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Shape-Weaving

Mit einer neu entwickelten Webmaschiene können nicht nur ebene Stoffbahnen, sondern auch gewölbte, räumliche Formen hergestellt werden. Die möglichen Einsatzbereiche reichen vom Bekleidungssektor über die Filtertechnik bis zur Produktion von Faserverbundwerkstoffen.

Obwohl die Technik des Webens mehr als 7000 Jahre alt ist und vielfach weiterentwickelt sowie ideenreich mechanisiert und schließlich automatisiert wurde, ließen sich damit bislang lediglich ebene Stoffbahnen herstellen. Dreidimensionale Formen wie zum Beispiel Strümpfe werden meist gewirkt oder gestrickt. Mit einem neuen Verfahren, das sein Erfinder Alexander Büsgen Shape Weaving genannt hat, kann nun aber auch auf dem Webstuhl fast jede beliebige dreidimensionale Schalenform direkt in einem Arbeitsgang erzeugt werden. Man braucht die Gewebe also nicht mehr nachträglich zuzuschneiden und zu vernähen, wenn man sie zu komplizierteren Gebilden als einfachen rotationssymmetrischen Körpern – Zylindern oder Schläuchen – verarbeiten will.

Die ersten Untersuchungen zum Weben von Schalen führte Büsgen von 1989 bis 1993 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Textiltechnik der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen durch. Anschließend konstruierte er in einem Industrieprojekt mit Fördermitteln des Landes Nordrhein-Westfalen einen voll einsatzfähigen Prototypen, der seit Ende 1994 betriebsbereit ist (Bild 2). Zur Vermarktung des Geräts gründete er im März dieses Jahres schließlich die Firma Shape 3 in Remscheid. Auf dem 7. Internationalen Techtextil-Symposium, das vom 19. bis 21. Juni in Frankfurt am Main stattfand, stellte er das neue Verfahren erstmals der Öffentlichkeit vor und wurde dafür mit dem Techtextil-Innovationspreis 1995 ausgezeichnet


Technische Kniffe

Beim klassischen Webstuhl sind die Kettfäden nebeneinander auf dem Kettbaum aufgespult und über den Streichbaum durch das Webblatt – es dient zum Andrücken des Schußfadens – zum Brustbaum gespannt (Bild 1 oben). Das fertige Tuch wird auf dem Warenbaum aufgewickelt. Um mit dem Schußfaden das gewünschte Gewebe zu erzeugen, müssen die Kettfäden in bestimmter Abfolge gehoben und gesenkt werden. Diese Aufgabe übernehmen zwei bis selten mehr als 24 Schäfte, in denen Litzen mit Ösen aufgehängt sind, durch welche die Kettfäden laufen. Mit ihnen läßt sich jeweils eine Schar von Fäden bewegen.

Diese Konstruktion ist beim Shape-Weaving-Verfahren in entscheidenden Punkten abgewandelt (Bild 1 unten). Die Aufgabe der Schäfte übernimmt zum Beispiel eine Jacquard-Maschine, die es erlaubt, jeden einzelnen Kettfaden unabhängig von den anderen zu heben oder zu senken. Der französische Weber und Erfinder Joseph-Marie Jacquard (1752 bis 1834) hatte diese Vorrichtung bereits kurz vor der Französischen Revolution zum Weben von Bildern konzipiert und 1805 praxisreif entwickelt.

Des weiteren tritt an die Stelle des Kettbaums ein Spulengatter, aus dem sich die Kettfäden separat zuführen lassen. Dies ist nötig, weil in eine gewebte dreidimensionale Schale Kettfäden unterschiedlicher Länge eingebunden sind.

Das entscheidende neue Maschinenteil ist freilich der segmentierte Warenabzug, der den Brustbaum ersetzt. Anders als dieser besteht er nicht aus einer durchgängigen Walze, sondern aus unabhängig voneinander beweglichen Einzelelementen. Dadurch läßt sich die Länge eines Kettfadens zwischen zwei aufeinanderfolgenden Schußfäden individuell einstellen.

Sind beispielsweise die Kettfäden in der Mitte einer Stoffbahn länger als an den Rändern, so vergrößert sich dort bei gleichbleibender Fadenzahl die Oberfläche des Gewebes: Es entsteht eine Wölbung. Um der Gewebeschale die gewünschte Geometrie zu verleihen, müssen also nur die Abzugssegmente derart gesteuert werden, daß die Kettfäden die dazu erforderliche Länge haben.

Allerdings wäre die Qualität der so gewebten Schalen unbefriedigend, gäbe es nicht eine weitere Neuerung. Um zu vermeiden, daß bei stark gewölbten Geweben der Fadenverlauf unregelmäßig wird und netzartig aufgeweitete Stellen auftreten, enthält die Shape-Weaving-Maschine ein vertikal verstellbares fächerförmiges Webblatt. Es erlaubt, die Abstände der Kettfäden zu verändern und so deren Verlauf zusätzlich zu beeinflussen. Dabei können sogar absichtlich Öffnungen im Gewebe erzeugt werden.

Dennoch lassen sich auch mit dem Fächerwebblatt netzartige Stellen nicht gänzlich vermeiden (Bild 3 links). Weil die Schuß- und Kettfäden innerhalb einer gewölbten Schale über eine größere Fläche verteilt sind als im angrenzenden flachen Tuch, ist die Gewebedichte dort geringer. Hier schafft die Jacquard-Maschine Abhilfe. Mit ihrer Einzelfadensteuerung gestattet sie, an jeder beliebigen Stelle des Gewebes die Bindung – das heißt die Art der Verkreuzung zwischen Schuß- und Kettfäden – zu wechseln.

Die diversen Bindungsarten unterscheiden sich in erster Linie durch die Anzahl der Verkreuzungen pro Flächeneinheit. Je höher sie ist, desto fester wird das Gewebe. Dafür lassen sich in diesem Falle weniger Fäden auf der Fläche unterbringen, weil viele Kreuzungspunkte ein enges Aneinanderlegen verhindern. Wählt man nun für das Zentrum einer Gewebeschale eine festere Bindungsart als für die Randbereiche und die angrenzende Ebene, so erhält man ein nahezu homogenes Gewebe ohne netzartige Bereiche (Bild 3 rechts). Zugleich wird die Bildung der dreidimensionalen Form unterstützt.

Entscheidend für eine exakte Schalengeometrie ist das richtige Zusammenspiel von Warenabzug, Fächerwebblatt und Jacquard-Maschine. Die schwierige Koordination und Steuerung dieser drei mechanischen Elemente übernimmt ein Personal Computer. Ein spezielles Simulationsprogramm bestimmt für eine vorgegebene Schalenform die Lage der Kreuzungspunkte von Schuß- und Kettfäden und berechnet daraus für jede Stelle des Gewebes die Längen und Abstände der Kettfäden. Diese Werte dienen als Vorgaben für die Bewegung der Segmente des Warenabzugs und für die Stellung des Fächerwebblattes. Außerdem kann für jeden Bereich der Schale gesondert eine beliebige Bindungsart eingegeben werden.


Einsatzgebiete

Die möglichen Anwendungen für Shape-Weaving-Produkte sind vielfältig. In der Filtertechnik wären zum Beispiel Beutel aus einem Stück denkbar und auf dem Bekleidungssektor bequemere, weil nahtlose Büstenhalter-Körbchen. Haupteinsatzgebiet dürfte aber die Herstellung und Verarbeitung von Faserverbundwerkstoffen (Composites) sein. Dabei werden vielfach Gewebe aus Glas-, Carbon- oder Aramidfasern zur Verstärkung verwendet.

Shape-Weaving-Halbzeuge dürften immer dann besonders vorteilhaft sein, wenn die Produkte starke biaxiale Krümmungen aufweisen, wie das beispielsweise bei Motorradhelmen oder Propellernasen der Fall ist. Bisher war man in solchen Fällen gezwungen, ebene Gewebe nachträglich durch Konfektionierung oder Tiefziehen in die gewünschte Form zu bringen. Beide Methoden haben jedoch Nachteile.

So entstehen beim Zuschneiden und Zusammennähen oder -legen des Gewebes Naht- oder Ansatzstellen mit verminderter Festigkeit. Eine Verstärkung der Nähte mit zusätzlichem Material bedingt indes ein höheres Gewicht, was beispielsweise bei Motorradhelmen unerwünscht ist. Die Umformung durch Tiefziehen ist dagegen problematisch, weil für Composites in der Regel Fasern geringer Dehnbarkeit verwendet werden, die bei zu starker Verformung reißen können. Außerdem kommt es leicht zu inneren Spannungen, oder es bilden sich Falten im Gewebe.

Da das Shape Weaving von vornherein paßgenaue Schalen liefert, entfallen diese Probleme. Dafür sind zwar die Webkosten höher; dies dürfte jedoch dadurch mehr als ausgeglichen werden, daß die Nachbearbeitung entfällt und wegen der höheren Qualität der Produkte die Ausschußrate geringer ist.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1995, Seite 34
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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