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Winters' Nachschlag: Ülleken auf schiefer Bahn

Oder: Nicht schwänzen ist auch keine Lösung.
Ich hatte bereits die zwölfte Klasse erreicht und noch keine einzige Stunde blaugemacht. Der Grund? Meine Eltern waren Lehrer, und noch dazu an meiner Schule! Schwänzen zu wollen entsprach für mich also in etwa dem Versuch, in Begleitung zweier Polizeibeamter eine Bank auszurauben. Damit war ich doppelt bestraft: Neben den entgangenen Freuden des Müßiggangs musste ich auch noch mit meinem Image als unverbesserlicher Streber und Spaßbremse fertig werden. Insofern möchte ich aus der Sicht eines Betroffenen etwas zur "Psychologie des Nicht-Schwänzers" loswerden, die in dem Artikel von Margrit Stamm ab S. 26 keine Erwähnung findet.

Mag ja sein, dass Schuleschwänzer später oft auf die schiefe Bahn geraten. Aber zunächst einmal – das weiß ich noch genau – steigt ihr soziales Prestige im Vergleich zu den spießigen Kameraden in schwindelnde Höhen. Unser Top-Blaumacher Peter Strang beispielsweise punktete bei meinem Schwarm Claudia Baumann mit seiner Fehlstundenbilanz deutlich mehr als ich mit meinem Notendurchschnitt.

So konnte es nicht weitergehen. Ich schmiedete einen teuflischen Plan: Am nächsten Morgen würde ich zu Hause krankspielen, dann jedoch heimlich zur Schule fahren und nach der ersten Stunde wieder zurück ins heimische Bett flüchten. Den Mitschülern würde ich vorgaukeln, ich würde nach der ersten Stunde schwänzen. Gesagt, getan: Ich schützte eine Darmgrippe vor, wartete, bis meine Eltern aus dem Haus waren, und raste dann mit dem Fahrrad zur Schule. Schon vor der ersten Stunde beugte ich mich so lässig wie möglich zu Claudia herüber und erklärte ihr, ich hätte heute allemal Wichtigeres zu tun, als den öden Paukern zuzuhören. Ich genoss ihren zweifelnden, aber zugleich doch bewundernden Blick, da öffnete sich die Klassentür und herein kam – meine Mutter!

Sie war uns als Vertretungslehrerin zugeteilt worden. "Was machst du denn hier, Ülleken? Ab ins Bett mit deiner Darmgrippe! Ich weiß, du willst nichts verpassen, aber krank ist nun mal krank!" Mit hochrotem Kopf und unter schallendem Gelächter rannte ich aus dem Klassenzimmer. Nun würde ich für den Rest meiner Schullaufbahn nicht mehr nur ein Streber sein, sondern ein Streber namens Ülleken! Ich war am Boden zerstört. Es gab nur einen einzigen Weg, diese Scharte wieder auszuwetzen: Ich musste endlich wirklich schwänzen – und das möglichst spektakulär.

Statt in den Englischunterricht beim gestrengen Herrn Klinkamp fand ich mich am folgenden Tag frühmorgens in der örtlichen Schülerkneipe ein und trank das erste Bier auf ex. Mein Leben, das wurde mir beim zweiten Pils klar, war ohnehin verpfuscht. Ich würde von der Schule fliegen, meine Eltern würden mich verstoßen und in ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche stecken. Claudia aber würde Peter heiraten und ihm mindestens fünf Kinder schenken. War das die Sache wert?

"Sieh mal an, Ülleken, selbst in der Kneipe der Erste!" Die Pranke von Peter Strang fiel auf meine Schulter. Bevor ich recht begriff, wie mir geschah, saß die gesamte Klasse am Tisch, Herr Klinkamp inklusive. "Aha, da hat wohl der Herr Papa gepetzt, dass ich heute mit euch auf 'Geburtstagsexkursion' gehe!", tadelte der Lehrer. "Aber von Bier trinken war nicht die Rede, Winters!"

Vielleicht war es die Erleichterung darüber, dass meine Verbrecherkarriere abermals abrupt endete, noch bevor sie richtig begonnen hatte, vielleicht war es auch das Bier am frühen Morgen – jedenfalls durchströmte mich ein eigenartiges Glücksgefühl. Nach einer Weile bemerkte ich, dass alle Augen auf mich gerichtet waren: Zum ersten Mal unterhielt ich die ganze Truppe. Ich fühlte mich wie neu geboren.

Das ist das wahre Motiv fürs Schwänzen, das laut des Artikels von Frau Stamm nicht einmal den Schülern selbst bewusst ist: Es ist ein Initiationsritus, durch den man in den Kreis der Gemeinschaft aufgenommen wird. Und durch den man Claudia Baumann erst so richtig kennen lernt. Die saß nämlich plötzlich neben mir, sah mich kopfschüttelnd an und machte mir das schönste Kompliment, dass ich bis dahin je gehört hatte: "Ülleken, Ülleken, so kenne ich dich ja gar nicht!"

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