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Neglect: Wege aus einer halbierten Welt

Nach einem Schlaganfall beachten viele Patienten die linke Seite ihrer Umgebung ­und ihres Körpers nicht mehr - und rasieren sich etwa nur noch rechts. Zwei neue Therapien können den Blick wieder weiten.
Anton Raederscheidt Selbstportrait

Der Polizist Andreas Gambach ist 52 Jahre alt, als er eines Nachts aufwacht und bemerkt, dass sich sein linker Arm und sein linkes Bein merkwürdig pelzig anfühlen. Er versucht aufzustehen, doch die linke Seite seines Körpers gehorcht ihm nicht mehr und er stürzt. Seine Frau, die in einem anderen Zimmer schläft, wird durch die Geräusche wach und findet ihn, wie er auf dem Fußboden sitzt und mit der rechten Hand auf diesen klopft, um sie zu wecken. Ein Rettungswagen bringt ihn in die Klinik, wo Ärzte ein geplatztes Blutgefäß in der rechten Hirnhälfte feststellen und ihn notoperieren.

Seine Frau erinnert sich noch gut an die ersten Wochen und Monate in der Rehabilitationsklinik: "Laufen ging erst mal gar nicht. Mein Mann saß im Rollstuhl, die linke Seite war gelähmt. Und er blickte auch nie nach links. Er ignorierte jeden, der von dieser Richtung auf ihn zukam, aß nur die rechte Hälfte seines Tellers leer und reagierte auf Geräusche von dieser Seite, indem er sich in die entgegengesetzte Richtung drehte. Seinen ­linken Arm und sein linkes Bein beachtete er gar nicht, die hingen oft in den Speichen des Rollstuhls fest."

Fachleute bezeichnen diese Störung als Neglect (von lateinisch: neglegere = vernachlässigen, ignorieren). Sie tritt häufig nach einem rechtsseitigen Infarkt in den Der Schlaganfall ist die dritthäufigste Todesursache in Deutschland. Jedes Jahr erleiden rund 270 000 Menschen in der Bundesrepublik einen solchen Infarkt. Ursache ist entweder ein Gefäßverschluss (ischämischer Infarkt), der zu einer Mangelversorgung von Hirnarealen führt, oder eine Einblutung ins Hirn­gewebe (hämorrhagischer Infarkt) durch ein geplatztes Blut­gefäß. 60 bis 70 Prozent der Überlebenden tragen langfristig schwer wiegende Behinderungen davon und sind pflegebedürftig. Eine dieser gravierenden Beeinträchtigungen ist der Neglect, unter dem etwa 20 bis 30 Prozent der Patienten nach einem rechts­hemisphärischen Schlaganfall leiden; das entspricht mehreren tausend Neu­erkrankungen in Deutschland pro Jahr ...

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  • Quellen

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Kerkhoff, G. et al.: Smooth Pursuit Eye Movement Training Promotes Recovery from Auditory and Visual Neglect. A Randomized Controlled Study. In: Neurorehabilitation and Neural Repair 27, S. 789-798, 2013

Schmidt, L. et al.: Galvanic Vestibular Stimulation Improves Arm Position Sense in Spatial Neglect - A Sham-Stimulation-Controlled Study. In: Neurorehabilitation and Neural Repair 27, S. 497-506, 2013

Schmidt, L. et al.: Now You Feel Both: Galvanic Vestibular Stimulation Induces Lasting Improvements in the Rehabilitation of Chronic Tactile Extinction. In: Frontiers in Human Neuroscience 7, S. 1-11, 2013

Kerkhoff, G., Schenk, T.: Rehabilitation of Neglect: An Update. In: Neuropsychologia 50, S. 1072-1079, 2012

Utz, K. S. et al.: Electrified Minds: Transcranial Direct Current Stimulation (tDCS) and Galvanic Vestibular Stimulation (GVS) as Methods of Non-invasive Brain Stimulation in Neuropsychology - A Review of Current Data and Future Implications. In: Neuropsychologia 48, S. 2789-2810, 2010

Utz, K. S. et al.: Galvanic Vestibular Stimulation Reduces the Pathological Rightward Line Bisection Error in Neglect - A Sham Stimulation-Controlled Study. In: Neuropsychologia 49, S. 1219-1225, 2011

Utz, K. S. et al.: Minor Adverse Effects of Galvanic Vestibular Stimulation in Post-Stroke Patients and Healthy Individuals. In: Brain Injury 25, S. 1058-1069, 2011

Wilkinson, D. et al.: Galvanic Vestibular Stimulation in Hemi-Spatial Neglect. In: Frontiers in Integrative Neuroscience 8, 10.3389, 2014

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