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Urzeugung aus Kometenstaub

Schon lange gibt es Hinweise darauf, dass biologische Vorläufermoleküle aus dem All dem irdischen Leben auf die Sprünge halfen. Nun zeigt eine systemtheoretische Analyse, dass Staubteilchen von Kometen beim Kontakt mit Wasser auf der Erdoberfläche geradezu als Starter-Kit für das Leben wirkten.


Anfang der fünfziger Jahre unternahm Stanley L. Miller, heute an der Universität von Kalifornien in San Diego, zusammen mit Harold C. Urey an der Universität Chicago sein berühmtes Experiment zur Entstehung des Lebens. Er schickte elektrische Entladungen durch ein mit Ammoniak und Methan gefülltes Gefäß, das die Uratmosphäre der Erde darstellen sollte. Damit verbunden war ein zweiter Behälter, der – sozusagen als Urozean – Wasser enthielt. Nach mehreren Wochen konnte Miller in dem Wasser Aminosäuren und andere Substanzen nachweisen, die Grundbausteine von Biomolekülen sind.

Damit schien ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Entstehung des Lebens auf der Erde geklärt. Zwar hatte die Uratmosphäre nach heutigem Erkenntnisstand eine andere Zusammensetzung. Doch spätere Experimente zeigten, dass sich die chemischen Grundsubstanzen des Lebens unter den verschiedensten Bedingungen bilden können. Dazu muss nur hinreichend konzentriert Energie zugeführt werden, sei es durch elektrische Entladungen oder ultraviolette, ionisierende oder kosmische Strahlung.

Das bedeutet aber, dass es überall im Universum zumindest Vorstufen von Biomolekülen gibt – in unserem Sonnensystem zum Beispiel selbst auf so unwirtlichen Plätzen wie einigen Jupitermonden. Tatsächlich finden sich Grundsubstanzen des Lebens auch in Meteoriten und Kometen sowie im kosmischen Staub, der stetig auf die Erde niederrieselt. Diese Tatsache gab Anlass zu der Vermutung, dass die Zufuhr solcher Substanzen aus dem All die Urzeugung auf der Erde gefördert und beschleunigt haben könnte. Erkenntnisse und Überlegungen dazu stellten erst kürzlich Louis J. Allamandola und Kollegen vom Ames-Forschungszentrum der Na-sa in Moffett Field (Kalifornien) in dieser Zeitschrift vor (Spektrum der Wissenschaft, 10/99, S. 26)

Das Vorhandensein von Molekülen, die sich vielleicht auch noch selbst reproduzieren, bildet aber nur eine der notwendigen Bedingungen für Leben; denn Leben ist mehr: Seine Elemente sind Systeme, die sich nach den Prinzipien der Evolution selbst organisieren. Darauf haben schon 1981 die Systemtheoretiker und Neurologen Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela von der Universität Santiago de Chile hingewiesen. Sie bezeichneten dieses systematisch-selbstbezügliche Organisationsprinzip allen Lebens als Autopoesis.

Grundprinzip des Lebens: Selbstorganisation


Wir haben uns also die Frage zu stellen, wie es denn möglich ist, dass wie auch immer entstandene Biomoleküle in selbstorganisierender Weise zu lebenden Systemen zusammenfinden. Hier kommt die Physik, speziell: die Thermodynamik, zum Tragen. Sie fordert, dass die Entropie – das Maß der Unordnung – in einem abgeschlossenen System nur gleich bleiben oder zunehmen kann. Aber schon 1977 haben Gregoire Nicolis und Ilya Prigogine von der Freien Universität Brüssel (letzterer erhielt 1977 den Nobelpreis für Chemie) aufgezeigt, dass in offenen Subsystemen unter speziellen physikalisch-systemtheoretischen Bedingungen die Entropie sehr wohl abnehmen kann. Damit ist eine Entwicklung zu höher geordneten, komplexeren Strukturen möglich.

Eine dieser Bedingungen lautet, dass sich die Moleküle nicht alle im chemischen Gleichgewicht befinden dürfen; zumindest einige müssen hinreichend Triebkraft mitbringen, um Reaktionen eingehen zu können. Außerdem dürfen die Moleküle nicht gleichmäßig über das gesamte System verteilt sein; vielmehr müssen starke Konzentrationsunterschiede herrschen. Dies wiederum erfordert den Einschluss bestimmter Substanzen in Gebiete mit halbdurchlässigen (semipermeablen) Wänden. Heute leisten das die Zellmembranen.

Generell ist schwer vorstellbar, dass solche Bedingungen auf der frühen Erde vorlagen. Die Meere oder Seen bildeten homogene Medien, deren Inhaltsstoffe gleichmäßig verteilt waren und miteinander im chemischen Gleichgewicht standen. Dies ist kaum vereinbar mit den Forderungen der Nichtgleichgewichts-Thermodynamik und setzt hinter alle Modelle einer rein erdgebundenen Lebensentstehung ein großes Fragezeichen. Auch der Eintrag biologischer Vorläufermoleküle aus dem All ändert an dieser Situation im Prinzip nichts – jedenfalls solange man annimmt, dass diese sich in den Urgewässern auflösten und nur deren Pool an biologischen Grundstoffen vermehrten.

Tatsächlich aber gelangte der Großteil dieser Moleküle nicht frei auf die Erde, sondern als Bestandteil von kosmischen Staubteilchen. Solche Partikel entweichen aus Kometen, wenn diese der Sonne relativ nahe kommen und dabei teilweise verdampfen. Sie erscheinen dann als mehr oder weniger spektakulärer Staubschweif. Noch heute gehen täglich einige hundert Tonnen kosmischer Staubteilchen auf die Erde nieder; in seiner Frühzeit war unser Planet einem Bombardement durch Kometen und Asteroiden ausgesetzt, die ihm ein Vielfaches dieser Menge an Staubpartikeln zuführten. Wie wir im Folgenden zeigen werden, schafft das Zusammentreffen der trockenen, biomolekülhaltigen Kometenteilchen mit flüssigem Wasser auf der Erdoberfläche genau jene Bedingungen, welche die Nichtgleichgewichts-Thermodynamik für die Entstehung des Lebens fordert.

Der Kosmochemiker J. Mayo Greenberg von der Universität Leiden (Niederlande) hat ein allgemein anerkanntes Modell des kometaren Staubes aufgestellt (Bild). Dabei ging er von optischen sowie radioastronomischen Beobachtungen interstellarer Gas- und Staubwolken und Erkenntnissen über ihren chemischen Aufbau aus. Durch Verdichtung einer solchen Wolke hat sich einst auch das Sonnensystem gebildet; Kometen beinhalten besonders ursprüngliche Bestandteile dieser Wolke. Außerdem stützte Greenberg sich auf Strukturanalysen an interplanetaren Staubteilchen, die in der oberen Atmosphäre eingefangen worden waren. Solche Untersuchungen haben der Astronom Don E. Brownlee von der Universität Seattle (Washington) und andere durchgeführt.

Nach Greenbergs Modell handelt es sich bei den kosmischen Staubteilchen um Aggregate – Zusammenballungen – aus Tausenden mineralischer Kerne, die nur einige millionstel Millimeter (Nanometer) messen und von gefrorenen Gasen umhüllt sind. Diese waren über Jahrmilliarden kosmischer und energiereicher elektromagnetischer Strahlung sowie einem wiederholten Wechsel aus Erwärmung und Abkühlung ausgesetzt. Das hat die ursprüngliche chemische Zusammensetzung der Gase stark verändert. Es entstanden die verschiedensten Moleküle – darunter auch relativ komplizierte, die Vorläufer von Grundbausteinen des Lebens bilden.

Staubkörner von Kometen enthalten komplexe Biomoleküle


Beim letzten Vorbeiflug des Kometen P1/Halley an der Erde Anfang 1986 näherte sich ihm eine ganze Armada von Raumsonden – mit dem Ziel, möglichst Genaues über Gestalt, Beschaffenheit und Zusammensetzung des alle 76 Jahre wiederkehrenden Schweifsterns herauszufinden. Wir selbst untersuchten mit Massenspektrometern an Bord der europäischen Sonde Giotto und der beiden sowjetischen Raumfahrzeuge Vega die Staubteilchen des Kometen. Trotz der hohen Vorbeifluggeschwindigkeit von fast 80 Kilometern pro Sekunde konnten wir nicht nur die mineralischen Kerne der Staubteilchen analysieren, sondern auch Spuren vielerlei organischer Moleküle erkennen. Besonders die innige Durchmischung war für uns überraschend. Insgesamt bestätigten diese ersten und bisher einzigen In-situ-Messungen das von Greenberg erstellte Modell, wonach kometare Staubteilchen Agglomerate aus interstellarem Staub, chemisch verändertem Gas und Wassereis sind.

Im Februar 1999 startete die Nasa-Sonde Stardust mit unserem Staubeinschlags-Massenspektrometer CIDA an Bord. Bis Redaktionsschluss konnten wir fünf Staubteilchen analysieren, die alle unzweifelhaft interstellar waren. Ihre Untersuchung bestätigte die bei Halley gewonnenen Daten über den organischen Gehalt von Kometenstaub.

Wenn wir unsere Beobachtungen an Halley und die Ergebnisse anderer Untersuchungen zusammennehmen, ergibt sich eine bemerkenswerte Erkenntnis: Die kosmischen Staubteilchen enthalten Vorläufermoleküle sämtlicher Stoffklassen, die für die Biochemie von Lebewesen von Bedeutung sind.

Schon im Jahre 1910 – bei der vorletzten Sonnenpassage des Kometen Halley – konnten Astronomen durch Spektralanalyse in seinem Plasmaschweif Blausäure (HCN) nachweisen. Dies weckte damals übertriebene Ängste vor einer Giftkatastrophe auf der Erde, da diese den Staubschweif durchquerte. Wir haben 1986 Hinweise auf Polymere der Blausäure im Staub gefunden. Ein solches Polymer (eine Verbindung aus fünf HCN-Molekülen) ist Biologen unter dem Namen Adenin wohl bekannt. Es gehört zu den vier so genannten Nucleobasen, welche die "Stufen" in der "Wendeltreppe" ("Doppelhelix") der Erbsubstanz DNA (Desoxyribonucleinsäure) bilden. In der Reihenfolge dieser vier Basen ist die genetische Information verschlüsselt. Außerdem kommt Adenin im Adenosintriphosphat (ATP) vor, dem wichtigsten Energieträger des Lebens überhaupt.

Adenin ist wahrscheinlich als solches im kometaren Staub präsent. Aber auch die Bedingungen zur Bildung anderer Nucleobasen, zumindest aber ihrer Vorstufen, sind günstig: Pyrimidin dürfte als Copolymerisat der Blausäure und des Acetylens (C2H2) vorkommen, die übrigen Basen als Copolymerisate von Blausäure, Acetylen und Formaldehyd (CH2O). Sowohl Acetylen als auch Formaldehyd wurden in Kometenstaub nachgewiesen.

Der zweite Hauptbestandteil der Erbsubstanz ist der Zucker Ribose (bzw. Desoxyribose). Er bildet im Wechsel mit Phosphatgruppen das Rückgrat der Doppelhelix. Ribose kann durch Polymerisation aus fünf Molekülen Formaldehyd entstehen – oder aber durch Reaktion von Polyacetylenen mit Wasser. Diese unter Normalbedingungen äußerst instabilen Moleküle sind wahrscheinlich in der organischen Komponente von Kometenstaub enthalten. Deren Wasserstoffarmut deutet jedenfalls darauf hin.

Als dritter und letzter Bestandteil der DNA können schließlich auch Phosphate in kometaren Staubteilchen entstehen. Deren mineralische Kerne enthalten nämlich Phosphide, die sich leicht in Phosphate umwandeln. Das stark ungesättigte und sauerstoffreiche Milieu eines kosmischen Staubteilchens ist dazu hinreichend oxidativ (im Gegensatz zur irdischen Uratmosphäre).

Alle Bausteine der Erbmoleküle finden sich somit – direkt oder in Vorläuferform – in kometaren Staubteilchen. Wie aber steht es mit den Aminosäuren, deren Bildung unter präbiotischen Bedingungen Miller und Urey demonstriert hatten? In Meteoriten entdeckten Michel Maurette und sein Team an der Universität Paris sowie andere Wissenschaftler immerhin 70 verschiedene Sorten – darunter auch die 20 essenziellen, die der Mensch braucht. Dies heißt aber nicht, dass sie auch in der Kometenmaterie bereits vorhanden sind.

Wir haben bei unseren Untersuchungen keine Hinweise auf Aminosäuren gefunden, wohl aber auf ungesättigte Nitrile, die im interstellaren Gas vorkommen. Ihre Reaktion mit Ammoniak, einem allgegenwärtigen kosmischen Molekül, führt zu Aminonitrilen. Von diesen aber ist bekannt, dass sie mit flüssigem Wasser über die so genannte Strecker-Synthese spontan Aminosäuren bilden.

Die Nitrile selbst reagieren dagegen mit Wasser zu Fettsäuren. Sie stellen folglich das Ausgangsmaterial für die vierte und letzte große Stoffklasse, aus denen Lebewesen bestehen: die Fette (Lipide).

Obwohl kometarer Staub also die Grundbausteine sämtlicher biologisch wichtigen Moleküle enthält, genügt das freilich noch keineswegs für die Entstehung von Leben. Der Schutt einer explodierten Apotheke umfasst sicherlich auch alle entscheidenden Biomoleküle, kann aber trotzdem kein Ort der Urzeugung sein. Zum einen fehlt ihm nämlich die Triebkraft für chemische Umsetzungen – ein Startpunkt fernab vom chemischen Gleichgewicht. Dieser ist in der Kometenmaterie gegeben, weil sie großenteils energiereiche, instabile Vorstufen von Biomolekülen enthält, die erst beim Kontakt mit Wasser zu reagieren anfangen.

Zum anderen fehlen Katalysatoren, die wichtige Umsetzungen beschleunigen. Heute übernehmen Proteine diese Funktion. Zu Beginn der Lebensentstehung aber gab es noch keine Eiweißstoffe. Dafür existierte im Kometenstaub freilich ein probater Ersatz; denn dort bedeckt das organische Material silicatische (und sulfidische) Mineralkörner im Nanometer-Bereich. Wegen ihrer Kleinheit, die ein großes Verhältnis von Oberfläche zu Volumen bedingt, bilden sie ideale Träger für Reaktionsbeschleuniger aller Art. Als solche enthalten sie unter anderem die Übergangsmetalle Eisen und Nickel, die Oxidationen und Reduktionen katalysieren können, sowie Zink, das die Verknüpfung einzelner Nucleotide zur Doppelhelix vermittelt. Obwohl in höheren Lebewesen Metall-Proteinkomplexe diese Aufgaben erfüllen, zeigt die moderne Nanochemie, dass auch reine Metalle an Grenzflächen katalytisch wirken können.

Eine dritte Bedingung für die Lebensentstehung schließlich ist die Existenz von Konzentrationsgradienten. Auch sie wird in geradezu idealer Weise von kometaren Staubkörnern erfüllt. Wie erwähnt, enthalten sie Nitrile, die beim Kontakt mit Wasser zu Fettsäuren reagieren. Diese aber haben ein hydrophiles (wasserliebendes) und ein hydrophobes (wassermeidendes) Ende. In Wasser lagern sie sich deshalb dicht an dicht an das Staubkorn an, wobei ihr hydrophiles Ende zum Wasser und das hydrophobe zum Korn hin weist. Es bilden sich also spontan so genannte Micellen: von einer Fettsäure-"Haut" umhüllte, separate Reaktionsräume. Die Fetthülle wirkt dabei als halbdurchlässige Grenzfläche, an der sich Konzentrationsgradienten zwischen Innen- und Außenseite aufbauen können.

Hier nun kommt als weiterer wichtiger Punkt die Größe der Staubteilchen ins Spiel. Selbstorganisation ist, wie wir aus den Arbeiten von Prigogine wissen, auch ein raumzeitliches Problem. Sie findet nur in ganz bestimmten räumlichen Strukturen und in bestimmter zeitlicher Abfolge statt. Die Größe eines sich chemisch selbst organisierenden Systems hat etwas mit den Diffusionslängen seiner chemischen Bausteine zu tun: der Wegstrecke, die sie in einer bestimmten Zeit typischerweise zurücklegen. Kleine chemische Botenstoffe wie cyclisches Adenosinmonophosphat (cAMP) müssen das System im "Takt" der chemischen Reaktionszyklen – fachsprachlich: in orbitalen Zykluszeiten – durcheilen können. Große Moleküle wie Nucleinsäuren oder Peptide dagegen sollten in diesen Zeitskalen praktisch ortsfest sein.

Schon in den siebziger Jahren erkannte Manfred Eigen vom Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen, dass weder Proteine noch Nucleinsäuren allein zyklische Reaktionssysteme bilden können, die zu selektionsfähigen Einheiten führen. Deshalb entwickelte er 1977 die Theorie vom "Hyperzyklus", der solche Zyklen dynamisch miteinander verknüpft. Diese kombinierte chemische Selbstreproduktion macht nun zwar Wachstum möglich, ergibt aber immer noch kein lebendes System, das Objekt der Selektion wäre. Dank den theoretischen Untersuchungen von Prigogine wissen wir aber, dass ein wachsendes System ab einer bestimmten Größe instabil wird und spontan in zwei ähnliche kleinere zerfällt. Unter welchen Umständen dies geschieht, hängt im Wesentlichen von den Diffusionskonstanten der Reaktionspartner und der Geschwindigkeit ihrer Umsetzungen ab.

Einer von uns (Krueger) hat diese beiden Modelle miteinander verknüpft, indem er für sehr einfache, kurze Ketten aus DNA-Bausteinen (Oligonucleotide) und Aminosäuren (Oligopeptide) empirische Werte, die unter den Diffusions- und Reaktionsbedingungen im kometaren Staub gelten, in die von Prigogine angegebenen Gleichungen einsetzte. Er kam für den typischen Durchmesser eines sich derart spontan teilenden thermochemischen Systems auf etwa drei Mikrometer. Teilchen dieser Größenordnung – ein bis zehn Mikrometer – aber bilden nach Greenberg das interstellare Medium und nach unseren Ergebnissen den Staub von Kometen.

Ein typischer Komet mit drei Kilometern Durchmesser lässt sich als recht loser Verbund solcher Teilchen auffassen, der mechanisch nicht sonderlich stabil ist und im Wesentlichen durch Wassereis zusammengehalten wird. Viele Kometenkerne spalten sich deshalb; der berühmte Shoemaker-Levy 9 zum Beispiel wurde allein durch die Gezeitenkräfte von Jupiter zerbrochen, bevor seine Fragmente schließlich unter gewaltigen Explosionen in die Gashülle des Planeten stürzten.

Ein drei Kilometer großer Komet enthält ungefähr eine Quadrilliarde, 1||000||000||000||000||000||000||000||000||000, (1027) Staubteilchen. Alle thermodynamischen Bedingungen und auch die chemischen Grundbausteine sind vorhanden, damit ein solches Teilchen biotisch interessante Reaktionen eingehen kann. Was ihm dazu noch fehlt ist allein der Kontakt mit flüssigem Wasser, das es wegen des niedrigen Druckes im Weltraum nicht geben kann.

Kometen, die auf der frühen Erde niedergingen, zerplatzten und verglühten großenteils, wenn sie mit Überschallgeschwindigkeit in die Atmosphäre eintraten. Doch kann man nach einer neueren Berechnung der Nasa annehmen, dass etwa 0,1 Prozent des Materials den Bremsvorgang überstand und in Form meter- bis millimetergroßer Bruchstücke die Urseen erreichte. Die Kornstruktur blieb dabei erhalten. Damit gelangten noch eine Quadrillion (1024) intakte Mikrosysteme in ein wässriges Milieu, das weiteres organisches Material und mineralische Sedimente aus verschiedenen Quellen enthielt – so von vorangegangenen Einschlägen und den restlichen 99,9 Prozent des Kometen, die nach dem Verdampfen und erneuten Kondensieren in der Atmosphäre schließlich gleichfalls zu Boden fielen.

Durch Eindringen des Wassers in die lose Teilchenstruktur konnte nun die präbiotische Chemie in Gang kommen. Wie geschildert, entstanden zunächst aus Nitrilen Fettsäuren, die sich zu Micellen zusammenlagerten. Durch deren halbdurchlässige Hülle konnten dann kleine Substratmoleküle hinein- und Stoffwechselprodukte hinausschlüpfen sowie Ionen ausgetauscht werden. Die sich aufbauenden komplexen Biomoleküle blieben aber im Inneren eingeschlossen.

Entstand das Leben zufällig oder zwangsläufig?


Natürlich ist es äußerst unwahrscheinlich, dass die Reaktionen in einem solchen Korn zufällig gerade die "richtigen" Komponenten in den passenden Konzentrationen erzeugen, damit ein sich selbst organisierender Prozess in Gang kommt. Albert Eschenmoser vom Labor für Organische Chemie der ETH Zürich hat untersucht, wie viele alternative chemische Wege existieren, die nicht zu Leben führen. So können die verschiedensten Nucleobasen, Zucker und Phosphorverbindungen entstehen, deren Kombination Nucleotide ergibt, die sich nicht effizient vermehren können.

Indem wir auf Eschenmosers Daten zurückgriffen und berücksichtigten, wie viele zu RNS kondensierbare und untereinander kombinierbare präbiotische Moleküle in einem Staubkorn enthalten sind, konnten wir die Wahrscheinlichkeit dafür abschätzen, dass Nucleinsäuren mit einer für die Selbstvermehrung günstigen Zusammensetzung die Chemie im wässrigen Kometenkorn dominieren. Für die einzelnen Komponenten (und die Dominanz einer "Händigkeit" bei den Zuckermolekülen) ergaben sich naturgemäß geringe Wahrscheinlichkeiten, die miteinander zu multiplizieren sind und dabei ein noch kleineres Produkt liefern.

Allerdings zeigte Eschenmoser, dass etliche Varianten dieser Moleküle durchaus zu reproduktiven RNS-ähnlichen Strukturen führen, die sich freilich nur sehr ineffizient vermehren. Zum heutigen genetischen Code ist es wahrscheinlich erst durch einen weiteren Selektionsprozess gekommen, bei dem die Peptidverschlüsselung in einem rückgekoppelten Hyperzyklus optimiert wurde. Für den noch ineffizienten RNS-Vorläufer kommen wir mit vorsichtigen Schätzungen auf eine Bildungswahrscheinlichkeit von 10-20.

Auf den ersten Blick mag das als winzig kleine Zahl erscheinen, die sich kaum von null unterscheidet. Doch erinnern wir uns, dass schon ein einziger Komet 1024 intakte Staubpartikel im Meer deponiert – und entsprechend viele Versuche zum Entfalten einer präbiotischen Chemie frei hat. Sein Einschlag ergäbe demnach mindestens 10||000 im autopoetischen Sinne "lebende" Systeme, die wir als ersten "Wildtyp" der Evolution ansprechen könnten.

Ultraviolette Strahlung förderte präbiotische Evolution


In diesem Szenario spielt auch die solare UV-Strahlung, die damals ungehindert auf die Erdoberfläche fiel, eine entscheidende Rolle. Statt schädlich zu wirken, wie bisher meist unterstellt wird, hatte sie eine überlebenswichtige Funktion für die ersten "Organismen". Diese konnten sich ja nur von den vorhandenen Nährstoffen in der Ursuppe – also autotroph – ernähren. Dafür aber benötigten sie chemisches "Recycling". Ihre "Abfall"-Produkte mussten wieder in energiereiche Substrate umgewandelt werden – und dafür sorgte die UV-Strahlung.

Aber sie hatte noch eine weitere wichtige Funktion. Dazu muss man wissen, dass die Aminosäuren und Zucker jeweils in zwei Formen vorkommen, die sich wie Bild und Spiegelbild – oder wie ein linker und ein rechter Handschuh – zueinander verhalten. Lebewesen verwenden jeweils praktisch nur die eine der beiden spiegelbildlichen Formen. Da die andere übrig blieb, wäre das frühe Leben sehr bald daran erstickt. Doch die UV-Strahlung sorgte immer wieder für eine Gleichverteilung zwischen beiden Formen, indem es die überzählige jeweils in die andere umwandelte.

Schließlich muss das frühe Leben einen "Wildtyp" dargestellt haben, also eine breite Vielfalt von Mutanten. Auch diese Mutationen gewährleistete die UV-Strahlung. Erst hochkomplexes Leben muss sich vor dieser Strahlung schützen. Es hängt dann aber auch von keiner Ursuppe mehr ab, sondern ernährt sich heterotroph – durch gezielte Synthese von Nährstoffen mittels Sonnenlicht.

Wenn das hyperzyklisch gebildete Material innerhalb der micellären Hülle um das kometare Staubkorn eine bestimmte Menge erreicht hat, wird diese Hülle instabil. Infolgedessen kann sich entweder eine Tochtermicelle abspalten, die eine – zur weiteren Entwicklung hinreichend große – Teilmenge des organischen Inventars mitnimmt; oder andere Micellen, die sich im Wasser spontan gebildet haben, "docken" am Korn an und übernehmen einen Teil des Inventars, das sich dann weiter hypercyclisch vermehrt. Das silikatische Grundgerüst wird von diesen Einheiten, die wir "Protozellen" nennen wollen, ja nun nicht mehr benötigt. Es diente dem Leben sozusagen nur als Starter-Kit.

Je nach den speziellen thermochemischen Bedingungen können sich die Membranen der Protozellen als Einfach- oder Doppelschichten stabil organisieren. Aus der Waschmittelchemie ist beides bekannt; heutige Lebewesen haben ausschließlich Doppelmembranen. Dass Micellen bei der Biogenese vermutlich eine wesentliche Rolle spielten, wird im Übrigen seit Jahrzehnten vermutet. Allerdings treten sie in bisherigen Modellen eher spät in Erscheinung und schließen dann nur zufällig bereits weit entwickelte Produkte einer molekularen Evolution ein. In unserem Szenario spielen sie dagegen von Anfang an eine zentrale Rolle bei der chemischen Selbstorganisation.

Das hier vorgestellte Modell erfüllt also eine Reihe notwendiger Bedingungen für die Entstehung des Lebens. Die kometaren Staubpartikel boten einen abgegrenzten Raum geeigneter Größe für einen primitiven autotrophen Stoffwechsel. Sie ermöglichten eine chemische Vermehrung der entscheidenden Biomoleküle, indem sie die notwendigen Bestandteile des Eigenschen Hyperzyklus bereitstellten und einschlossen. Ferner konnten sich die ersten selbstorganisierten "lebenden" Systeme durch dynamische Spontanspaltung wachsender Micellen vermehren. UV-Strahlung schließlich förderte eine hohe Mutabilität des Wildtyps. Die geologische Vielgestaltigkeit der Urseen könnte die Gefahr verringert haben, dass diese Populationen auseinanderdrifteten, und für jene Isolation gesorgt haben, welche die Weiterentwicklung der ersten Quasispezies begünstigte.

Kein rein auf die Erde beschränktes Modell der Lebensentstehung erfüllt all diese notwendigen Bedingungen. Waren sie auch hinreichend? Alles spricht dafür; jedenfalls wüssten wir keine Voraussetzung, die noch fehlt. Demnach war die Entstehung des Lebens auf der Erde keineswegs nur eine extrem unwahrscheinliche Laune des Zufalls, die Hunderte von Jahrmillionen zum reinen Ausprobieren nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum brauchte. Im Gegenteil: Sobald Kometenstaub auf der Erdoberfläche mit flüssigem Wasser in Berührung kam, erfolgte die Urzeugung quasi zwangsläufig und, in geologischen Zeiträumen betrachtet, auch prompt: Früheste Stoffwechselspuren im Isua-Gestein aus Grönland zeigen, dass es spätestens 50 Millionen Jahre, nachdem die Erde weit genug abgekühlt war, um flüssiges Wasser zu beherbergen, bereits lebende Zellen gab.

In dieser Zeitspanne sind noch mindestens einige zehntausend Kometen auf der jungen Erde eingeschlagen, sodass der beschriebene Prozess der Biogenese genügend Chancen hatte, mehr als einmal abzulaufen. Die Idee einer einzigen Urzelle ist also doppelt unwahrscheinlich. Vielmehr dürften schon früh verschiedene Wildtypen miteinander in Konkurrenz getreten sein.

Abschließend meinen wir sagen zu können: Keines der derzeit über hundert Biogenese-Modelle erlaubt der Natur, in so kurzer Zeit eine auch nur annähernd große Zahl von Versuchen zur Entstehung des Lebens im Stadium kompletter "protozellulärer" Systeme durchzuführen. Nur die hier vorgestellte Urzeugung aus Kometenstaub ermöglicht eine echte Evolution schon auf der präbiotisch-chemischen Ebene.

Literaturhinweise

Erste direkte chemische Analyse interstellarer Staubteilchen. Von F. R. Krueger und J. Kissel in: Sterne und Weltraum, Bd. 39, S. 326–329 (5/2000).

Biogenesis by Cometary Grains – Thermodynamic Aspects of Self-Organization. Von F. R. Krueger und J. Kissel in: Origin of Life and Evolution of the Biosphere, Bd. 19, S. 87–93 (1989).

The Organic Component in Dust from Comet Halley as Measured by the PUMA Mass Spectrometer on Board VEGA. Von J. Kissel und F. R. Krueger in: Nature, Bd. 326, Nr. 6115, S. 755–760 (1987).



Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2000, Seite 64
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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