Direkt zum Inhalt
Login erforderlich
Dieser Artikel ist Abonnenten mit Zugriffsrechten für diese Ausgabe frei zugänglich.

Mitgefühl: Das Leiden der anderen

Fritz Breithaupt ist ein Wanderer zwischen den Disziplinen. Als Germanist und Kognitionsforscher erkundet er die dunklen Seiten der Empathie.
Helfer versuchen ein Schlauchboot zu entladen, in dem sehr viele Menschen sitzen.

München im Herbst 2015. Am Haupt­bahnhof begrüßen hunderte Menschen jubelnd die über ­Ungarn und Österreich ankommenden Flüchtlinge. Man klatscht Beifall, reicht den Kindern Teddybären und Süßigkeiten. Ging es hier um Anteilnahme? Gründeten die Willkommensgesten auf Empathie, vielleicht sogar auf Nächstenliebe? "Ich vermute etwas anderes dahinter", sagt Fritz Breithaupt. "Die Menschen identifizierten sich mit der Retterin, mit Angela Merkel, und wollten es ihr gleichtun."

Breithaupt ist Professor für Germanistik und Kognitionswissenschaften an der Indiana University in Bloomington (USA). In seinem Anfang 2017 erschienenen Buch "Die dunklen Seiten der Empathie" beschreibt er, was das Talent zum Mitfühlen mit uns macht. Im Guten wie im Schlechten.

"Empathie ist zunächst das Miterleben der Situa­tion eines anderen. Eine Art sechster Sinn, wenn wir empfinden, was wir nicht mit den eigenen Sinnen wahrnehmen. Wir versetzen uns dann in die Lage, in die Haut eines anderen." Im Fall der Jubelnden von München seien das nicht etwa die Syrer gewesen, die unter großen Entbehrungen vor dem Krieg in ihrer Heimat geflohen waren. "Als Merkel in der Nacht auf den 5. September die Grenzen öffnete, war das eine mutige Tat. Sie ging ein hohes Risiko ein, was für Politiker ungewöhnlich ist. Und sie zeigte Mitgefühl – davon fühlten sich die Menschen angesprochen." Breithaupt nennt das "gefilterte Empathie"; sie diene letztlich dazu, dass man sich selbst zu den Guten rechnet.

Wenn es den Geflüchteten half, ist dieses Mitgefühl um der eigenen Aufwertung willen aber nicht verkehrt, oder? "Stimmt. Die Begeisterung verflog jedoch rasch. Stattdessen knüpfte man Erwartungen an die Flüchtlinge: Sie sollten dankbar sein, sich integrieren, schnell die Sprache lernen. Als sich vieles davon so nicht erfüllte, schlug der Aktionismus in Ressentiments um." Der Grund: Solche Empathieformen seien selbstbezogen und von äußerer Anerkennung abhängig. "Das hat mit klassischem Mitgefühl wenig zu tun." ...

Kennen Sie schon …

Spektrum Kompakt – Die Dunkle Triade - Das Böse in uns

Nicht selten sind sie die Schurken: In Filmen und True-Crime-Podcasts faszinieren Narzissten, Psychopathen und Machiavellisten mit ihrer Skrupel- und Reuelosigkeit. Doch ist die Dunkle Triade nicht nur Erzählungen vorbehalten. Mal stärker und mal schwächer ist sie in jedem von uns ausgeprägt.

Gehirn&Geist – Beziehungen: Wie sie prägen, wann sie stärken

Das Dossier widmet sich sozialen Beziehungen in all ihren Facetten: zwischen Partnern, Eltern und Kindern, Freunden oder in Gemeinschaften. Die Beiträge liefern wichtige, aktuelle Erkenntnisse aus der Forschung. Sie verdeutlichen, wie heilsam und wichtig die Verbundenheit mit anderen ist, aber auch, wann sie schaden kann. So zeigt der Beitrag zum Thema Bindungsfähigkeit, dass die Erfahrungen der ersten Lebensjahre prägend sind. Doch Bindungsstile lassen sich ändern. Mit vernetzten Hirnscannern ergründen Mannheimer Forscherinnen und Forscher die Geheimnisse sozialer Interaktionen, die einiges über die Beziehung verraten. Das Hormon Oxytozin gilt als soziales Bindemittel. Ein reines Kuschelhormon ist es dennoch nicht. Auch Umarmungen spielen im Alltag vieler Menschen eine wichtige Rolle, aber erst jetzt beginnen Psychologen, dieses Verhalten zu verstehen.

Gehirn&Geist – Altruismus

Helfen Menschen einander, wenn sie sich in Lebensgefahr befinden – oder ist sich jeder selbst der Nächste? Neue Forschungsergebnisse belegen: Ausgerechnet bei tödlicher Gefahr verhalten sich Menschen meistens erstaunlich altruistisch. Außerdem im Heft: Die Schlafforschung interessiert seit Langem, wozu unser Gehirn komplexe Traumwelten erzeugt. Auch im Tierreich suchen sie nach Antworten: unter anderem bei Tintenfischen, Tauben und Spinnen. Bei vielen neuropsychiatrischen Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson und Huntington leidet der Geruchssinn als Erstes. Weshalb ist das so, und lässt sich das diagnostisch nutzen? Selbstverletzung erfüllte über die Jahrtausende hinweg wahrscheinlich verschiedenste Zwecke, vom Stressabbau bis hin zu religiösen Zwecken. Sexfilme sind online immer, überall und anonym abrufbar. Manche Konsumenten verlieren da die Kontrolle. Wie kann man diesen Süchtigen helfen?

  • Quellen und Literaturtipp

Literaturtipps

Bloom, P.: Against Empathy. Bodley Head, London 2016
Der Psychologe Paul Bloom wendet sich gegen die Idealisierung der Empathie - und setzt ihr das Konzept des "rationalen Wohlwollens" (rational compassion) entgegen.

Breithaupt, F.: Die dunklen Seiten der Empathie. Suhrkamp, Berlin 2017
Ausführliche Darstellung der negativen Seiten menschlichen Mitgefühls


Quellen

Barton, K. C., McCully, A. W.: Trying to "See Things Differently": Northern Ireland Students' Struggle to Understand Alternative Historical Perspectives. In: Theory & Research in Social Education 40, S. 371-408, 2012

Breithaupt, F.: A Three-Person Model of Empathy. In: Emotion Review 4, S. 84–91, 2012

Decety, J. et al.: Atypical Empathic Responses in Adolescents with Aggressive Conduct Disorder. A Functional MRI Investigation. In: Biological Psychology 80, S. 203–211, 2009

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.