätigen, dass dieser Schaltkreis entscheidend für das korrekte Funktionieren der Ortszellen ist. Doch zu unserer Überraschung feuerten die Neurone munter weiter, sobald die Tiere bestimmte Stellen in ihrer Umgebung erreichten.

Offenbar sind Ortszellen also nicht auf die internen Verknüpfungen des Hippocampus angewiesen, um die Position im Raum zu bestimmen. Wir wandten unsere Aufmerksamkeit daher der einzigen neuronalen Verbindung zu, die wir in unserem Experiment nicht angerührt hatten. Diese führt direkt vom daneben liegenden »entorhinalen Kortex« zur CA1-Region.

Wieder registrierten wir mit Mikroelektroden die neuronale Aktivität, während die Tiere ähnliche Aufgaben ausführten wie bei unseren Studien zu Ortszellen. Diesmal steckten die Elektroden aber in einer Region des entorhinalen Kortex, die direkt mit solchen Hippocampusabschnitten verbunden ist, in denen sich laut vorangegangenen Untersuchungen Ortszellen befinden. Ähnlich wie diese feuerten viele Zellen des entorhinalen Kortex, wenn sich ein Tier an bestimmten Stellen im Käfig befand. Doch im Gegensatz zu den Ortszellen taten sie das nicht nur bei jeweils einer einzigen Position, sondern an vielen verschiedenen.

Dabei fiel vor allem die räumliche Verteilung dieser Stellen auf. Das grundlegende Muster entdeckten wir erst 2005, und zwar als wir das Versuchsareal schrittweise erweiterten, in dem wir unsere Experimente durchführten. Ab einer bestimmten Fläche zeigte sich: Die vielen Orte, an denen ein entorhinales Neuron bei einer herumlaufenden Ratte aktiv wird, bilden ein Muster von Sechsecken. Eine solche Zelle – wir tauften sie Gitterzelle (englisch: gridcell) – feuerte stets dann, wenn das Tier einen Eckpunkt dieses hexagonalen Gitters passierte.

Die von den Gitterzellen aufgespannten Sechseckmuster bedeckten die gesamte betrachtete Fläche der Umzäunung. Daher vermuteten wir, dass Gitterzellen im Unterschied zu Ortszellen Informationen über Distanz und Richtung vermitteln. Sie helfen dem Tier, die Änderungen seiner eigenen Position im Raum zu verfolgen, und zwar nur auf Grund innerer Signale, die es den Bewegungen seines Körpers entnimmt. Zusätzliche Informationen aus der Umgebung braucht es dazu nicht.

Daraufhin untersuchten wir die Aktivität von Neuronen in verschiedenen Regionen des entorhinalen Kortex und machten eine faszinierende Entdeckung: In dessen oberstem Teil – Fachleute sprechen vom dorsalen, also rückenwärts gelegenen entorhinalen Kortex – bilden die Gitterzellen Muster aus recht kleinen Sechsecken. Deren Umfang nahm aber schrittweise zu, je weiter wir uns mit den Elektroden der ventral (bauchwärts) gelegenen Unterseite des entorhinalen Kortex näherten. Offenbar lassen sich in dieser Hirnregion einzelne Module abgrenzen, deren Gitterzellen Karten mit jeweils unterschiedlicher Auflösung erzeugen. Die Maschenweite in benachbarten Modulen unterschied sich dabei regelmäßig um das etwa 1,4-Fache – also ungefähr der Quadratwurzel aus 2. Im obersten Modul des entorhinalen Kortex waren die Ecken eines Gittersechsecks ungefähr 30 bis 35 Zentimeter voneinander entfernt. Im nächstunteren Modul erreichte die Kantenlänge 42 bis 49 Zentimeter und so weiter, bis im untersten der Abstand der Eckpunkte mehrere Meter betrug.

Wir waren begeistert von der Entdeckung der Gitterzellen und ihrer klaren Organisation. In den meisten Regionen der Hirnrinde erscheinen die neuronalen Aktivitätsmuster nämlich chaotisch und kaum interpretierbar. Hier im entorhinalen Kortex fanden wir endlich ein System von Neuronen, die vorhersehbar und geordnet feuerten. Das wollten wir unbedingt genauer untersuchen. Doch sind Gitter- und Ortszellen nicht die einzigen Neurone, die Säugetiere zur Kartierung ihres Lebensraums nutzen – wir sollten weitere Überraschungen erleben.

Bereits in den 1980er und frühen 1990er Jahren hatten James B. Ranck und Jeffrey S. Taube vom Downstate Medical Center der State University of New York (SUNY) Neurone beschrieben, die feuern, wenn der Kopf eines Nagetiers in eine bestimmte Richtung weist. Diese Zellen lagen im Präsubiculum, einem weiteren Nachbarn des Hippocampus in der Hirnrinde. Wir entdeckten nun solche »Kopfrichtungszellen« auch im entorhinalen Kortex, eingestreut zwischen Gitterzellen. Viele arbeiteten sogar wie diese: Die Stellen, an denen sie aktiv wurden, bildeten ebenfalls ein Maschengitter; allerdings feuerten sie nur, wenn sich das Tier in eine bestimmte Richtung orientierte. Solche Zellen dienen also als eine Art Kompass in der jeweiligen Umgebung, haben aber nichts mit dem Erdmagnetfeld zu tun.

Anhand der Aktivität weniger »Geschwindigkeitszellen« können Forscher bestimmen, wie schnell das Tier läuft

Einige Jahre später, 2008, spürten wir im entorhinalen Kortex einen weiteren Neuronentyp auf. Diese »Grenzzellen« feuern, wenn das Tier sich einer Wand oder einem anderen Hindernis nähert. Offenbar berechnen sie, wie weit es davon entfernt ist.

2015 trat schließlich ein fünfter Typ von Orientierungszelle auf den Plan. Diese Neurone reagieren auf die Geschwindigkeit, mit der sich ein Tier bewegt, und zwar unabhängig von dessen aktueller Position und Bewegungsrichtung. Ihre Feuerrate nimmt proportional zum Tempo der Fortbewegung zu. Wir konnten sogar an der Aktivität einer Hand voll solcher »Geschwindigkeitszellen« ablesen, wie schnell sich ein Tier gerade bewegt. Zusammen mit den Kopfrichtungszellen könnten die Geschwindigkeitszellen die Aufgabe erfüllen, den Gitterzellen fortlaufend aktualisierte Informationen über die Positionsveränderungen des Tiers zu liefern, genau gesagt zu Tempo, Bewegungsrichtung und Distanz vom Ausgangspunkt.

Die Gitterzellen hatten wir entdeckt, als wir untersuchten, auf Grund welcher Informationen die Ortszellen ein inneres Bild von der Umgebung entwickeln. Heute wissen wir, dass Letztere Signale verschiedener Zelltypen des entorhinalen Kortex integrieren, um die bisherige Route und die aktuelle Bewegungsrichtung zu erfassen. Doch das ist noch nicht die ganze Wahrheit darüber, wie Säugetiere navigieren.

Anfangs konzentrierten wir uns auf den medialen (zentralen) Anteil des entorhinalen Kortex. Ortszellen könnten aber auch Signale von dessen lateralen (seitlichen) Regionen erhalten, die bereits vorverarbeitete Informationen von verschiedenen Sinnessystemen weiterleiten, unter anderem über Gerüche oder die Identität von Objekten. Auf diese Weise führen Ortszellen Signale aus den unterschiedlichsten Hirnregionen zusammen. In unserem Labor wie auch an anderen Instituten wird derzeit die komplexe Interaktion der im Hippocampus ankommenden Signale und die Bildung ortsspezifischer Gedächtnisinhalte erforscht – und zweifellos auch noch die nächsten Jahre.

Wie lässt sich herausfinden, wie die räumlichen Karten des entorhinalen Kortex und des Hippocampus bei der Orientierung im Raum zusammenarbeiten? Etwa indem man schaut, worin sie sich unterscheiden – beispielsweise in ihrer Anpassungsbereitschaft. John L. Kubie und der 2013 verstorbene Robert U. Muller vom SUNY Downstate Medical Center zeigten in den 1980er Jahren, dass komplett neue von Ortszellen erzeugte Karten im Hippocampus entstehen können, wenn das Tier in eine andere Umgebung gelangt. Dafür genügte bereits eine unterschiedliche Wandfarbe am selben Ort im selben Raum.

In unseren Laboren ließen wir Ratten in bis zu elf verschiedenen Umzäunungen nach Futter suchen. Für jede davon konstruierten die Tiere rasch eine eigenständige Karte. Das stützt die Hypothese, wonach der Hippocampus unterschiedliche Modelle erstellt, die zur jeweiligen spezifischen Umgebung passen.

Dagegen sind die Karten des medialen entorhinalen Kortex universell: Feuern Gitter-, Kopfrichtungs- und Grenzzellen an bestimmten Positionen in einer Umgebung gemeinsam, werden sie in einem anderen Umfeld an analogen Orten aktiv – ganz so, als würden die Koordinaten einfach auf die neue Situation übertragen. Bewegt sich beispielsweise das Tier in einem Raum Richtung Nordosten, feuern Zellen in der gleichen Abfolge, wie wenn es in einem anderen Raum in diese Richtung läuft.

Das Gehirn nutzt zum Orientieren also das Muster neuronaler Signale im entorhinalen Kortex. Diese Daten kommen dann in den Hippocampus, der damit eine spezifische Karte für die jeweilige Umgebung erstellt. Aus evolutionärer Sicht ist die Verwendung zweier Kartensysteme, die ihre Informationen integrieren, eine effziente Lösung für ein Navigationssystem. Die Gitter des entorhinalen Kortex, die Distanz und Richtung bestimmen, bleiben bei wechselnder Umgebung gleich. Dafür erstellen die Ortszellen des Hippocampus eine spezifische Karte für jeden einzelnen Raum.

Noch ist die Funktionsweise des neuronalen Navigationssystems nicht vollständig verstanden. Praktisch unser gesamtes Wissen über Orts- und Gitterzellen stammt von Aufzeichnungen neuronaler Aktivität, während ein Tier in einer artifiziellen Umwelt umherläuft – in Kästen mit ebenem Boden, die kaum als Orientierungspunkte geeignete Strukturen aufweisen.

Nach jeder Haarnadelkurve im Labyrinth erstellt das Gehirn ein neues Gittermuster

Diese Laborbedingungen unterscheiden sich drastisch von natürlichen Umgebungen, die sich laufend verändern und zahllose dreidimensionale Objekte enthalten. Arbeiten dort Orts- und Gitterzellen überhaupt auf die gleiche Weise? Experimente in komplexen Labyrinthen lieferten erste Erkenntnisse über die Funktion des neuronalen Navi in einer Umwelt, die dem natürlichen Lebensraum näherkommt. So zeichneten wir 2009 die Aktivität von Gitterzellen auf, während sich die Tiere durch ein Labyrinth bewegten, in dem am Ende jedes Wegs eine Haarnadelkurve zum nächsten Gang führt. Wie erwartet, erzeugten die Gitterzellen für jeden Gang hexagonale Muster, mit denen die Tiere die darin zurückgelegte Distanz kartierten. Nach jeder Kehrtwendung in einen neuen Gang erstellte das System ein komplett neues Gittermuster, als ob das Tier einen ganz anderen Raum betreten hätte.

Spätere Untersuchungen in offeneren Umgebungen ergaben, dass die Kartengitter in kleinere Abschnitte zerfallen, sobald der verfügbare Raum eine gewisse Größe überschreitet. Derzeit untersuchen wir, wie sich diese individuellen Teilkarten dann zu einer integrierten Karte eines größeren Areals zusammenfügen. Doch die experimentellen Bedingungen, unter denen wir diese Studien durchführen, sind gegenüber den natürlichen Verhältnissen immer noch stark vereinfacht: Die Versuchsräume sind flach und völlig eben. Beobachtungen anderer Arbeitsgruppen an fliegenden Fledermäusen oder in Käfigen herumkletternden Ratten ergaben erste Anhaltspunkte zur Navigation in dreidimensionalen Umgebungen: Orts- und Kopfrichtungszellen feuern auch hier nur an bestimmten Positionen; Ähnliches gilt vermutlich für Gitterzellen.

Das Navigationssystem des Hippocampus leistet jedoch noch weit mehr, als den Weg von A nach B zu finden.

Es empfängt nämlich nicht nur Informationen zur Position, Distanz und Richtung aus dem medialen entorhinalen Kortex, sondern zeichnet auch Objekte auf, die sich an einem bestimmten Ort befinden, und speichert Ereignisse, die dort stattgefunden haben. Das von den Ortszellen erstellte Modell der Umgebung enthält also Daten nicht nur über den Aufenthaltsort, sondern auch zu den Erfahrungen des Tiers – ähnlich wie es Tolman in seinem Konzept einer mentalen Karte postuliert hatte. Einige der zusätzlichen Informationen stammen von Neuronen des lateralen (seitlichen) entorhinalen Kortex. Dabei verknüpfen sich Details zu Objekten und Ereignissen mit den Koordinaten der Karte und werden als Gedächtnisinhalte abgelegt. Wird diese Erinnerung später aufgerufen, sind sowohl das Ereignis als auch seine Position auf der Karte wieder präsent.

Diese Kopplung von Orten und Erinnerungen ist vergleichbar mit einer Lerntechnik, die bereits die alten Griechen und Römer nutzten: der Loci-Methode. Sie erleichtert es, Listen von Einzelinformationen zu memorieren, indem der Lernende jedes einzelne Wort im Geist an einer bestimmten Stelle auf einem vertrauten Weg durch ein Haus oder eine Landschaft ablegt. Teilnehmer von Gedächtniswettbewerben verwenden diese Technik, um sich lange Abfolgen von Zahlen, Buchstaben oder Spielkarten zu merken.

Leider gehört der entorhinale Kortex zu den ersten Hirnarealen, deren Funktion bei der Alzheimerdemenz versagt: Die Neurone in diesem Teil der Hirnrinde sterben ab, weshalb eine Volumenabnahme des entorhinalen Kortex auf ein erhöhtes Alzheimerrisiko hindeutet. Entsprechend gilt orientierungsloses Umherirren als ein frühes Anzeichen der Alzheimerdemenz. In den späteren Stadien sterben dann auch Zellen des Hippocampus ab. Dadurch können sich die Patienten nicht mehr an Ereignisse erinnern oder an abstrakte Konzepte, wie zum Beispiel Farbbezeichnungen. Einer aktuellen Untersuchung zufolge funktionieren die Gitterzellnetzwerke schlechter bei jungen Menschen mit einer Genvariante, die das Alzheimerrisiko erhöht. Das könnte auch neue Möglichkeiten zur Frühdiagnose der Krankheit eröffnen.

Mehr als 80 Jahre nachdem Tolman erstmals postulierte, dass unser Gehirn eine mentale Karte der Umwelt erstellt, wissen wir nun: Ortszellen sind nur eine Komponente eines komplexen Systems des Gehirns zum Abbilden der räumlichen Umgebung mit dem Ziel, Position, Distanz, Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung zu bestimmen. Die hierfür benötigten Zelltypen haben Forscher inzwischen auch bei Fledermäusen, Affen und beim Menschen nachgewiesen. Dass sie bei ganz verschiedenen Säugergruppen vorkommen, legt nahe, dass diese Zellen schon früh in der Evolution der Säugetiere entstanden und ähnliche neuronale Funktionsprinzipien nutzen.

Das System zur räumlichen Darstellung der Umgebung gehört bereits zu den am besten verstandenen Netzwerken in der Hirnrinde der Säugetiere. Auch die Algorithmen, mit denen es arbeitet, sind zum Teil schon identifiziert. Wie so oft werfen die neuen Entdeckungen aber auch weitere Fragen auf. Zwar wissen wir jetzt, dass unser Gehirn Karten der Umwelt erstellt. Es ist jedoch noch unklar, wie deren Einzelkomponenten zusammenwirken, um ein kohärentes Gesamtbild zu erstellen, und wie andere Hirnteile auf Grund dieser Informationen über Ortsveränderungen und geeignete Routen entscheiden.

Viele andere Fragen sind ebenfalls noch offen. Gilt beispielsweise das neuronale Kartensystem des Hippocampus und des entorhinalen Kortex nur für die nähere Umgebung? Oder verwenden Tiere ihre Orts- und Gitterzellen auch über weitere Distanzen, etwa wenn Fledermäuse bei ihren Wanderungen Hunderte oder Tausende von Kilometern zurücklegen? Unsere bisherigen Untersuchungen mit Nagern können das nicht beantworten, denn dort beschränkten wir uns auf einen Radius von wenigen Metern.

Nicht zuletzt fragen wir uns natürlich, wie und wann Gitterzellen entstehen, ob es dafür eine kritische Phase in der Hirnentwicklung gibt und ob andere Wirbeltiere ebenfalls über ein ähnliches System aus Ortszellen und Gitterzellen verfügen – oder gar Wirbellose? In letzterem Fall wäre dieses Prinzip der neuronalen Kartierung bereits hunderte Millionen Jahre alt. Eines lässt sich aber mit Sicherheit sagen: Das Navigationssystem in unserem Gehirn wird die Forscher noch für Jahrzehnte beschäftigen.

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  • Quellen

Moser, E. I. et al.: Grid Cells and Cortical Representation. In: Nature Reviews Neuroscience 15, S. 466 – 481, 2014

Moser, E. I.: Grid Cells and the Entorhinal Map of Space. Vortrag zur Verleihung des Nobelpreises, 7. Dezember 2014.

Moser, M.-B.: Grid Cells, Place Cells and Memory. Vortrag zur Verleihung des Nobelpreises, 7. Dezember 2014.

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