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Schönheit - doch mehr als bloßer Durchschnitt?

Neue Untersuchungen ergaben, daß Menschen kulturunabhängig einheitliche Kriterien dafür haben, was ein hübsches Gesicht sei, und daß sie ein Durchschnittsgesicht zwar als hübsch empfinden, eine Karikatur, in der einzelne schönheitsbestimmende Merkmale verstärkt wurden, aber als noch hübscher.


"Wer ist die Schönste im ganzen Land?" fragte einst Schneewittchens eitle Stiefmutter. Inzwischen stellt sich – außer Halbwüchsigen, Playboys und Ästheten – die Psychologie diese Frage auch. Doch der Forscher schürft tiefer als die Gebrüder Grimm; er fragt zugleich: "Welcher Zweck steckt dahinter?"

Die Schönheit des Antlitzes war lange die Sache von Poeten und Schwarmgeistern, von Leuten also, die zwar manchmal Geschmack, aber selten Verstand haben – oder zumindest wenig Sinn für analytisches Denken. Zwar stieß ein wissenschaftlicher Laie, aber unbestrittener Fachmann in Liebesdingen dank unermüdlichen Experimentierens schon vor mehr als 200 Jahren auf ein paradoxes Phänomen. Giacomo Casanova (1725 bis 1798) konstatierte: "Wir haben die Gewohnheit, Kleider zu tragen, und das Gesicht, das man freiläßt, so daß es jeder sehen kann, trägt zu unserer Befriedigung am wenigsten bei. Warum muß es dann die Hauptrolle spielen? Warum verlieben wir uns in das Antlitz? Warum beurteilen wir die Schönheit einer Frau nur nach diesem einzigen Zeugnis, und warum verzeihen wir ihr, wenn ihre verhüllten Körperteile nicht mit diesem hübschen Gesicht in Einklang stehen?" Obwohl die richtigen Fragen zu stellen in der Wissenschaft bekanntlich das Wichtigste ist, fand der große Verführer die Antwort nicht.

Erst 1878 machte der englische Meteorologe Sir Francis Galton (1822 bis 1911), ein Vetter von Charles Darwin, dank der neuen Technik der Photographie eine entscheidende Entdeckung. Galton überlagerte Aufnahmen von Gesetzesbrechern in der Hoffnung, dadurch die Verbrechervisage in Reinform herauszumitteln. Zu seiner Überraschung kamen ihm die Mischgesichter aber immer schöner vor, je mehr Aufnahmen er miteinander verschmolz, je durchschnittlicher das entstandene Gesicht also war. Obwohl Galton seine Ergebnisse in der Zeitschrift "Nature" veröffentlichte, gerieten sie bald in Vergessenheit.

Erst 100 Jahre später (1979) entdeckte sie der Anthrophologe Donald Symons von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara wieder und untermauerte damit seine These, Schönheit liege aus evolutionsbiologischen Gründen in der Durchschnittlichkeit; denn die Evolution selektiere Extreme aus. Lebewesen mit durchschnittlichen Eigenschaften seien am besten an ihren Lebensraum angepaßt, und der Nachwuchs von durchschnittlichen Weibchen hätte demnach die größten Überlebenschancen. Das gelte auch für den Menschen: Solche Männer pflanzten sich am erfolgreichsten fort, die durchschnittliche Frauen mit Dutzendgesichtern schön fänden. So habe die Evolution über die ein Schönheitsideal geformt, zu dessen Inbegriff die Barbie-Puppe wurde.

Im Jahre 1990 wiederholten die amerikanischen Psychologinnen Judith Langlois und Lori Roggman Galtons Versuche mit den neuen technischen Mitteln des Computers – und bestätigten seine Ergebnisse und Symons Theorien. Schönheit sei gewissermaßen der Gipfel der Gaußschen Glockenkurve (Spektrum der Wissenschaft, Juli l 990, Seite 24).

Die Psychologie ist nun aber eine lebendige Wissenschaft, in der Standpunkte regelmäßig überwunden werden – anders als etwa die Physik, in der auch 300 Jahre nach Isaac Newton noch gilt, daß ein Apfel stets nur nach unten fällt. Entsprechend berichteten jetzt David I. Perrett und K. A. May von der Universität St. Andrews (Schottland) sowie S. Yoshikawa von der Otemon-Gakuin-Universität in Osaka (Japan), daß Schönheit keineswegs allein in der Durchschnittlichkeit liege ("Nature", Band 368, Heft 6468, Seite 239).

Die Psychologen ließen 26 Frauen im Alter von 18 bis 45 Jahren und 10 Studenten 60 europäische Frauengesichter nach einer siebenstufigen Skala bewerten. Die Urteile über ein bestimmtes Bild schwankten nicht allzusehr, und die männliche Jury zeigte etwa den gleichen Geschmack wie die weibliche.

Anschließend überlagerten die Wissenschaftler die 60 Gesichter per Computer wiederum zu einem Mischgesicht ("Miss Mix"). Zudem aber setzten sie jene 15, die als die schönsten gewertet worden waren, zu einer zweiten Melange zusammen ("Miss Beauty") und unterwarfen beide Überlagerungen dem Urteil einer neuen Jury aus 18 Europäerinnen und 18 Europäern im Alter von 22 bis 46 Jahren. Eine klare Mehrheit von 16 Männern und 15 Frauen wählte Miss Beauty. Der Durchschnitt der Schönsten ist demnach noch attraktiver als ein herausgemitteltes Dutzendgesicht.

Dies versetzte Symons Theoriegebäude bereits einen schweren Schlag. Doch die Psychologen gaben sich noch nicht zufrieden damit. Um der Essenz der Schönheit weiter auf die Spur zu kommen, vermaßen sie die Unterschiede zwischen Miss Mix und Miss Beauty (zum Beispiel die Differenz in der Entfernung zwischen oberem Lippenrand und Nasenspitze), verstärkten sie um 50 Prozent und konstruierten so ein verzerrtes Gesicht ("Miss Quasimodo"). Dabei ließen sie sich offenbar von der Idee leiten, daß im Unterschied zwischen Miss Mix und Miss Beauty das Wesen der Schönheit verborgen sei und man durch Verstärken der Diskrepanz ein noch hübscheres Gesicht bekommen müsse. Tatsächlich ging die geniale Milchmädchenrechnung auf: 15 Männer und 14 Frauen unter den je 18 Juroren entzückte Miss Quasimodo noch mehr als Miss Beauty.

Was beweist das? Durchschnittlichkeit kann jedenfalls nicht das Maß aller Schönheit sein; sonst hätte Miss Mix die Krone errungen und auf keinen Fall das verzerrte Gesicht, das gar kein Durchschnitt mehr ist, sondern eine Karikatur. Andererseits ist Schönheit auch nicht etwa reine Geschmackssache, über die sich nicht – oder trefflich – streiten ließe, sondern besteht sehr wohl aus bestimmten Ingredienzien. Welche sind das? Worin also unterscheiden sich Miss Mix und Miss Beauty? Die Antworten –höhere Wangenknochen, dünnere Kiefer, größere Augen, kürzere Abstände zwischen Mund und Kinn sowie zwischen Mund und Nase – dürften für Schönheitschirurgen interessant sein; oder sind sie doch eher ein alter Hut?

In jüngster Zeit waren Vorstellungen populär geworden, wonach das Schönheitsideal eine willkürliche gesellschaftliche Konvention und damit sowohl kulturell geprägt als auch zeitlich variabel sei. Auch dieser These widersprechen die neuen Ergebnisse. Danach sind die Kriterien für Schönheit sehr wohl international. Japaner lieben an Japanerinnen die gleichen Gesichtszüge wie Europäer an Europäerinnen, und auch überkreuz bleibt die Einhelligkeit der Beurteilung gewahrt: Engländer, denen man die drei Kompositbilder von Japanerinnen zeigte, bevorzugten die mandeläugige Miss Quasimodo vor der fernöstlichen Miss Beauty. Die Psychologen sprechen "von großen Ähnlichkeiten in der interkulturellen Beurteilung der Attraktivität von Gesichtern" – womit die Miss-World-Wahlen endlich ihre theoretische Fundierung erhalten hätten.

Welchen evolutionsbiologischen Sinn aber hat eine Schönheit, die in der Extravaganz liegt? Perrett, May und Yoshikawa machen einen wenig überzeugenden Versuch, sie wie den prachtvollen Schwanz des Pfaus als Signal für Gesundheit, Fruchtbarkeit und Widerstandsfähigkeit gegen Parasiten zu deuten. Schöne Frauen seien also gesünder und bekämen deshalb, was für die Evolution entscheidend ist, mehr Kinder. Aber wieso zeigt gerade ein kurzer Abstand zwischen Mund und Nase Gesundheit an und nicht etwa ein langer? Und bekommen schöne Frauen wirklich mehr Kinder oder nicht eher weniger, weil sie um ihre Schönheit fürchten? Hätte man beide Parameter bei den 60 Kandidatinnen nicht gleich mit erfassen können?

Angesichts so vieler offener Fragen suchte ich Zuflucht beim großen Kritiker von Vernunft und Urteilskraft, Immanuel Kant (1724 bis 1804). Sollte der nicht Tiefgründiges zur Subjektivität ästhetischer Wertungen zu sagen haben? Zu meiner Überraschung war er jedoch auch der Meinung von Perrett et al.: Schönheit sei keineswegs Geschmackssache, erklärte der häßliche Philosoph.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1994, Seite 20
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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