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Strategien für die Konservierung und Restaurierung von Schriftgut


Im Februar 1988 verlor die Bibliothek der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion in St. Petersburg – damals noch Leningrad – während eines 19stündigen Brandes 400000 Exemplare ihres Bestandes; eine weitere halbe Million wurden mehr oder weniger beschädigt. Im Dezember 1989, während der revolutionären Ereignisse in Rumänien, trafen die Nationalbibliothek in Bukarest Granaten – Umfang und Grad der Schäden sind im einzelnen bis jetzt unbekannt. Es vergeht fast kein Jahr, in dem nicht Bibliotheken, Archive oder Sammlungen schwere Einbußen hätten.

Aber so schlimm Überschwemmung, Feuer und Krieg solche Einrichtungen auch betreffen – derart aufsehenerregende Verluste sind zeitlich und örtlich begrenzt. Hingegen wird die permanente Katastrophe des schleichenden Papierverfalls von der Öffentlichkeit bislang kaum zur Kenntnis genommen. Dabei dezimiert sie bedeutende, oft rare oder gar unersetzliche Kulturgüter weltweit in vergleichbaren Dimensionen Tag für Tag: Etwa 97 Prozent aller seit 1850 produzierten, nämlich holz- und säurehaltigen Papiere sind davon bedroht; sie verlieren innerhalb von 21 Jahren nach der Herstellung etwa 80 Prozent ihrer ursprünglichen Festigkeit.


Folgenschwerer Fortschritt

Auf drei Erfindungen beruhte die Mitte des vorigen Jahrhunderts einsetzende Industrialisierung des Papiermachens: Der Franzose Nicolas-Louis Robert erhielt 1799 das Patent für seine Schüttelmaschine, die das traditionelle Schöpfen des Papierbreis von Hand durch Aufgießen auf ein endlos rotierendes Metallsieb ersetzte; 1807 veröffentlichte Moritz Friedrich Illig seine "Anleitung, auf sichere, einfache und wohlfeile Art Papier in der Masse zu leimen", und 1845 gelang es dem sächsischen Techniker Friedrich Gottlob Keller, als Rohstoff Holzschliff einzusetzen. Aber durch Illigs Prinzip der inneren Leimung mit Harzseifen und Aluminiumsulfat kamen cellulosezersetzende Säuren ins Papier, und der Holzbestandteil Lignin fördert das Vergilben und Verspröden.

Warnungen vor mangelhafter Alterungsbeständigkeit gab es indes parallel zu der technischen Entwicklung. Bereits 1823 schrieb der Brite John Murray im vielgelesenen "Gentlemen's Magazin": "Erlauben Sie mir, die Aufmerksamkeit Ihrer Leser auf den gegenwärtigen Zustand der erbärmlichen Zusammensetzung zu lenken, die Papier genannt wird ... In einem Jahrhundert wird man die Bände, die in den letzten zwanzig Jahren gedruckt worden sind, nicht mehr zu sehen bekommen." In Deutschland wurde wegen mangelnder Materialbeschaffenheit 1884 die Abteilung für Papierprüfung an der Königlichen Mechanisch-technischen Versuchsanstalt in Charlottenburg gegründet, um die Einhaltung der mittlerweile erlassenen Qualitätsvorschriften zu überwachen.

Wie gravierend das Problem gleichwohl geworden war, erkannten allerdings erst einzelne Fachleute nach der Mitte dieses Jahrhunderts. Zwischen 1955 und 1961 veröffentlichte W. J. Barrow von der Staatsbibliothek und den Archiven des US-Bundesstaates Virginia in Richmond fünf Publikationen zum Thema; er prägte den Begriff des permanent durable paper und beschrieb Möglichkeiten der Herstellung. Das amerikanische Ehepaar G. M. und D. G. Cunha führte 1972 in dem zweibändigen Werk "Conservation of Library Materials" 4480 Literaturangaben auf, darunter allein 300 das Papier betreffend. Im folgenden Jahr konstatierten die Präsidenten von 15 Universitäten der USA in einem Bericht über die Hochschulbildung der Nation: "Die Konservierung von Bibliotheksmaterialien ist eine Angelegenheit von höchster Bedeutung. Große Teile der ältesten und wertvollsten Sammlungen zerfallen buchstäblich in den Regalen."

In den folgenden Jahren verstärkte sich zwar die Forschung zu physikalisch-chemischen Grundlagen der Papieralterung; die amerikanische Kongreßbibliothek und die Nationalarchive Kanadas begannen zudem Anfang der siebziger Jahre mit der Entwicklung von Massenentsäuerungsverfahren, und später unternahmen entsprechende Bemühungen auch die französische und die britische Nationalbibliothek. Aber es dauerte bis in die jüngste Zeit, daß offizielle Aktionen die Öffentlichkeit über energisch voranzutreibende Erhaltungsmaßnahmen informierten.

Am 7. März 1989 verabschiedeten amerikanische Autoren und Verleger die "Declaration of Book Preservation". Darin verpflichten sich die Unterzeichner, Publikationen, denen langer Erhalt zu wünschen sei, nur mehr auf alterungsbeständigem Papier zu drucken. Die Generalversammlung der Internationalen Förderation von Bibliotheksvereinigungen verabschiedete im August des gleichen Jahres in Paris drei Resolutionen, in denen die verstärkte Verwendung alterungsbeständiger Papiere und eine internationale Norm für deren Produktion und Qualität gefordert wurden. Anläßlich der Frankfurter Buchmesse im folgenden Oktober riefen die Deutsche Bibliothek und die Gesellschaft für das Buch alle deutschen Verleger auf, folgende Erklärung zu unterzeichnen: "Bücher sind durch Verwendung säurehaltiger Papiere gefährdet. Wir, Autoren und Verleger, verpflichten uns, darauf hinzuwirken, daß künftig Bücher auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier gedruckt werden. Wir fordern mit den Bibliothekaren eine breite Verwendung dieser Papiere, um das gedruckte Wort als Teil der kulturellen Überlieferung für künftige Generationen zu sichern." Mehr als 100 Verleger unterschrieben.

Am 14. Februar 1990 fand in Frankfurt am Main, initiiert wiederum von der Deutschen Bibliothek und der Gesellschaft für das Buch, ein Expertengespräch statt, um unter anderem Definitionen für die Zusammensetzung alterungsbeständiger Papiere festzulegen. Das Thesenpapier schreibt für Deutschland und Österreich vor, ab sofort im Buchdruck nur noch holz- und säurefreies Papier mit zusätzlichem Schutz gegen Umwelteinflüsse zu verarbeiten – solches also, das gänzlich oder jedenfalls weitgehend aus ligninfreien Faserstoffen besteht, neutral (das heißt ohne Aluminiumsulfat) geleimt ist und eine gewisse Menge Calciumcarbonat als Puffer gegen Säuren enthält.

Gegenwärtig dürfte das Qualitätsmerkmal "alterungsbeständig" allerdings für höchstens acht bis zehn Prozent der Gesamtpapierproduktion bedeutsam sein. Die Hersteller versichern, daß diese Mengen bereits geliefert werden könnten, und zwar zu Kosten, die denen herkömmlichen Papiers vergleichbar sind.


Die Herausforderung: der Umfang der Bestände

Diese Bemühungen sind vor allem auf künftiges Schriftgut gerichtet, wenngleich man manches alte Werk – um wenigstens seinen Inhalt zu bewahren – mit geeigneten Techniken auf ein dauerhaftes Papier übertragen könnte. In der Diskussion sind seit langem auch neuere Medien wie Mikrofilm oder die optischen Datenspeicher. Freilich unterliegen auch diese eigenen, sowohl physischen wie technologischen Alterungsprozessen, die man noch schwer einzuschätzen vermag (siehe Seite 66 dieser Ausgabe); andererseits würden durch ein solches Übertragen auf ein alternatives Medium die Originale seltener genutzt und somit deren mechanische Beanspruchung unter Umständen deutlich verringert.

Wünschenswerter ist aber sicherlich der Erhalt eines Werkes statt seines Ersatzes. Bibliotheken und Archive verfügen oft über eigene Werkstätten oder greifen auf Restauratoren als Dienstleister zurück. Deren Tätigkeit ist durch sorgfältige, handwerklich-wissenschaftliche Kleinarbeit gekennzeichnet. Aus dem Repertoire an Naßbehandlungsverfahren zur Neutralisierung von Säuren und an Methoden zur Stabilisierung einzelner Blätter – etwa das Spalten und Kaschieren oder das Anfasern an Fehl-stellen – vermag der Restaurator für jedes Buch oder Dokument die jeweils am besten geeignete Kombination zu finden, um seinen gegenwärtigen Zustand wenigstens zu konservieren oder ihn gar nachhaltig zu verbessern.

Doch die schiere Dimension des Verfalls verlangt nach weiteren und weitergehenden Lösungen: Gegenwärtig werden nach eingehenden Ermittlungen pro Jahr 4,66 Prozent eines Bestandes unbenutzbar; die amerikanische Kongreßbibliothek beispielsweise schätzt, daß allein von ihren Büchern jährlich 77000 so weit gealtert sind, daß sie Lesern nicht mehr zur Verfügung gestellt werden dürften. Die Restauratoren einer großen Bibliothek mit einem Gesamtbestand von typischerweise acht Millionen Bänden müßten täglich (einschließlich an Sonn- und Feiertagen) etwas mehr als 1000 Bände wieder herrichten, gute Werkstätten schaffen aber weniger als ein Buch pro Tag.

Zur massenhaften Sanierung und Erhaltung gewinnen deshalb automatisierte Restaurierungsverfahren und mechanisierbare Arbeitsschritte an Bedeutung. Naßbehandlungssysteme, Fehlstellenergänzungsapparate und Papierspaltmaschinen sind erste Ausprägungen rationeller Techniken (Bilder 1 und 2). Diese Entwicklungen erfordern prinzipielle Veränderungen der Ausstattung in den Werkstätten.

Allerdings sind entsprechende Apparate sehr kosten-, raum- und personalintensiv; kleine und selbst mittelgroße Werkstätten sind damit sicherlich überfordert. Für die Papierrestaurierung werden deshalb betriebswirtschaftliche Kriterien immer stärker bestimmend. Nur die quasi industrielle Bearbeitung hoher Stückzahlen ist ökonomisch, denn sie ermöglicht, durch Spezialisierung und Arbeitsteilung stärker als bislang Qualitätsnormen einzuhalten sowie alle erforderlichen Chemikalien und sonstigen Materialien bedarfsgerecht und kostengünstig zu beziehen. Konsequenzen für den Berufsstand der Restauratoren sind deshalb absehbar, wie die Druckindustrie und ihr assoziierte Branchen sie infolge technischer Innovation und Rationalisierung sowie Differenzierung und Spezialisierung der Aufgaben durchgemacht haben.


Läßt sich großtechnisch restaurieren?

Die Wiederherstellung von beschädigtem Kulturgut wird oft mit den Attributen "originalgetreu" und "umkehrbar" versehen. Sind diese Ansprüche gerechtfertigt und lassen sie sich mit den mechanisierten Verfahren erfüllen?

Alterung bedeutet stets eine substantielle und meist eben gerade nicht umkehrbare Veränderung; ein Zurückversetzen in den ursprünglichen Zustand kann es also gar nicht geben. Das originalgetreue Arbeiten als Grundpfeiler restauratorischer Ethik wird in der Praxis auch mehr ignoriert als eingehalten, denn Lehrmeinungen und äußere Zwänge beeinflussen die tägliche Arbeit. Was hätten Baumwoll-Linters – also die aus reiner Cellulose bestehenden feinen Haare der Baumwollsamen – und Polyvinylalkohol-Fasern beim Ausbessern von Hadernpapieren zu suchen, wenn man originalgetreu arbeiten wollte? Schon gar nicht darf die Maxime der Originalgetreue dazu verleiten, die technischen Fehler früherer Generationen absichtlich zu wiederholen; sie erfordert vielmehr, das aktuell umfassende Wissen über Werkstoffe und Techniken optimal zu nutzen.

Auch die Umkehrbarkeit ist bei vielen restauratorischen Tätigkeiten eine fiktive Vorstellung, zeitigen zur Sanierung und Erhaltung notwendige Eingriffe doch meist irreversible Ergebnisse. Pragmatisch wäre zum Beispiel zu verlangen, daß alle bei Stabilisierungsarbeiten neugeschaffenen Materialverbindungen wieder aufzulösen seien. Restaurieren beinhaltet demnach immer, Kompromisse einzugehen, um Substanzverlust zu vermeiden, auch wenn dabei Neues hinzugefügt werden muß.

Man muß sich auch klarmachen, was bei allem Aufwand überhaupt möglich ist. Entsäuerungsverfahren etwa sind nur sinnvoll bei Büchern, deren Papier einen gewissen Grad an Festigkeit aufweist. Gegenwärtig besteht für rund 25 Prozent der Bibliotheksbestände keine Aussicht, daß sie im Massendurchlauf wieder allgemein benutzbar zu machen wären. So wird es den kunstvoll und sorgfältig arbeitenden Restaurator sicherlich auch weiterhin geben, aber seine besonderen Fähigkeiten dürften schließlich einzelnen, besonders wertvollen Kulturgütern vorbehalten sein.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1995, Seite 105
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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