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Protonenwanderung im virtuellen Labor

In der Fabel besiegt der Igel den schnelleren Hasen beim Wettlauf, indem er nicht selbst losrennt, sondern eine „Doppelgängerin“ – seine Frau – am Ziel postiert. Mit einem ähnlichen Trick versetzt sich das Wasserstoff-Ion an entfernte Orte. Der genaue Mechanismus dieses Vorgangs konnte nach 200 Jahren durch quantenmechanische Computersimulation geklärt werden.


Der Transfer von Protonen (Wasserstoff-Ionen, H+) hat fundamentale Bedeutung in völlig verschiedenen Bereichen der Naturwissenschaften. Zum Beispiel treffen beim Lesen dieses Artikels Lichtquanten auf Ihre Netzhaut und lösen eine chemische Reaktion aus, bei der schließlich ein Proton wandert. Die dazu benötigte Energie liefert Adenosintriphosphat (ATP), dessen Synthese gleichfalls an einen Protonenfluß gekoppelt ist. Die Wanderung von Wasserstoff-Ionen ist aber auch ein wesentlicher Elementarprozeß in Brennstoffzellen, die vielleicht das Auto der Zukunft antreiben werden (siehe Spektrum der Wissenschaft, Juli 1995, Seite 88). Und selbstverständlich gehört der Mechanismus der Protonenmigration in wäßrigen Elektrolytlösungen zu den Grundfragen der Physikalischen Chemie.

Daß die Diffusion von Wasserstoff-Ionen nicht so ablaufen kann wie die gewöhnlicher Ionen – etwa von Natrium (Na+) oder Chlor (Cl-, Chlorid) in einer Kochsalzlösung – ergibt sich allein schon aus ihrer gut fünfmal so hohen Geschwindigkeit. Den Grund dafür erkannte vor fast 200 Jahren bereits der in Leipzig geborene Privatgelehrte Theodor Christian Johann Dietrich von Grotthuss (1785-1822) bei seinen galvanischen Experimenten – obwohl er noch davon ausging, daß Wasser die chemische Formel HO habe und nicht H2O. Schon 1806 postulierte er, daß "... alle Moleküle der Flüssigkeit ... zersetzt und sogleich wieder zusammengesetzt werden: woraus folgt, daß dieses Wasser, obwohl es dem Effekt der galvanischen Einwirkung ausgesetzt ist, immer Wasser bleibt."

Damit war die Idee der "Strukturdiffusion" – heute oft Grotthuss-Diffusion genannt – geboren. Nach moderner Vorstellung beruht sie darauf, daß ein Proton in Wasser nicht als nacktes H+ vorliegt, sondern sich mit einem Wassermolekül zu einem Oxonium-Ion (H3O+) verbindet. Dieses wird seinerseits in das dreidimensionale Netzwerk von Wasserstoffbrücken eingebunden und bildet einen Strukturdefekt. Ein Proton dieses H3O+-Defekts kann zu einem benachbarten Wassermolekül überwechseln, mit dem es durch eine Wasserstoffbrücke verknüpft ist. Dabei werden die Rollen der kovalenten chemischen Bindung und der viel schwächeren Wasserstoffbrückenbindung einfach ausgetauscht. Diese "Reaktion" kann sich fortsetzen, so daß der Strukturdefekt am Ende zum Beispiel um einen Nanometer gewandert ist, während sich jedes einzelne Atom nur einige Hunderstel dieser Strecke bewegt hat (Kasten unten).

Obwohl diese Beschreibung im wesentlichen zutrifft, ist die Realität noch weitaus komplizierter. Beispielsweise wird der elementare Schritt, bei dem ein Proton aus einem H3O+-Ion zu einem benachbarten Wassermolekül überwechselt, so daß Oa-H...Ob in Oa...H-Ob übergeht, durch eine Energiebarriere erschwert. Für deren Überwindung gibt es mehrere denkbare Mechanismen. Als der Physikochemiker Erich Hückel 1928 die erste quantitative Theorie der Protonendiffusion veröffentlichte, ging er davon aus, daß die Wasserstoff-Ionen ausschließlich mit ih-rer klassischen thermischen Energie über diese Barriere "hüpfen". Dagegen machten J. D. Bernal und R. H. Fowler von der Universität Cambridge (England) sowie unabhängig davon G. Wannier von der Universität Basel Anfang der dreißiger Jahre das rein quantenmechanische Tunneln der leichten Protonen durch den Energieberg für den elementaren Protonentransferschritt verantwortlich.

Eine aus moderner Sicht wegweisende, seinerzeit aber nicht beachtete und wohl auch nicht erkannte Alternative schlug Maurice L. Huggins von der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (Maryland) 1936 vor: Die Energiebarriere könnte durch geeignete Änderung des Abstands zwischen Oa und Ob aufgrund von Wärmebewegungen der Atome einfach verschwinden. Demnach würde das Proton in einer momentan günstigen Konfiguration des Strukturdefekts barrierelos von Oa nach Ob bewegt.


Welcher Komplex?



Eine ebenso schwierige fundamentale Frage ist, wie der Defekt eigentlich genau aussieht, das heißt wie ein überschüssiges Proton im Wasser "untergebracht" wird. Schon um das Jahr 1920 leitete der dänische Physikochemiker Niels Bjerrum (1879-1958) aus experimentellen Befunden ab, daß ein H3O+ im Mittel von acht Wassermolekülen umgeben sei und einen Komplex mit ihnen bilde.

Dagegen argumentierten Manfred Eigen, heute am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen, und Kollegen 1954 in einem Bjerrum zum 75. Geburtstag gewidmeten Artikel aufgrund thermodynamischer Messungen, daß ein H3O+-Ion nur mit drei H2O-Molekülen relativ fest über Wasserstoffbrücken verknüpft sei, wobei die Protonen innerhalb dieses H9O4+-Komplexes als praktisch frei beweglich gelten könnten (Bild links).

Georg Zundel und Kollegen von der Universität München schlossen aus schwingungsspektroskopischen Daten Ende der sechziger Jahre sogar auf einen noch kleineren H5O2+-Komplex, bei dem das Proton zwischen zwei Wassermolekülen gebunden ist, aber im Mittel keinem eindeutig zugeordnet werden kann (rechts unten im Bild).

Paul Giguère von der Université Laval in Québec (Kanada) schließlich verkündete noch 1979 emphatisch, daß H3O+ alleine die Infrarotspektren vollständig erklären könne. Zundels H5O2+-Komplex trete allenfalls beim Protonentransfer in Wasser als kurzlebiger, instabiler Übergangszustand am Gipfel der Energiebarriere auf.

Weder experimentell noch theoretisch konnte in den letzten Jahren viel zur Klärung dieser Frage beigetragen werden. Tiefere Einsichten versprechen neuerdings jedoch Computersimulationen, die in den vergangenen Jahrzehnten atemberaubende Fortschritte gemacht haben. Ein Meilenstein waren die sogenannten ab initio Simulationen, die Roberto Car und Michele Parrinello 1985 – damals an der International School for Advanced Studies in Triest (Italien) – einführten. Die Car-Parrinello-Methoden berechnen die Molekulardynamik allein auf der Basis der anerkannten Gesetze der Physik – ohne Rückgriff auf Modellvorstellungen oder an Experimente angepaßte Parameter. Sie liefern numerische Lösungen für die Schrödinger-Gleichung zur quantenmechanischen Beschreibung der Elektronen in Kombination mit den klassischen Newtonschen Bewegungsgleichungen für die Atomkerne.

Zwar erfordert die "exakte" Lösung der SchrödingerGleichung bei größeren Molekülen oder Festkörpern einen Rechenaufwand, der selbst mit den schnellsten heutigen Computern nicht zu bewältigen ist. Doch wurden im Laufe der Zeit sehr gute, numerisch brauchbare Näherungen ausgearbeitet; Walter Kohn von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara und John A. Pople von der Northwestern University in Evanston (Illinois) erhielten dafür 1998 den Nobelpreis für Chemie (siehe "Spektrum der Wissenschaft", Dezember 1998, S. 24). Auf diese Weise lassen sich heute Prozesse auf der Längenskala von etwa einem Nanometer (millionstel Millimeter) während einer Zeitdauer von mehreren Picosekunden (billionstel Sekunden) simulieren. Dies scheint hoffnungslos wenig, doch muß man die Relationen bedenken: Der mittlere Abstand zwischen zwei Sauerstoffatomen beträgt für Wasser bei Normalbedingungen auch nur knapp 0,3 Nanometer, und Wassermoleküle ändern ihre Rotationsrichtung innerhalb von etwa einer Picosekunde. Damit ist es heute möglich, die Migration von Protonen gleichsam im virtuellen Labor zu untersuchen.

Das haben Mark Tuckerman, Jürg Hutter, Michele Parrinello und ich am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart kürzlich mit einer verallgemeinerten Car-Parrinello-Technik getan (Nature Bd. 397, S. 601). Bei dieser "ab initio Pfadintegralmethode" werden auch die Atomkerne als quantenmechanische Teilchen behandelt. Rund einen Monat Rechenzeit brauchte der parallele Supercomputer der Max-Planck-Gesellschaft, um einen Vorgang mit brachialer Gewalt Schrittchen für Schrittchen zu errechnen, der in der Realität freiwillig in etwa einer Picosekunde abläuft.

Das Ergebnis war höchst aufschlußreich (Kasten auf S. 24). Demnach verändert der protonische Defekt während der Migration seine Struktur kontinuierlich. Zwar treten vorübergehend sowohl Eigen- als auch Zundel-Komplexe auf – allerdings lediglich im Sinne idealisierter Grenzfälle, die keine energetisch bevorzugten Zustände repräsentieren und praktisch ohne Energieaufwand ineinander überführbar sind. Damit ist der Streit, welcher der beiden Komplexe die Realität genauer widerspiegelt, gegenstandslos. Im übrigen kommt es durchaus vor, daß der Defekt aufgrund quantenmechanischer Effekte über mehrere Wasserstoffbrücken delokalisiert ist.


Der Beitrag der Quantenmechanik



Die Simulation lieferte weitere hochinteressante Erkenntnisse. Anders als im Experiment kann man im virtuellen Labor die quantenmechanische Komponente der Kernbewegung nämlich einfach "abschalten", um zu sehen, welche Auswirkungen sie hat und wie sich das System verhalten würde, wenn nur thermische Fluktuationen aufträten. Als Ergebnis zeigte sich, daß es die quantenmechanischen Nullpunktsschwingungen des Protons zwischen zwei Wassermolekülen sind, durch die der Zundel-Komplex energetisch gleichberechtigt mit dem Eigen-Komplex wird; im rein klassischen Grenzfall hätte er eine deutlich höhere Energie und wäre in der Tat nur ein kurzlebiger Übergangszustand im Verlauf des Protonentransfers.

Das bedeutet freilich nicht, daß die Protonenwanderung in Wasser ein makroskopisches Quantenphänomen wäre. Vielmehr spielt der quantenmechanische Tunneleffekt der Simulation zufolge keine bedeutende Rolle. Wie die Modellierung außerdem zeigt, ist es gar nicht entscheidend, wie schnell ein Proton zwischen zwei gegebenen Wassermolekülen hin und her oszilliert und dabei Eigen- und Zundel-Komplexe ineinander umwandelt. Über die Geschwindigkeit, mit welcher der Strukturdefekt wandert, bestimmen statt dessen die viel langsameren Fluktuationen der Wassermoleküle in der unmittelbaren Umgebung des Strukturdefekts, die gleichsam seine zweite Hülle im Netzwerk der Wasserstoffbrücken bilden. Diese Fluktuationen sind aber im wesentlichen thermischer – also klassischer – Natur, so daß der Einfluß der Quantenmechanik auf meßbare Größen wie die Leitfähigkeit und somit die Protonenmobilität recht gering sein sollte.

Angesichts der wichtigen Rolle, die der Protonentransfer auf den verschiedensten Gebieten spielt, dürfte seine erfolgreiche Quantensimulation Ausgangspunkt für weitere Fortschritte sein. Dazu zählt sicherlich die Aufklärung grundlegender chemisch-biologischer Prozesse, die sich nun gleichfalls numerisch untersuchen lassen. Aber auch praktische Anwendungen wie etwa die Brennstoffzelle können von einer genaueren Kenntnis der elementaren Prozesse in hohem Maße profitieren


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1999, Seite 21
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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