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Informatik: Roboter, die sich selbst vermehren

Was Karnickeln nicht schwer fällt, scheint für künstlich hergestellte Dinge unmöglich - bislang. Computersimulationen weisen neue Wege zu Maschinen, die sich selbst fortpflanzen können.


Aus einem Apfelkern entsteht ein Apfelbaum mit Äpfeln, die ihrerseits Apfelkerne enthalten. Letzten Endes reproduziert der Apfelkern sich selbst – eine Fähigkeit, die heute noch keine Maschine hat. Typischerweise ist der Apparat zur Produktion einer Maschine sogar weit komplizierter als die Maschine selbst. Können wir ein künstliches Ding mit der Fähigkeit ausstatten, eine Kopie seiner selbst herzustellen?

Die historische Antwort auf diese Frage ist ein klares Nein. Die Fähigkeit zur Selbstvermehrung galt sogar seit jeher als ein entscheidender Unterschied zwischen Belebtem und Unbelebtem. Wie Lebewe-sen sich reproduzieren, war mit einer Au-ra des Geheimnisvollen umgeben – in der Vergangenheit wegen mangelnder Kenntnisse noch mehr als heute; umso abwegiger erschien es, dass je ein künstliches Objekt diese Fähigkeit erlangen könnte. Als der Mathematiker und Philosoph René Descartes (1596-1650) der Königin Christina von Schweden erklärte, Tiere seien im Wesentlichen eine Art mechanischer Automaten, soll diese auf eine Uhr gezeigt und entgegnet haben: "Dann seht zu, dass sie Nachkommen hat!"

In der Mitte des vergangenen Jahrhunderts gelang es dem genialen Mathematiker und Physiker John von Neumann (1903-1957), die bis dahin philosophische Frage zu einer Angelegenheit von Wissenschaft und Technik zu machen, indem er theoretisch ausarbeitete, wie eine selbstreplizierende Maschine beschaffen sein könnte. Einige Wissenschaftler haben rudimentäre Versionen solcher Maschinen tatsächlich hergestellt, zum Beispiel – aus Sperrholz – vor gut vierzig Jahren der britische Genetiker Lionel Penrose und sein Sohn Roger, der später als Physiker berühmt wurde. Aber die Realität ist so schwierig, dass die meisten Forscher sich bis heute auf die von John von Neumann entwickelte theoretische Version beschränken: zweidimensionale zelluläre Automaten.

Ein zellulärer Automat ist im Grunde eine äußerst schlichte Welt mit Naturgesetzen, die der Konstrukteur selbst bestimmen kann. Realisiert wird sie als Computerprogramm. Da Gegenstände in dieser virtuellen Welt weitaus einfacher zu handhaben sind als in der echten – so braucht man sich um ihre Energieversorgung und ihre Stabilität keine Gedanken zu machen –, können die Forscher sich auf die grundlegenden Fragen des Informationsflusses konzentrieren. Wie können sich lebende Organismen ohne Hilfe fortpflanzen, während mechanische Objekte von Menschen konstruiert werden müssen? Wie ergibt sich die Replikation aus den unzähligen Wechselbeziehungen zwischen Gewebe, Zellen und Molekülen in einem Organismus? Wie konnte die Evolution im Darwin’schen Sinne die Selbstreplikation begünstigen oder überhaupt erst entstehen lassen?

Diese Fragen sind nicht nur von philosophischem Interesse. Erste Antworten führten bereits zur Entwicklung sich selbst reparierender Siliziumchips. Nanotechnologie-Forscher weisen seit jeher darauf hin, dass ihre nur wenige Moleküle großen Maschinen sich im Wesentlichen selbst zusammenbauen müssen: Eine Maschine, die eine Nanomaschine zusammenschraubt, wäre ihrerseits eine Nanomaschine, was das Konstruktionsproblem nur verlagern würde. Verfechter einer Besiedlung des Weltraums stellen sich als Vorhut Roboter vor, die – etwa auf dem Mars – unter Verwendung lokaler Materialien weitere Roboter herstellen. Jüngste Fortschritte lassen diese futuristischen Ideen glaubhaft klingen.

Wie in der Gentechnik, der Kernenergie und der Großchemie hat die Forschung zweierlei Probleme zugleich zu lösen: Die Selbstvermehrung von Maschinen muss funktionieren, und es ist zu verhindern, dass sie außer Rand und Band gerät.

Sciencefiction-Romane stellen die Selbstvermehrung einer Maschine gerne als natürliche Fortentwicklung der heutigen Technik dar, verschweigen aber das entscheidende Problem: Wie vermeidet man den unendlichen Regress? Nehmen wir an, ein System sei in der Lage, mittels eines Bauplans, das heißt einer Beschreibung seiner selbst, eine perfekte Kopie von sich herzustellen. Der Bauplan darf zwar physisch kleiner sein als das gesamte System, muss aber dessen gesamte Information enthalten.

Der Bauplan des Bauplans

Offensichtlich ist dieser Bauplan Teil des Systems und muss daher mit repliziert werden. Ein Teil der Beschreibung des Systems, nämlich die Beschreibung des Bauplans, müsste also mindestens so viel Information enthalten wie die Beschreibung des Gesamtsystems. Wie kann das sein? Anders gefragt: Was ist der Bauplan des Bauplans? Und was der Bauplan des Bauplans des Bauplans?

Es ist so, als müsste ein Architekt eine perfekte Kopie seines Büros bauen lassen, mit Hilfe eines Bauplans, der ebenfalls im Architekturbüro steckt. Der Bauplan müsste eine Miniaturversion des Bauplans enthalten, welcher wiede-rum eine Minikopie des Bauplans enthält, und so weiter. Ohne diese Information wäre es unmöglich, das Büro bis ins Kleinste nachzubauen; es bliebe eine leere Stelle dort, wo der Bauplan war.

Von Neumanns große Leistung bestand darin, einen Ausweg aus dem unendlichen Regress zu finden. Er erkannte, dass die Selbstbeschreibung eines Systems doppelt genutzt werden kann: erstens als Anleitung zur Herstellung einer identischen Kopie des Systems, und zweitens als Daten, die unverändert kopiert und dem neuen System mitgegeben werden, sodass es ebenfalls die Fähigkeit zur Selbstreplikation erhält. Dank diesem Zwei-Phasen-Prozess braucht die Selbstbeschreibung keine Beschreibung ihrer selbst zu enthalten. In unserem Beispiel würde der Bauplan des Architekturbüros eine Bauanleitung für ein Kopiergerät enthalten. Sobald das neue Büro und der Kopierer gebaut sind, würden die Bauarbeiter einfach eine Kopie der Baupläne herstellen und im neuen Büro ablegen.

Genau diesen doppelten Gebrauch machen lebende Zellen von ihrer Selbstbeschreibung (ihrem Genom), die in Form von DNA im Zellkern abgelegt ist: Erstens wird die DNA als Bauplan zur Herstellung von Proteinen verwendet; zweitens wird sie bei der Zellteilung unverändert kopiert und je ein Exemplar den Tochterzellen mitgegeben. Von Neumann erkannte dieses Prinzip, noch bevor den Biologen die Rolle der DNA klar war, und seine Ergebnisse gaben ihnen entscheidende Denkanstöße.

Um seine Ideen zu demonstrieren, entwickelten von Neumann und der Mathematiker Stanislaw M. Ulam das Konzept des (zweidimensionalen) zellulären Automaten. Es handelt sich um ein beliebig ausgedehntes Schachbrett. Jedes seiner Felder (jede "Zelle") ist entweder leer oder befindet sich in einem von mehreren möglichen Zuständen. Mit jedem Ticken einer gedachten Uhr ändert sich der Zustand einer jeden Zelle in Abhängigkeit von ihrem bisherigen Zustand und dem ihrer Nachbarn. Diese Zustandsänderung folgt einigen relativ einfachen Regeln, die für alle Zellen gleich sind. Die Regeln bilden die Naturgesetze dieser Primitivwelt.

Zelluläre Automaten

Wie in der echten Welt sind alle Wechselwirkungen lokaler Natur: Eine Zelle wird nur von dem beeinflusst (erhält nur Information über das), was sich in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft abspielt. Weit voneinander entfernte Zellen können nur vermittels der dazwischen liegenden Zellen aufeinander einwirken.

Die scheinbare Einfachheit zellulärer Automaten trügt: Ihr Verhalten ist alles andere als langweilig. Der berühmteste unter ihnen, John Horton Conways "Spiel des Lebens" (game of life) vom Anfang der siebziger Jahre (SdW 11/1998, S. 112), erzeugt erstaunlich komplexe Muster. Viele Aussagen über das Verhalten zellulärer Automaten sind formal nicht entscheidbar; das heißt, es gibt keinen kürzeren Weg, ein Muster der Zukunft vorherzusagen, als das Verhalten explizit zu simulieren (vergleiche die Diskussion von Langtons Ameisen in SdW 8/1995, S. 10, 9/1995, S. 12 und 10/1995, S. 10). Auf seine Weise kann ein zellulärer Automat so komplex sein wie die echte Welt.

Insbesondere gibt es in der Welt der zellulären Automaten so etwas wie Fortbewegung. Es kommt nämlich vor, dass ein Muster wandert, das heißt nach einer gewissen Zahl von Zeitschritten in genau derselben Gestalt wieder erscheint, nur um ein paar Felder in irgendeiner Richtung versetzt. Wie in der klassischen Mechanik bewegt sich das Muster in der Folge dann geradlinig und gleichförmig fort, bis es auf ein Hindernis trifft.

Was bedeutet nun Selbstvermehrung in der Welt eines zellulären Automaten? Wir haben die Freiheit, eine beliebige Gruppe von Zellen als eine "Maschine" aufzufassen. Wenn nun der Lauf der Welt, sprich die deterministische Zeitentwicklung des Automaten nach den Regeln, dazu führt, dass in der näheren Umgebung einer Maschine eine exakte Kopie von ihr entsteht und sie selbst in den Ursprungszustand zurückkehrt, dann hat sie sich offensichtlich selbst repliziert. Von Neumann hatte theoretisch eine solche Maschine in seinem zellulären Automaten entworfen. Sie enthielt ihrerseits eine Maschine, den Universal Constructor, der mit einer geeigneten Folge von Anweisungen jedes beliebige Muster herstellen kann. Der Constructor bestand aus verschiedensten Bauteilen, die sich über zehntausende Zellen erstreckten und deren Definition ein Manuskript in Buchlänge erforderte. Wegen seiner Komplexität ist er bis heute nie vollständig simuliert, geschweige denn gebaut worden. Ein Constructor in der Welt des "Game of Life" wäre noch komplizierter, da Funktionen, die in von Neumanns Modell von einer einzigen Zelle ausgeführt werden – darunter Signalübertragung und Herstellung neuer Bauteile –, nun ganze Zellkomplexe erfordern würden.

Am anderen Ende der Komplexitätsskala ist es sehr einfach, Beispiele für Selbstreplikation zu finden. Eines wäre ein zellulärer Automat, dessen Zellen außer dem leeren Zustand nur einen anderen kennen; nennen wir ihn "+". Das Naturgesetz ist ebenfalls sehr einfach: Wenn unter den vier Nachbarn einer Zelle genau ein + ist, dann wird sie ebenfalls +; ansonsten wird sie leer. Ein einsames + auf weiter Flur wird im ersten Zeitschritt zu vier identischen Nachkommen, die in den folgenden Zeitschritten ebenfalls Nachwuchs bekommen, und so weiter.

Die Pluszeichen wachsen zwar wie Unkraut; gleichwohl würde man kaum von Selbstreplikation reden, da es keine nennenswerte Maschine gibt. Was aber unterscheidet eine "nennenswerte" Maschine von einer Gruppe Zellen, die sich nur deshalb vermehrt, weil das schon in den "Naturgesetzen" steckt? Bisher weiß niemand darauf eine gute Antwort. Offensichtlich muss jedoch die Kopiervorrichtung eine gewisse minimale Komplexität aufweisen. So muss sie aus mehreren verschiedenen Komponenten bestehen, deren Zusammenwirken den Replikationsprozess ablaufen lässt: das sprichwörtliche Ganze, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Eine dieser Komponenten muss die Selbstbeschreibung sein, die innerhalb der vermehrungsfähigen Struktur abgelegt ist.

Seit von Neumanns bahnbrechender Arbeit haben viele Forscher das weite Feld zwischen dem Komplexen und dem Trivialen erkundet. Ein großer Schritt in Richtung einer Vereinfachung gelang 1984 Christopher G. Langton an der Universität von Michigan in Ann Arbor. Er bemerkte, dass schleifenförmige Speicher, die bereits in früheren selbstreplizierenden Maschinen enthalten waren, so programmiert werden können, dass sie sich selbst fortpflanzen.

Solche Speicher bestehen gewöhnlich aus zwei Teilsystemen: der Schleife selbst, das ist eine Reihe von Elementen, die den Rand eines rechteckigen Gebiets entlangwandern, und einem Konstruktionsarm (dem "Ausleger"), der von einer Ecke des Rechtecks nach außen ragt. Die wandernden Elemente enthalten Anweisungen für ihre eigene Fortbewegung in der Schleife. Sowie sie den Konstruktionsarm erreichen, werden sie durch die Wirkung der Regeln dupliziert. Das Original wandert weiter durch die Schleife, während die Kopie durch den Ausleger geht, wo sie als Folge von Anweisungen interpretiert wird.

Selbstreplizierende Schleifen

Indem Langton im Gegensatz zu von Neumann nicht darauf bestand, dass seine Maschinen jedes geforderte Muster herstellen können, gelang ihm die Konstruktion eines Replikators aus sieben Komponenten in nur 86 Zellen. Einer von uns (Reggia) hat mit unseren Kollegen sogar noch kleinere und einfachere selbstreplizierende Schleifen gebaut (Kasten Seite 28/29). Da sie aus meh-reren wechselwirkenden Komponenten bestehen und eine Selbstbeschreibung enthalten, sind sie nicht trivial. Erstaun-licherweise spielt Asymmetrie eine unerwartete Rolle: Die Regeln, welche die Vermehrung steuern, können oft einfacher gehalten werden, wenn die Komponenten nicht rotationssymmetrisch sind.

Alle diese selbstreplizierenden Struk-turen wurden mit viel Fantasie und He-rumprobieren konstruiert. Dies ist ein mühevoller und oftmals frustrierender Prozess: Kleine Änderungen in den Regeln führen zu einem vollkommen verschiedenen globalen Verhalten – meist zur Zerstörung der aufwendig konstruierten Struktur. Neuere Arbeiten schlagen daher einen anderen Weg ein. Statt die Regeln für das Funktionieren eines bestimmten Maschinentyps zurechtzubasteln, spielen die Forscher "Schöpfer": Sie definieren verschiedene Naturgesetze, füllen ihre zellulären Automaten mit zufällig ausgewählten Elementen (der "Ursuppe") und warten ab, ob Selbstreplikatoren sich spontan herausbilden.

Hui-Hsien Chou, heute an der Staatsuniversität von Iowa, und Reggia bemerkten 1997, dass selbstreplizierende Schleifen regelmäßig erscheinen, wenn die Konzentration der freien Komponenten einen gewissen Schwellenwert überschreitet. Kollidierende Schleifen vernichten sich gegenseitig, sodass sich ein stetes Wechselspiel von Geburt und Tod ergibt. Im Laufe der Zeit vermehren sich manche Schleifen, wachsen und mutieren unter dem Einfluss von Bruchstücken früherer Zusammenstöße. Obwohl die Automatenregeln deterministisch sind, können diese Mutationen wegen der Komplexität des Systems und der zufälligen Anfangspositionen der Elemente als zufällig angesehen werden.

Solche Schleifen sind zwar als abstrakte Maschinen gedacht und nicht als Modell für etwas Biologisches; gleichwohl ist es interessant, sie mit molekularbiologischen Strukturen zu vergleichen. Eine Schleife hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der ringförmigen DNA eines Bakteriums und der Konstruktionsarm mit dem Enzym, das deren Replikation katalysiert. Überzeugender ist der Vergleich auf einer abstrakteren Ebene: Einfache lokale Wechselwirkungen können zu komplexem globalem Verhalten führen. Die Bestandteile zellulärer Automaten scheinen einem klassischen Spruch der Alternativen zu folgen: Lokal handeln – global denken. Im weitesten Sinne trifft dies auch auf die Molekularbiologie zu.

In einem neueren Computerexperiment variierten Jason Lohn, inzwischen am Ames-Forschungszentrum der Nasa, und Reggia statt der Strukturen die Regeln. Es gelang ihnen, zu jedem zufällig gewählten Block aus vier Komponenten Regeln zu finden, unter denen sich dieser Block selbst repliziert. Diese Regeln fanden sie mit einem Optimierungsverfahren, das der Evolution nachempfunden ist: einem genetischen Algorithmus (SdW 9/1992, S. 44).

Evolution zur besten aller möglichen Welten

Wie jedes Optimierungsverfahren soll auch dieses eine Struktur (in diesem Falle die Regeln) so variieren, dass sie eine gegebene Anforderung (hier die Replikationsfähigkeit) optimal erfüllt. Ein genetischer Algorithmus lässt stets mehrere Exemplare dieser Struktur gegeneinander konkurrieren, verwirft die ungeeigneten und entwickelt die geeigneten weiter, durch Mutation und eine Art "Kreuzung", bei der die Eigenschaften beider Partner gemischt werden. Nur: Was ist in diesem Falle ein brauchbarer Maßstab für Eignung (fitness)? Die Replikationsfähigkeit selbst kann es nicht sein, da wohl kaum eine der konkurrierenden Strukturen von Anfang an darüber verfügt. Es ist dasselbe Problem, das sich auch den Evolutionsbiologen stellt: Wenn erst eine voll ausgebildete Fähigkeit einen Selektionsvorteil bringt, aber keine ihrer Vorformen: Wie kann dann die Evolution die Entstehung dieser Fähigkeit begünstigen?

Für unser pseudobiologisches Problem fanden wir schließlich ein geeignetes Fitnessmaß. Es bestand in der gewichteten Summe dreier Kenngrößen:

- eine unspezifische Vermehrungsrate: das Ausmaß, in dem jeder Elementtyp mehr von seinesgleichen hervorbringt;

- ein Maß für den Zusammenhalt: das Ausmaß, in dem benachbarte Elemente über mehrere Zeitschritte hinweg zusammenbleiben; und

- ein Maß für die Anzahl der tatsächlich vorhandenen Replikatoren, das heißt selbstreplizierenden Teilstrukturen.

Mit der richtigen Fitnessfunktion kann die "Evolution" eines genetischen Algorithmus in ungefähr 150 Generationen aus unfruchtbaren Regelsystemen fruchtbare machen. Wohlgemerkt: Es sind nicht die Strukturen selbst, die der Evolution unterworfen sind, sondern ganze Welten mit ihren jeweils eigenen Naturgesetzen.

Die so gefundenen Replikatoren funktionieren auf völlig neue Art. Sie wandern und legen unterwegs Kopien ihrer selbst ab, anders als die in der Regel ortsfesten replizierenden Schleifen. Sie bestehen aus mehreren lokal wechselwirkenden Komponenten, enthalten jedoch keine abgrenzbare Selbstbeschreibung, kein "Genom". Genau das, nämlich Vermehrung ohne abgrenzbares Genom, müssen die frühen Vorformen des Lebens auch bewerkstelligt haben. Insofern studieren wir in unseren künstlichen Welten ein Zwischending zwischen Belebtem und Unbelebtem.

Viele Forscher haben sich neben den traditionellen zellulären Automaten an anderen mathematischen Modellen versucht. In asynchronen zellulären Automaten ändern die Zellen ihren Zustand nicht nach einem zentralen Zeittakt; in nicht-uniformen Automaten gelten an verschiedenen Plätzen verschiedene Regeln. Ein völlig anderes Konzept steckt hinter dem "Krieg der Kerne" (core war, vergleiche SdW 1/1993, S. 10) und seinen Nachfolgern, wie dem System "Tierra" des Ökologen Thomas S. Ray. Die "Organismen" in diesen Computersimulationen sind Programme, die um Speicherplatz und Rechenzeit konkurrieren. Ray beobachtete die Herausbildung von "Parasiten", Computerviren in einem sehr direkten Sinne, die sich des Replikationscodes anderer Organismen bemächtigen.

Aus der virtuellen in die echte Welt

Was hat man nun von diesen Maschinen? Von Neumanns Universal Constructor ist zwar außer zur Vermehrung auch zum Rechnen fähig, aber doch ein unhandliches Monster. Die Entwicklung einfacherer, dennoch nützlicher Replikatoren war daher ein großer Fortschritt. Gianluca Tempesti von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne vereinfachte 1995 die Selbstbeschreibung einer Schleife, sodass sie mit einem kleinen Programm verschachtelt werden konnte – das in diesem Falle den abgekürzten Namen seines Institutes LSL (Logic Systems Laboratory) in den zellulären Automaten schreibt. Er erfand Regelsysteme, unter denen sich eine Schleife in zwei Schritten vermehrt. Wie Langtons Vorbild stellt sie zunächst eine Kopie von sich her. Die Tochterschleife sendet danach ein Signal zur Mutter, woraufhin diese ihre Arbeit verrichtet, nämlich die drei Buchstaben zu schreiben.

Im folgenden Jahr entwickelten Jean-Yves Perrier, Jacques Zahnd und einer von uns (Sipper) eine selbstreplizierende Schleife mit der Fähigkeiten einer universellen Turing-Maschine – ein äußerst primitiver, aber voll funktionstüchtiger Computer. Unsere Maschine arbeitet mit zwei "Bändern", das sind lange Ketten von Elementen, von denen eine das Programm, die andere die Daten enthält. Die Schleifen können sowohl beliebige Programme ausführen als auch sich selbst replizieren. In gewissem Sinne sind sie so komplex wie der Computer, der den ganzen zellulären Automaten und damit auch die Schleifen simuliert. Ihre wesentliche Beschränkung besteht darin, dass das Programm unverändert in die Tochterschleife kopiert wird, sodass alle Schleifen dasselbe tun.

Chou und Reggia überwanden 1998 auch diese Schranke. Sie zeigten, wie selbstreplizierende Schleifen mit individuell verschiedenen Informationen anstelle geklonter Programme zur Lösung des so genannten Erfüllbarkeitsproblems eingesetzt werden können: Gesucht sind Werte für die Variablen eines logischen Ausdrucks (das heißt einer Formel, die diese Variablen mit den logischen Operationen "und", "oder" und "nicht" auf beliebig komplizierte Weise verknüpft), sodass der gesamte Ausdruck den Wert "wahr" erhält. Dieses Problem ist NP-vollständig, das heißt, es gehört zusammen mit dem Rundreiseproblem (travelling salesman problem) zu einer Gruppe schwieriger Probleme, für die keine effiziente Lösung bekannt ist. In Chous und Reggias Automatenuniversum erhält jeder Replikator einen anderen Kandidaten für eine Lösung. Während des Replikationsprozesses mutieren diese Lösungsversuche; Replikatoren mit viel versprechenden Lösungen dürfen sich fortpflanzen, während die Versager aussterben.

Einige Forscher haben sogar zellu-läre Automaten in elektronischer Hardware gebaut, statt sie zu simulieren, aber für praktische Zwecke ist das ein viel zu hoher Materialaufwand; dafür waren sie auch nie gedacht. Ihr Zweck ist vielmehr, die der Replikation zu Grunde liegenden Prinzipien herauszuarbeiten und dadurch zu konkreteren Anstrengungen zu inspirieren.

Eine Arbeitsgruppe der Nasa unter Leitung von Robert Freitas jr. schlug 1980 vor, auf dem Mond eine selbstreplizierende Fabrik zu installieren, die unter Verwendung von Mondmaterial ein großes Gebiet mit immer größerer Geschwindigkeit besiedelt. Eine ähnliche Sonde könnte die gesamte Galaxie bevölkern, argumentiert der Physiker Frank J. Tipler von der Tulane-Universität in New Orleans, der durch seine "Physik der Unsterblichkeit" Aufsehen erregt hat. Hod Lipson von der Cornell-Universität und Jordan B. Pollack von der Brandeis-Universität haben mit Primitiv-Robotern experimentiert, die ihre eigenen Nachkommen – bis zu einem gewissen Grade – selbst zusammenbauen. Diese Systeme sind zwar nicht selbstreplizierend im eigentlichen Sinne, da der Nachwuchs viel einfacher gebaut ist als die Eltern; dennoch kommt man mit ihnen der eingangs erwähnten Forderung der schwedischen Königin schon näher.

Sowie selbstreplizierende physikalische Maschinen technisch möglich werden, gewinnt auch die Horrorvorstellung von den künstlichen Kreaturen, welche die natürlichen verdrängen, an Realität. Wir ziehen das optimistischere und plausiblere Szenario vor, in welchem die Replikatoren zum Wohle der Menschheit eingesetzt werden. Als der englische Philosoph William von Ockham im 14. Jahrhundert empfahl: entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem – "Wesenheiten sind nicht über das Notwendige hinaus zu vermehren", meinte er mit entia zwar eher theoretische Konzepte; aber bezogen auf unsere fruchtbaren Roboter sollten wir seine Empfehlung gleichfalls beherzigen.

Literaturhinweise


Towards Robust Integrated Circuits: The Embryonic Approach. Von D. Mange et al. in: Proceedings of the IEEE, Bd. 88, Nr. 4, S. 516, 2000.

Von Neumann’s Legacy: On Self-Replication. Von M. Sipper et al. (Hg.). Sonderheft von Artificial Life, Bd. 4, Nr. 3, 1998.

Emergence of Self-Replicating Structures in a Cellular Automata Space. Von H. Chou und J. Reggia in: Physica D, Bd. 110, Nr. 3–4, S. 252, 1997.

Simple Systems That Exhibit Self-Directed Replication. Von J. Reggia et al. in: Science, Bd. 259, Nr. 5099, S. 1282, 26. Februar 1993.

Self-Reproducing Machines. Von Lionel S. Penrose in: Scientific American, Juni 1959, S. 105.


Glossar


Replikation findet statt, wenn ein (natürliches oder künstliches) System ein zweites Exemplar seiner selbst herstellt. Die Fachleute unterscheiden die (genaue) Replikation von der Reproduktion, bei der die Kinder sich von den Eltern unterscheiden dürfen.

Zellulärer Automat: eine Anordnung von "Zellen" (typischerweise im Rechteckgitter), die verschiedene Zustände annehmen können. In diskreten Zeitschritten ändert sich der Zustand jeder Zelle nach deterministischen Regeln in Abhängigkeit vom eigenen Zustand und dem ihrer unmittelbaren Nachbarn.

Leere Zelle: der "Grundzustand" der Zelle eines zellulären Automaten. Leere Zellen bleiben zumindest so lange leer, wie ihre Umgebung leer ist.

Element eines zellulären Automaten: eigentlich nur ein nicht-leerer Zustand einer Zelle. Gedanklich schreibt man Elementen ein Eigenleben zu; so können sie "wandern", wenn kraft einer Regel der Zustand in einen anderen Zustand übergeht und zugleich in einer benachbarten Zelle neu entsteht.

Turing-Maschine: die theoretische Minimalform eines Computers: Trotz ihrer Primitivität kann eine Turing-Maschine alle Tätigkeiten eines klassischen Computers ausführen. An einem beliebig langen "Magnetband", das mit Nullen und Einsen beschrieben ist, sitzt ein "Kopf", der das unter ihm befindliche Zeichen lesen und in Abhängigkeit von diesem Zeichen und seinem eigenen inneren Zustand das Zeichen verändern, eine Stelle nach rechts oder links auf dem Band wandern und einen neuen inneren Zustand annehmen kann. Eine Turing-Maschine kann als Spezialfall eines zellulären Automaten verstanden werden, in dem immer nur eine Zelle und deren unmittelbare Nachbarn ihren Zustand verändern.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2002, Seite 26
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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