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Risiko-Management: Subjektive Wahrnehmung von Risiken


Viele Autofahrer suchten zeitweilig durch einen Boykott von Shell-Tankstellen das Versenken der Offshore-Anlage "Brent Spar" dieses Konzerns und damit eine mögliche lokale Schädigung des Tiefsee-Ökosystems zu verhindern, aber machten weiterhin unbekümmert Urlaub an dem vor allem durch Abwässer der Anrainergemeinden siechenden Mittelmeer. Einem globalen Klimawandel, verursacht durch Anreicherung von Treibhausgasen in der Atmosphäre, beugt bislang kaum jemand durch das Umsteigen auf emissionsarme Kleinwagen und das Einschränken von Fahrten vor. Wer Gentechnik generell ablehnt, kann als Diabetiker sehr wohl die gentechnische Produktion von Humaninsulin befürworten.

Offenbar werden Risiken unterschiedlich wahrgenommen und bewertet. Das mag akzeptabel sein, solange derjenige, der einer Fehleinschätzung erliegt, die Auswirkungen allein zu tragen hat. Es gehört zur persönlichen Freiheit, beispielsweise Ersparnisse in hochspekulative Börsengeschäfte zu investieren – freilich nicht hinnehmbar ist, wenn die Einlagen von Bankkunden ohne deren Einverständnis derart aufs Spiel gesetzt werden.

Dieses Problem individuell – also subjektiv – gefärbter Risikoeinschätzung zieht sich durch sämtliche Bereiche gesellschaftlichen Lebens, vom persönlichen Sozialverhalten bis in Beschlüsse oder Unterlassungen der weltweiten Staatengemeinschaft. Seit einigen Jahren wird dies eingehend in der Psychologie erforscht. Bisherige Erkenntnisse gehen auch zunehmend in Entscheidungen von Politik und Wirtschaft ein.


Der gleiche Begriff – verschieden interpretiert

Das in Ökonomie und Technik entwickelte klassische Konzept definiert Risiko als mögliche Schadensfolge eines Ereignisses, oft formalisiert als das Produkt aus Wahrscheinlichkeit für deren Eintreten und vermutlichem Verlust. Beide Größen gehen auch in die subjektive Bewertung ein, doch erscheint dabei ein Ereignis gemeinhin als um so wahrscheinlicher, je auffälliger es ist.

So wird das Risiko eines Flugzeugabsturzes – unabhängig von der Kenntnis des objektiven statistischen Vergleichs von Todesfällen in der Luftfahrt und im sonstigen Verkehr – höher eingeschätzt, wenn sich ein solcher Unfall gerade ereignet hat. Im allgemeinen ist es durchaus angemessen, über komplizierte Sachverhalte zunächst vereinfachende Annahmen zu machen. Es verleitet indes dazu, außergewöhnliche Ereignisse dann für wahrscheinlicher zu halten, wenn sie – beispielsweise durch Berichterstattung der Medien – zu Bewußtsein gebracht werden.

So kann sachgerechte Aufklärung ihren intendierten Zweck völlig verfehlen. Unter Umständen erweckt beispielsweise ein Chirurg, der seinen Patienten pflichtgemäß über eine mögliche, aber äußerst seltene Komplikation des geplanten Eingriffs unterrichtet, viel mehr Angst als Zuversicht auf Heilung.

Einschlägige Untersuchungen haben allerdings gezeigt, daß Laien, die nicht auf diese Weise unmittelbar betroffen sind, den bei einem Unglück zu erwartenden Schaden recht gut abzuschätzen vermögen, obgleich sie real hohe Verluste meist etwas zu gering, real niedrige hingegen etwas zu hoch ansetzen. Je

größer die Zahl potentieller Opfer, desto riskanter erscheint ihnen das auslösende Ereignis, was aber nicht weiter überrascht.

In den sechziger Jahren fanden Daniel Kahnemann und Amos Tversky an der Hebräischen Universität in Jerusalem allerdings, daß die Perspektive, unter welcher ein Verlust erscheint, die Einschätzung des Risikos und die Bereitschaft zu unter Umständen gewagten Gegenmaßnahmen ziemlich stark und geradezu regelhaft prägt (Spektrum der Wissenschaft, März 1982, Seite 89). Die beiden Psychologen konfrontierten ihre Probanden mit Problemen, in denen die gleichen Resultate mal vorteilhaft, mal nachteilig dargestellt wurden. Die meisten bevorzugten einen sicheren Gewinn gegenüber einer riskanten Alternative, bei der sie mehr, aber auch weniger gewinnen konnten – sie mieden das Risiko. Aber gegenüber einem sicheren Verlust bevorzugten sie es, das Risiko einzugehen, eventuell noch mehr, unter Umständen aber auch gar nichts zu verlieren.

In der alltäglichen Praxis entscheidet häufig die persönliche Geschichte darüber, zu welcher Beurteilung ein Mensch kommt: Dem einen erscheint ein Glas als halbvoll, dem anderen als halbleer. So interpretierten Befürworter der Kernenergie vor einigen Jahren die Ergebnisse einer Studie zu Leichtwasserreaktoren dahingehend, das Risiko einer Kernschmelze sei um 70 Prozent verringert worden, während Kernkraftgegner die verbliebenen 30 Prozent betonten.


Charakteristika von Folgen und Ursachen

Die Wahrscheinlichkeit eines Schadens und sein potentielles Ausmaß mögen unangemessen oder verzerrt beurteilt werden, aber sie korrespondieren zumindest mit den Parametern, die nach technischem und statistischem Verständnis ein Risiko bestimmen. Gänzlich einer Objektivierung verschlossen sind die

Effekte psychologischer Momente.

So hält man gemeinhin Techniken für risikoreicher, bei deren Versagen viele Menschen gleichzeitig zu Tode kommen können, als solche, bei denen sogar mehr Menschen im Laufe der Zeit einzeln tödlich verunglücken. Deshalb besteigt etwa mancher Reisende kein Flugzeug, obwohl er ohne zu Zögern mit dem Auto fährt.

Zudem sieht man negative Folgen einer Aktivität dann oft als schwerwiegender an, wenn man selbst eher davon betroffen wäre. Bewohner von Santa Monica (Kalifornien) beispielsweise sollten Risiken und Nutzen von Ölbohrungen vor der amerikanischen Küste einschätzen, und zwar eine Gruppe solche vor der eigenen und eine zweite solche vor der entfernterer Bundesstaaten. Die einen hielten ein derartiges Vorhaben in

jeder Hinsicht für riskanter und gewichteten den Nutzen – etwa größere Unabhängigkeit der USA von Ölimporten – deutlich geringer; die anderen sahen das potentielle Gemeinwohl deutlicher. So mag dieser Effekt auch erklären, warum das katastrophale Abbrennen der Regenwälder zwar gelegentlich auf den Titelseiten der Tageszeitungen aufscheint, jedoch trotz seiner Bedeutung für das Weltklima kaum bei der Bevölkerung der weit entfernten Industriestaaten Resonanz findet. Diese Tendenz zum Sankt-Florians-Prinzip erschwert es Regierungen und Behörden zudem, regional oder national sinnvolle Einrichtungen wie Bahntrassen oder Müllverbrennungsanlagen, die lokale Beeinträchtigungen mit sich bringen, nach rein sachlichen Kriterien am günstigsten zu plazieren.

Weitere Faktoren bei der intuitiven Einschätzung von Risiken sind die Situation, in der man damit konfrontiert wird, der Handlungsspielraum, den man zu haben meint, und die Ansicht, wer eigentlich verantwortlich sei. So werden freiwillig übernommene Gefahren weniger kritisch gesehen und eher akzeptiert. Deshalb vermögen etwa Berichte über Pestizidrückstände in einem Nahrungsmittel sofort, obgleich vielleicht nur kurzfristig, die Eßgewohnheiten zu verändern; hingegen werden die allgemein bekannten gesundheitlichen Bedenken gegen übermäßiges Trinken und Fast-Food-Ernährung in den Industrieländern allenfalls in gute Vorsätze zum Jahreswechsel umgesetzt und rasch wieder vergessen.

Ähnlich wirkt die Überzeugung, Risiken kontrollieren zu können. So glaubt die große Mehrheit der Autofahrer an das eigene überdurchschnittliche Vermögen, den Wagen in jeder Verkehrssituation sicher zu beherrschen, obwohl die alljährliche Unfallstatistik dies eindeutig widerlegt. Derartiges Überschätzen wird noch durch das Vertrauen in technische Hilfsmittel gefördert. So haben Anti-Blockier-Systeme zwar die Zahl der Unfälle reduziert; aber deren Schwere nahm zu, weil nun häufig schneller gefahren wird.

Zudem kann die Kompetenz der Risikokontrolle auch gänzlich Personen oder Institutionen übertragen werden. Selbst mäßig trainierte Touristen ohne sonderliche Bergerfahrung wagen sich mit einem Trekking-Führer in den Himalaya. Umgekehrt erschüttert das tatsächliche oder auch nur vermutete Versagen organisierter sozialer Sicherungen tief, wie die Diskussionen um die Zukunft der Renten hierzulande zeigen.

Schließlich werden vergleichbare Risiken durchaus unterschiedlich wahrgenommen, wenn die einen natürlichen, die anderen zivilisatorischen Ursprungs sind. Demgemäß ängstigt die Möglichkeit radioaktiver Strahlung im Umkreis kerntechnischer Anlagen – obgleich sie überwacht werden – mehr als das vielerorts dem Erdboden, aber auch Phosphat-Düngemitteln und praktisch allen Baumaterialien entweichende Radon.

Die Soziologen Mary Douglas und Aaron Wildavsky postulierten 1982, dasjenige Übel werde leicht als besonders riskant erachtet, für das sich ein Schuldiger ausmachen läßt. Bei Erdbeben etwa sterben im langfristigen Durchschnitt rund 10||000 Menschen pro Jahr; doch nur an die folgenschwersten wird bei einer neuerlichen Katastrophe dieser Art erinnert. Hingegen zitieren die Medien die Verseuchung der Gemeinde Seveso in der italienischen Provinz Mailand 1976 mit Dioxinen sogar bei nicht vergleichbaren Chemie-Unfällen.

Menschen neigen denn auch dazu, Risiken höher zu bewerten, wenn man sie selbst für einen Schaden verantwortlich machen könnte. In einer Studie des Psychologen Jonathan Baron von der Universität von Pennsylvania in Philadelphia entschied die Mehrheit in einem hypothetischen Szenario, sie würde ein Kind nicht impfen lassen, falls eine tödliche Fehlreaktion auftreten könnte, wenngleich die Wahrscheinlichkeit dafür als geringer geschildert wurde als die, daß es ohne vorbeugenden Impfschutz an einer Krankheit stürbe. Ein solches Ausweichen vor riskanten, doch unter Umständen wichtigen Entscheidungen ist sogar mehr oder weniger gesellschaftlich geduldet: Das Unterlassen einer Handlung, die vielleicht einen Schaden hätte verhindern können, wird ungleich seltener verfolgt und weniger geächtet als eine direkte Schädigung.


Die Folgen der Folgen

In den üblichen Risikoanalysen werden als mögliche Effekte eines gefährlichen Ereignisses meist nur die direkten Schäden betrachtet und abgeschätzt; tatsächlich aber können die abträglichen Auswirkungen weit darüber hinausgehen. Als 1979 im Kernkraftwerkskomplex Three Mile Island bei Harrisburg (Pennsylvania) durch Ausfälle des Pumpensystems und Bedienfehler der Kern eines Reaktors teilweise schmolz und radioaktive Stoffe freigesetzt wurden, kam zwar niemand direkt zu Tode, und es werden nur wenige dadurch verursachte Krebsfälle erwartet. Dennoch entstand eine starke Opposition gegen diese Energiequelle, und die Diskussion über die Sicherheit von Kernkraftwerken war fortan von diesem Unfall geprägt (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1980, Seite 30). In der Folge ging nicht nur das Betreiberunternehmen bankrott – die Kernindustrie mußte in vielen Ländern auf andere Geschäftsfelder ausweichen.

Daß die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe mit Hunderten oder Tausenden von Toten plötzlich als so viel höher erachtet wurde offenbart eine starke

Signalwirkung des Ereignisses: Ein System, das Experten zufolge als sicher galt, erschien nun dem Laien als im Grunde unbeherrschbar, das eine Versagen als Vorbote weit schlimmerer

Geschehnisse, als Gleichnis für den Verlust von Kompetenz über die Naturkräfte. Hingegen lösen Unfälle mit allgemein bekannter Technik – etwa ein Zugunglück – deutlich weniger Betroffenheit aus.

Generell hat die rasche Einführung vielfältiger neuer Technologien die intuitive Einschätzung von Risiken um die qualitativer, indirekter und zeitlich ferner Schäden erweitert. Das bestimmt auch die öffentliche Diskussion und erschwert einen gesamtgesellschaftlichen Konsens. Beispielsweise erörtert man im Zusammenhang mit der Gentechnik nicht allein gesundheitliche Folgen eines Kontakts mit pathogenem oder toxischem Material oder Umweltschäden etwa aufgrund unkontrollierter Ausbreitung freigesetzter genmanipulierter Organismen und ihrer Wechselwirkung mit herkömmlich gezüchteten oder natürlichen Arten. Vielmehr werden auch soziale Auswirkungen etwa durch Ausforschung der genetischen Anlagen eines Individuums im Hinblick auf Arbeitsfähigkeit und Versicherung diskutiert. Auch eine mögliche Erosion von Wertvorstellungen – etwa zunehmende Akzeptanz von eugenischen Maßnahmen – und damit Schäden für künftige Generationen werden angeführt. Die komplementäre Option, also eine ebenso differenzierte Diskussion der Folgewirkung eines Verzichts auf Gentechnologie, bleibt demgegenüber weitgehend außer Betracht.

Die subjektive Wahrnehmung und Bewertung neuer Risiken hängt mithin sehr stark von sozialen Randbedingungen ab; Unsicherheit und Ungewißheit, wie sie sich etwa in gegensätzlichen Stellungnahmen von Experten erweisen, werden als besonders bedrohlich erlebt. Dies darf freilich nicht dazu verleiten, Zögerlichen und Opponenten Irrationalität vorzuwerfen, wie dies oft geschieht. Auch der Befürworter urteilt subjektiv und sollte seine eigenen Kriterien nicht verabsolutieren. Es gibt für einstweilen hypothetische Risiken keinen verbindlichen Standard der Beurteilung, und man kann eigentlich nur eine Rationalität einfordern, die sich auf die Prozedur der Konfliktlösung bezieht. Wirkliche Urteilsfehler lassen sich meist aufklären oder zumindest überzeugend diskutieren; sie spielen in verhärteten Risiko-Kontroversen auch kaum eine Rolle, sondern vielmehr die jeweiligen Kriterien der Bewertung. Die Wissenschaft kann dazu beitragen, sie transparent zu machen. Dann eine Übereinkunft zu finden ist eine gesellschaftlich und politisch zu lösende Aufgabe.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1998, Seite 98
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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