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Tödliche Spaltung

Der Fleischvergiftung und dem Wundstarrkrampf liegt ein unscheinbarer molekularer Vorgang zugrunde - die Spaltung von Proteinen, die an der Übertragung von Signalen zwischen Nervenzellen mitwirken.


Manche Bakterientoxine gehören zu den stärksten Giftstoffen überhaupt. Berüchtigt sind vor allem das Botulinus- und das Tetanustoxin, die den Botulismus (bekannt als Fleischvergiftung) beziehungsweise den Wundstarrkrampf hervorrufen. In einer Serie bemerkenswerter Arbeiten wurden seit dem Herbst letzten Jahres nun die molekularen Ursachen ihrer Giftwirkung aufgeklärt ("Nature", Band 365, Seite 104). Die Ergebnisse verschaffen zugleich tieferen Einblick in die Funktion der Nervenzellen.

Der Produzent von Botulinustoxin, der Bazillus Clostridium botulinus, gedeiht in luftdicht verpackten eiweißhaltigen Nahrungsmitteln, zum Beispiel in Bohnenkonserven oder in ungekochten Würsten. Von ihm befallene Lebensmittel sind so giftig, daß schon eine Geschmacksprobe schlimme Folgen haben kann; weniger als ein millionstel Gramm Toxin reichen aus, einen Menschen zu töten. Aus diesem Grunde schlug der Pathologe Rudolf Virchow (1821 bis 1902) Mitte des letzten Jahrhunderts im Scherz ungekochte Würste als Duellwaffen vor. Ein bis vier Tage nach Einnahme der vergifteten Nahrung zeigen sich die ersten Symptome in Form von Mundtrockenheit, Sehstörungen (Doppeltsehen), Schluckunfähigkeit und Sprechschwierigkeiten.

Tetanustoxin wird von Sporen des Bazillus Clostridium tetani gebildet, wenn sie im absterbenden Gewebe von Wunden keimen. Unter dem Einfluß des Giftes verkrampft sich bei geringsten Anlässen die willkürliche Muskulatur, besonders der Kinnbacken. Ebenso wie beim Botulismus leidet der Kranke bei vollem Bewußtsein unter fürchterlichen Schmerzen, bis er, oft erst nach Wochen, durch Atemlähmung erstickt.

Mit dem Fortschritt der Nahrungsmitteltechnik ist die Fleischvergiftung selten geworden. In den USA treten jährlich noch 10 bis 20 Fälle auf, hauptsächlich verursacht durch hausgemachte Konserven. Allerdings sterben weiterhin 20 bis 30 Prozent der Vergiftungsopfer. Auch der Wundstarrkrampf ist kein ernstes medizinisches Problem mehr, seit man ihm durch Impfung vorbeugen kann.

Der Weg dahin war freilich lang. Obwohl schon der antike Arzt Hippokrates die Tetanustriade – Wunde, Kiefernkrampf, Tod – beschrieben hatte, identifizierte erst im Jahre 1884 Artur Nicolaier (1862 bis 1945) den Tetanuserreger. Knud Faber (1862 bis 1956) entdeckte 1890 das Toxin, und zwei Jahre später entwickelten Shibasabura Kitasato (1856 bis 1931) und Emil Behring (1854 bis 1917) ein Antitoxin. Im Jahre 1946 gelang es Louis Pillemer von der Case-Western-Reserve-Universität in Cleveland (Ohio) schließlich, das Tetanustoxin rein zu gewinnen.

Bis 1980 hatte man herausgefunden, daß das in der Wunde freigesetzte Gift im Inneren einer Nervenfaser ins Rückenmark wandert und dort die Reizübertragung zwischen Nervenzellen hemmt. Botulinustoxin dagegen wird aus dem Darm aufgenommen und blockiert die Reizübertragung vom Nerv auf den Muskel. Beide Toxine sind also Nervengifte, welche die Signalübermittlung unterbinden. Wie aber lösen sie diese Blockade aus?

Die von einer Nervenzelle erzeugten elektrischen Impulse laufen entlang der Nervenfaser (dem Axon) zur Axonendigung, einer kolbenförmigen Verdickung der Faser, die durch einen Spalt von der nächsten Zelle getrennt ist. Als Signalübermittler über diesen Spalt hinweg dienen Neurotransmitter: Botenmoleküle, die in Bläschen (synaptischen Vesikeln) in der Axonendigung gespeichert sind. Kommt ein Signal dort an, strömen durch Kanäle in der Membran der Axonendigung (der präsynaptischen Membran) Calcium-Ionen ins Innere. Daraufhin wandern die Vesikel zu dieser Membran, verschmelzen mit ihr und schütten den Transmitter in den synaptischen Spalt aus. Dort diffundiert er zur nächsten Zelle, bindet sich an passende Rezeptoren und kann dadurch einen Reiz auslösen.

Schon 1981 vermutete Lance Simpson von der Columbia-Universität in New York, daß Tetanus- und Botulinustoxin (von dem sieben Varianten oder, fachsprachlich, Serotypen bekannt sind) diese Signalkette am Anfang unterbrechen, indem sie innerhalb der Axonendigung enzymatisch Moleküle zerstören, die für die Ausschüttung der Transmitter in den synaptischen Spalt erforderlich sind.

Im Jahre 1988 bewies Bernard Poulain von der französischen Nationalen Forschungsorganisation (CNRS) in Gif-sur-Yvette bei Paris einen Teil von Simpsons Vermutungen. Wenn er Toxin in die großen Axonendigungen der Meeresschnecke Aplysia spritzte, gelangte kein Transmitter mehr in den synaptischen Spalt. Unklar blieb allerdings, welches Molekül dabei auf welche Weise inaktiviert wird.

Eine wichtige Voraussetzung zur Beantwortung dieser Frage hatte bereits 1986 Ulrich Eisel vom Pharmakologischen Institut der Universität Gießen erfüllt: Ihm war es gelungen, die Abfolge der Aminosäuren zu bestimmen, aus denen sich das Tetanustoxin aufbaut. Aminosäuresequenzen werden heutzutage in Datenbanken gespeichert und stehen damit allen interessierten Wissenschaftlern für Vergleiche zur Verfügung. So entdeckte Victor Jongeneel vom Ludwig-Institut für Krebsforschung in Lausanne 1989, daß das Tetanus- und das Botulinustoxin Zink-Proteasen ähneln; das sind Enzyme, die Proteine mit Hilfe von Zink-Ionen spalten.

Die Membran von synaptischen Vesikeln enthält eine Reihe von Proteinen, die teilweise schon seit mehr als einem Jahrzehnt untersucht werden und Namen wie Synapsin, Synaptophysin, Synaptobrevin oder Synaptotagmin tragen. Seit langem wird vermutet, daß sie eine Rolle bei der Transmitterausschüttung spielen.

Giampietro Schiavo von der Universität Padua kombinierte nun diese Vermutung mit Jongeneels Entdeckung: Wenn die Nervengifte Proteasen sind, die im Innern der Axonendigung wirken, könnten sie die Transmitterausschüttung doch dadurch unterbinden, daß sie ein Vesikelprotein spalten.

Um dies zu prüfen, gab Schiavo Tetanustoxin beziehungsweise Botulinustoxin vom Serotyp B zu synaptischen Vesikeln im Reagenzglas und untersuchte nach einer gewissen Zeit, ob die Vesikelproteine noch intakt waren. Tatsächlich überstand eines von ihnen, das Synaptobrevin-2, die Behandlung nicht ("Nature", Band 359, Seite 832).

Nach diesem bahnbrechenden Experiment konnten mehrere Arbeitsgruppen auch für andere Serotypen von Botulinustoxin zeigen, daß sie durch Spaltung eines Proteins die Signalübertragung zwischen Nervenzellen blockieren. Die Serotypen D und F zerschneiden gleichfalls Synaptobrevin, die Typen A und E dagegen das Protein SNAP-25, das in der präsynaptischen Membran sitzt; Botulinustoxin vom Serotyp C schließlich spaltet Syntaxin, das man auch in der präsynaptischen Membran vermutet.

Demnach scheinen die tödlichen Auswirkungen einer Botulinusvergiftung allein darauf zu beruhen, daß eines von drei Proteinen in der Vesikel-beziehungsweise der präsynaptischen Membran gespalten wird. Umgekehrt folgt daraus, daß diese drei Proteine eine entscheidende Rolle bei der Transmitterausschüttung spielen, einem der elementarsten Vorgänge in Gehim und Nervensystem. Wahrscheinlich vermitteln sie zusammen mit einer Reihe löslicher Proteine den Kontakt zwischen den synaptischen Vesikeln und der Membran der Axonendigung, bevor beide fusionieren und die Neurotransmittermoleküle ausgeschüttet werden.

Außer dem reinen Erkenntnisgewinn haben diese Ergebnisse aber auch praktische Bedeutung. So zeigen sie einen neuen Weg zur Behandlung von Botulismus und Wundstarrkrampf auf. Da die Proteaseaktivität der Toxine die Ursache ihrer Giftigkeit ist, sollten Pharmaka, die diese Aktivität unterdrücken, gegen die Vergiftung schützen. Versuchsweise injizierte Schiavos Kollegin Ornella Rossetto Mäusen das Bakterientoxin zusammen mit Captopril, einer blutdrucksenkenden Substanz, die auch die Toxinprotease hemmt. Tatsächlich überlebten die Mäuse, während Kontrolltiere, die allein das Toxin erhielten, allesamt starben.

Schließlich hat diese Entdeckung einen erwähnenswerten Nebenaspekt – zeigt sie doch, daß es in der Forschung nicht immer auf hochentwickelte Technik ankommt. Schiavo reinigte die Vesikel nach einem einfachen Verfahren, das Wieland Huttner an der Yale-Universität in New Haven (Connecticut) entwickelt und 1983 veröffentlicht hat. Zur Analyse der Vesikelproteine benutzte er die seit Jahrzehnten gebräuchliche Gel-Elektrophorese. Sein Experiment, das mit allen Vorarbeiten nicht länger als drei Tage dauert, hätte man also schon vor zehn Jahren durchführen können – doch kam eben niemand auf die Idee. Es brauchte erst Jongeneels Hinweis auf die Ähnlichkeit der Bakterientoxine mit Proteasen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1993, Seite 34
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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