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Anästhesie: Risikomanagement im OP

Narkosen sind heute eher ungefährlich, doch ein Restrisiko bleibt. Um es zu minimieren, lernen Ärzte von der Luftfahrt.


Vom Frühgeborenen bis zum Greis gibt es heute für fast jeden Patienten ein angemessenes und sicheres Narkoseverfahren. Das war nicht immer so. Erst mit der Einführung der Vollnarkose und der örtlichen Betäubung Mitte des 19. Jahrhunderts wurde es möglich, Patienten schmerzfrei zu operieren. Alsbald zeigten sich jedoch auch Gefahren, die mit den neuen Methoden einhergingen: Patienten erstickten während der Narkose oder starben an plötzlichem Herzversagen. Nach dem Erwachen folgten oft schwere Übelkeit und anhaltendes Erbrechen. Langfristig konnten die Leber oder das Herz-Kreislauf-System Schaden nehmen.

Bessere Medikamente und Techniken haben diese Probleme weitgehend gelöst. Beispielsweise halten so genannte Trachealtuben hier zu Lande seit Ende des Zweiten Weltkrieges die Atemwege frei und verhindern das Ersticken. Heute lassen sich Vitalfunktionen wie Herzschlag, Blutdruck oder Sauerstoffsättigung des Blutes während der Betäubung kontinuierlich überwachen, kritische Entwicklungen rechtzeitig erkennen. Zudem obliegt die Durchführung der Narkose seit den 1950er Jahren einem Facharzt für Anästhesie – zuvor waren der Operateur oder sein Hilfspersonal dafür zuständig.

Doch trotz aller bemerkenswerten Fortschritte: Ein Restrisiko bleibt, als Folge einer Narkose Gesundheitsschäden zu erleiden oder gar dabei zu sterben. Um es weiter zu verringern, analysieren Forscher weltweit die Gefahren der Anästhesie. Dieser "Offenlegung" sollte ein systematisches Risikomanagement folgen, wie es in anderen sicherheitskritischen Arbeitsfeldern wie der Luftfahrt oder der Kerntechnik längst üblich ist.

Seit Mitte der 1980er Jahre werden in den USA, Australien und Europa Zwischenfälle während der Betäubung in groß angelegten wissenschaftlichen Studien erfasst. Eine wichtige Informationsquelle waren beispielsweise die Akten abgeschlossener Schadensfälle von Haftpflichtversicherern. Andere Studien werteten alle Zwischenfälle aus, die von Ärzten in ein freiwilliges und anonymisiertes Meldesystem eingegeben worden waren. Besondere Beachtung fand eine britische Untersuchung der näheren Umstände aller Todesfälle, die bei mehr als 500000 Operationen während der Narkose aufgetreten waren.

Trotz unterschiedlicher Krankenversorgungssysteme in den untersuchten Ländern kommen diese Analysen zu relativ einheitlichen Ergebnissen: Bei einer von rund 200000 Operationen ereignet sich ein tödlicher Zwischenfall, der einzig einem Anästhesiefehler zugeschrieben werden muss. (Zum Vergleich: Die Gesamtsterblichkeit lag bei eins pro 150 Operationen. Diese hohe Zahl ergibt sich aber vor allem dadurch, dass auch eher aussichtslose Fälle in der Statistik berücksichtigt werden.) Um das Zwanzigfache höher liegt die Rate an Narkosekomplikationen, die bleibende und teils schwere Folgen wie Lähmungen, Herzversagen oder Hirnschäden nach sich ziehen.

Als Hauptursache aller schweren Zwischenfälle gilt menschliches Versagen, auch darin stimmen die Analysen überein: Zwischen sechzig und achtzig Prozent aller Vorfälle beruhen demnach auf typischen Fehlern wie dem Verwechseln von Medikamenten, dem fehlerhaften Bedienen von Narkosegeräten oder dem Einsatz defekter Apparate.

Menschliches Versagen vermeiden

Wie aber können solche Irrtümer geschehen? Zwei Gründe scheinen besonders wichtig: falsches Einschätzen einer kritischen Situation und mangelnde Organisation von Personal und Abläufen, um eine solche Situation zu beherrschen. Zwar verfügen die meisten Anästhesisten sehr wohl über das theoretische Wissen, wie eine Krise zu lösen ist. Doch offenbar scheitern sie mitunter, diese Kenntnisse in die Tat umzusetzen. Abhilfe verspricht hier eine systematische Ausbildung im Krisenmanagement. Vorbilder können Konzepte zur Minimierung menschlicher Fehler sein, wie sie in der Luftfahrt längst gängige Praxis sind.

Auch dort verursacht menschliches Versagen sechzig bis achtzig Prozent aller Zwischenfälle. Wieder sind die typischen Fehler: mangelhafte Kommunikation (zwischen Besatzung und Fluglotsen oder zwischen den Crewmitgliedern selbst) sowie schlechte Nutzung verfügbarer Informationen und Ressourcen in kritischen Situationen. Deshalb entwickelten Ingenieure und Psychologen im Auftrag der Fluggesellschaften ein Konzept, das die Einzelgrößen "Mensch, Technik und Organisation" – kurz MTO – als Determinanten von Risiken begreift. Wenn etwa sicherheitsrelevante Bauteile zuverlässiger arbeiten oder kritische Regelabläufe in Gefahrensituationen automatisch ablaufen, verbessert das die Gesamtsicherheit der Technik. Ausreichendes und qualifiziertes Personal sowie Standardprozeduren und Katastrophenpläne optimieren den Bereich Organisation.

In der Luftfahrt werden Piloten kontinuierlich und systematisch entsprechend geschult. Zur Standardausbildung gehört beispielsweise immer wieder das "Crew Ressource Management" – eine Schulung der gesamten Crew im Simulator (siehe Spektrum der Wissenschaft, 7/1997, S. 66). Dabei werden Situationen simuliert, die nur durch eine funktionierende Kommunikation und Interaktion im Team sowie den effizienten Einsatz aller technischen Ressourcen zu beherrschen sind. Menschlichem Versagen kann wirksam vorgebeugt werden, wenn man diese Schlüsselfähigkeiten gezielt übt.

Nach einem allgemein akzeptierten Modell steigt die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe, wenn sich innerhalb eines Gesamtsystems mehrere fehlerhafte Gegebenheiten zu einer Fehlerkette verbinden. Fällt etwa bei einem mehrstrahligen Flugzeug ein einzelnes Triebwerk aus, ließe sich das rein technisch gut kompensieren. Reagiert die Crew aber zu spät oder falsch, kann die Fluglage instabil werden. Kommen noch weitere Probleme hinzu – etwa ein Unwetter oder fehlerhafte Informationen des Fluglotsen – droht der Absturz. Trotz der ursprünglich technischen Ursache wäre es dann eine Folge menschlichen Versagens.

Die Situation im Operationssaal ist mit diesem Szenario durchaus vergleichbar. Ein unerwarteter Blutverlust lässt sich relativ leicht ausgleichen. Wird er aber zu spät erkannt oder falsch eingeschätzt, kann sich der Zustand des Patienten destabilisieren. Kommen noch weitere Fehler hinzu – etwa mangelnde Kommunikation oder ein Mangel an Blutkonserven im OP auf Grund schlechter Planung –, drohen bleibende Schäden oder sogar Tod.

Simulatortraining für den Narkosearzt

Um solche tragischen Fehlerketten zu vermeiden, entwickeln wir in Heidelberg ein "Sicherheitssystem Anästhesie", das sich ebenfalls an den Einzelgrößen Mensch, Technik und Organisation orientiert. Im Bereich Technik bedeutet das natürlich, alle Geräte funktionstüchtig und auf dem jeweils neuesten Sicherheitsstandard zu halten. Dem aktuellen Stand der Technik sollte auch die Informationsverarbeitung entsprechen – etwa das Management von Patientendaten oder die Telekommunikation. Im Bereich Organisation können Abläufe besser strukturiert oder das Personal durch gezielte Qualifikationsmaßnahmen optimal auf die speziellen Erfordernisse vorbereitet werden. Die Hauptquelle möglicher Zwischenfälle bei der Narkose ist aber der Anästhesist selbst. Ihm mangelt es nicht an Wissen und Können, sondern daran, seine Fähigkeiten in der realen Krisensituation effektiv umzusetzen. Diese "non technical skills" versuchen wir mit speziellem Training zu fördern: Wie Piloten im Simulator üben unsere Anästhesisten in realistischer Operationsatmosphäre ein adäquates Verhalten an lebensechten Patientendummies. In einer simulierten OP-Szene konfrontieren wir den Narkosearzt beispielsweise mit einer lebensbedrohlichen allergischen Reaktion seines Patienten. Ohne Zaudern muss er die richtigen Medikamente auswählen, mit dem Chirurgen und der Anästhesieschwester handlungsorientiert kommunizieren und Prioritäten für den weiteren Verlauf der Operation setzen.

Während des Trainings erlebt der Arzt seine Stärken, Schwächen und Grenzen. Speziell geschulte Instruktoren achten bei der Analyse des Trainings insbesondere auf Kommunikation, Führungsverhalten, Delegation und Ressourcenmanagement und erarbeiten gemeinsam mit dem Narkosearzt notwendige Verbesserungen. Während der Simulation erlebt der Trainee zudem verschiedene Szenarien aus unterschiedlichen Positionen. Er kann aktiv und zeitnah rückkoppeln und mit Hilfe dieses "Acute Crisis Ressource Managments" seine Kompetenz nach und nach steigern. Der Aufwand ist erheblich, doch der Erfolg kommt allen Beteiligten zugute – in erster Linie den Patienten.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2003, Seite 104
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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