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PI – die Story.

Aus dem Französischen von Manfred Stern. Birkhäuser, Basel 1999. 272 Seiten, DM 49,80.


Das Thema ist allgemein bekannt – die Kreiszahl þ ist Schulstoff – und nicht gerade neu. Schon Archimedes von Syrakus (287–212 v. Chr.) hatte das Verhältnis von Umfang zu Durchmesser eines Kreises über ein- und umbeschriebene regelmäßige Vielecke abgeschätzt. Wozu dann noch ein Buch?

Es gelingt Jean-Paul Delahaye, Mathematik-Professor an der Universität Lille (Frankreich), die Frage gar nicht erst aufkommen zu lassen. Er hat ein Werk mit eigenständiger Konzeption geschrieben, das die vorhandene Literatur abrundet und ergänzt.

Viel Raum nimmt die Geschichte ein, angefangen bei Euklid (um 340–260 v. Chr.), der die von Archimedes numerisch praktizierte Methode bereits theoretisch beschrieb. Da Delahaye wenig an einer quellenorientierten, treuen Darstellung der Geschichte gelegen ist, setzt er oft moderne Darstellungsmittel ein. Das wirkt manchmal anachronistisch, wenn er etwa von den "Formeln des Archimedes" spricht, und lässt wenig ahnen von den enormen rechnerischen Schwierigkeiten, die Archimedes zu überwinden hatte.

Die archimedische Methode blieb bis zu Beginn der Neuzeit in Gebrauch. Selbst Ludolph van Ceulen (1540–1610) verwendete sie noch für seine heroischen Berechnungen der Kreiszahl auf mehr als 30 Stellen. Ihm zu Ehren hieß þ im Deutschen lange Zeit "Ludolphsche Zahl". Eine grundsätzlich andere Vorgehensweise, die Isoperimetrie (man betrachtet regelmäßige n-Ecke gleichen Umfangs mit wachsender Eckenzahl nebst deren In- und Umkreisen), wurde 1450 von dem späteren Kardinal Nikolaus von Kues (1401–1464) eingeführt, Delahaye schreibt sie – ohne Quellenangabe – René Descartes (1596–1650) zu.

Die Neuzeit brachte dann – gestützt auf die Infinitesimalrechnung – grundsätzlich neue Ansätze. Der wichtigste von ihnen ist die Arkustangensreihe: James Gregory (1637–1675) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) fanden, dass der Arkustangens, die Umkehrfunktion des Tangens, sich durch eine unendliche Reihe ausdrücken lässt; insbesondere gilt für Pi die Formel PI = 4arctan(1)=4(1–1/3+1/5–1/7+…). Die Reihe war allerdings, wie Delahaye zu Recht bemerkt, schon dem indischen Mathematiker Madahva (um 1340–1425) bekannt.

Ähnlich wie die älteren Verfahren konvergiert auch diese Reihe langsam und ist deshalb für die praktische Berechnung von þ nur wenig brauchbar. Verbesserungen lassen sich erreichen durch Formeln wie PI = 4(arctan(1/5)–arctan(1/239)), welche 1706 John Machin (1680–1752) fand. Johann Heinrich Lambert (1728–1777) wies 1761 mit Hilfe einer Kettenbruchentwicklung nach, dass þ irrational, also nicht als Quotient zweier ganzer Zahlen darstellbar ist.

Breiten Raum gibt Delahaye den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, die wesentlich mit dem Computer verbunden sind: neue Reihendarstellungen wie die von Srinivasa Ramanujan und den Brüdern Chudnovsky (Spektrum der Wissenschaft 4/1988, S. 96) sowie die Theorie vom arithmetisch-geometrischen Mittel. Entgegen einer weit verbreiteten Ansicht sind die modernen Fortschritte keineswegs nur den Fortschritten in der Hardware zu verdanken. Delahaye schildert ausführlich, wie man die gewöhnliche Multiplikation langer Zahlen mit der schnellen Fourier-Transformation wesentlich effizienter ausführen kann, und wie die Methode der Konvergenzbeschleunigung aus der Madahva-Gregory-Leibniz-Reihe den effizienten Tröpfelalgorithmus macht (Spektrum der Wissenschaft 12/1995, S. 10). Das Buch ist in diesem Bereich erfreulich aktuell; es erwähnt bereits, dass erst im vorigen Jahr Kanada und Takahashi die Kreiszahl auf 68719470000 Stellen berechneten und damit einen neuen Weltrekord aufstellten, und dass einzelne Stellen der Dualbruchentwicklung von PI mit Hilfe der BBP–Formel (für Jonathan Borwein, Peter Borwein und Simon Plouffe) berechenbar sind (Spektrum der Wissenschaft 5/1997, S. 10).

Philosophie aus Anlass von PI.

Zum Schluss dringt Delahaye zu zentralen philosophischen Fragen vor. Zwischen der abstrakt-systematischen und der konkret-konstruktiven Zugangsweise zur Mathematik ("Platonismus" versus "Konstruktivismus") nimmt er eine vermittelnde Position ein (vergleiche seinen Artikel in Spektrum der Wissenschaft 12/1998, S. 46). Damit kommt er zurück zu den Ursprüngen: Konstruktionen mit Zirkel und Lineal und Quadratur des Kreises.

Die Darstellung ist spannend und gut lesbar, die deutsche Übersetzung mit wenigen Ausnahmen gelungen. Delahaye versteht es, im Haupttext elementar zu bleiben, sodass jeder interessierte Leser mit Kenntnis der gymnasialen Mathematik seinen Ausführungen zu folgen vermag. Zahlreiche Anhänge und das abschließende Kapitel "Tabellen, Formeln und weitere Informationen" liefern dann auf kleinem Raum eine Fülle weitergehenden Materials. Die Abbildungen sind mit großer Liebe zum Detail und in aller Regel farbig gestaltet. Leider fehlen bei den häufigen Zitaten Quellenangaben, und das Literaturverzeichnis könnte mehr deutschsprachige Titel (zum Beispiel die exzellente Quellensammlung von Ferdinand Rudio) berücksichtigen.

Ein missverständliches Detail bedarf gerade in Deutschland der Richtigstellung (S. 22): Edmund Landau (1877–1938), der berühmte Zahlentheoretiker in Göttingen, wurde nicht aus dem Dienst entlassen, weil er PI als erste positive Nullstelle der Sinusfunktion definierte, sondern weil er Jude war. Seine Gegner zitierten gelegentlich die genannte Definition, um die angebliche Unnatürlichkeit und Anschauungsferne der so genannten jüdischen Mathematik zu belegen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2000, Seite 104
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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