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Neuropsychologie: Wenn das Gehirn aus der Balance gerät: Halluzinationen

Halluzinationen gehören zu den typischen Begleiterscheinungen von Psychosen, aber auch von erstaunlich vielen anderen Erkrankungen. Überraschenderweise halluziniert unter bestimmten Bedingungen selbst das Gehirn gesunder Menschen.


Als der 56-jährige Peter N. nach einem Schlaganfall immerzu tanzende, bunte Lichtpunkte und abstrakte, bewegte Bilder sah, glaubte er zunächst verrückt geworden zu sein. Nur zögernd vertraute er sich seiner Frau an, und erst nach längerer Zeit wagte er, den Ärzten davon zu erzählen.

Berichten Patienten wie Peter N. über solche eingebildeten Wahrnehmungen, so tippen selbst Ärzte und Psychologen allzuleicht auf bestimmte Formen des Verrücktseins, vor allem auf Schizophrenie. Doch diese Diagnose wird oft vorschnell gestellt. Denn das Gehirn erzeugt Trugbilder oder -töne unter den verschiedensten Umständen – bei Migräne, Epilepsie, Alzheimer und anderen degenerativen Gehirnerkrankungen, unter Drogen, bei Medikamentenmissbrauch sowie nach Hirnverletzungen. Irreale Visionen von Licht und Schatten kann schon jeder gesunde Mensch bei sich hervorrufen, indem er einige Minuten auf einen festen Punkt starrt. Und einsame Höhlen- oder Polarforscher halluzinieren nach einiger Zeit Personen und Stimmen.

Was geschieht da im Gehirn? Wann spiegelt es uns Erscheinungen vor, die gar nicht vorhanden sind? Noch kann die Wissenschaft das Phänomen der Halluzination nicht im Einzelnen neuropsychologisch erklären, viele Aspekte sind bisher umstritten. Doch allmählich fügen sich die bisherigen Erkenntnisse in ein Gesamtbild.

Dass Halluzinationen oft nicht Ausdruck einer Geisteskrankheit sind, habe ich selbst erst wirklich begriffen, seit ich mit Hirnverletzten, Tumor- und Schlaganfallpatienten therapeutisch arbeite. Diese Menschen leiden unter Sehausfällen, weisen dabei aber keinerlei Anzeichen einer psychischen Erkrankung auf. Viele erleben zumindest Licht- oder Farbspiele. Einige sehen aber auch konkrete Bilder oder bewegte Szenen, die sie mitunter ernstlich stören, weil sie fast all ihre Aufmerksamkeit absorbieren.

Einer dieser Patienten ist Peter N., der hier unter geändertem Namen auftritt. Nach dem Schlaganfall war er teilblind: Im rechten oberen Viertel des Gesichtsfelds beider Augen hatte er ein blindes Areal. In diesem blinden Gesichtsfeld halluzinierte er ständig in einem immer gleichen Bereich, wie er dies nannte, "Picasso-Bilder". Sie setzten sich aus konkreten Szenarien und abstrakten Mustern zusammen. Vor diesen Hintergrund waren Objekte eingeblendet, die der Patient unmittelbar vorher in seinem intakten zentralen Gesichtsfeld erblickt hatte. Besonders Gegenstände mit sehr starken Farben erzeugten Nachbilder. Außerdem bewegten und veränderten sich diese Bilder immerzu.

Weites Spektrum an Ursachen –ähnliche Erscheinungen

Die Frage stellt sich, ob solche Scheinbilder bei Hirnläsionen auf ähnlichen neuronalen Prozessen beruhen wie diejenigen bei Psychosen. Halluzinationen treten in sehr vielen verschiedenen Zusammenhängen auf und äußern sich auf vielfältige Weise. Wir können zu allen Sinnesmodalitäten Trugerscheinungen erleben. Menschen halluzinieren nicht nur bildhafte oder akustische Phänomenen, also etwa Stimmen oder Geräusche, sondern zum Beispiel auch Geruch, Geschmack oder Hautwahrnehmungen. Manche Schizophrenen fühlen, wie sich Würmer in ihre Haut fressen.

Um mögliche Gemeinsamkeiten in der Vielfalt erkennen zu können, will ich den Begriff "Halluzination" sehr weit fassen. Ich zähle dazu außer eingebildeten Objekten auch unwirkliche Lichtspiele und Muster. Allerdings werde ich mich hier weitgehend auf visuelle Phänomene beschränken. Von Halluzinationen zu unterscheiden sind dagegen Illusionen, also wirkliche Täuschungen der Wahrnehmung, bei denen das Auge tatsächlich etwas registriert, dies aber falsch interpretiert wird.

Um Halluzinationen zu beschreiben, ist die Schizophrenie prädestiniert. Denn eingebildete Wahrnehmungen gehören zu ihren typischen Symptomen. Patienten mit einer Hirnläsion wissen in der Regel, dass die gesehenen Erscheinungen nicht Realität sind. Schizophrene hingegen erkennen dies meistens nicht. Für sie sind die Trugbilder oft grausame Wirklichkeit – und darum so fatal. Häufig lösen sie Ängste aus, weil die Betroffenen sich die Fehlwahrnehmungen nicht erklären können.

Viele Roman- und Drehbuchautoren haben solche Einbildungen in Gruselszenen beschrieben. Doch die Wirklichkeit ist vielfach noch schrecklicher. Der Psychologe Ronald R. Comer von der Princeton-University (US-Bundesstaat New Jersey) beschreibt beispielsweise einen Psychotiker, der immer wieder das Gefühl hatte, sich in einen Wolf zu verwandeln. Der Patient sah diese Veränderung dann auch im Spiegel.

Auch zu irrealen visuellen Wahrnehmungen unter halluzinogenen Drogen wie LSD, Marihuana oder Meskalin, dem Wirkstoff mexikanischer Peyote-Kakteen, existieren zahlreiche Beschreibungen. Diese Berichte gleichen in vielem den eingebildeten Wahrnehmungen bei Psychosen.

Die Wirkung von LSD (Lysergsäurediethylamid) beschrieb als Erster 1943 der Schweizer Chemiker Albert Hofmann. Versehentlich hatte er bei der Synthese der Substanz, die sich aus dem Wirkstoff des Mutterkornpilzes herleitet, eine winzige Menge geschluckt. Da sah er "fantastische Bilder von außerordentlicher Plastizität, verbunden mit einem intensiven, kaleidoskopartigen Farbenspiel", "kristalline Landschaften ..., mit Juwelen besetzte Goldberge, geometrische Figuren, Blumen, Vögel, Schmetterlinge und farbige Springbrunnen", die übergingen "in lebendige Szenen ... mit Tieren, Dingen, Menschen und Stimmen aus der frühen Kindheit".

Ein wesentliches Element der Halluzinationen im Drogenrausch ist strahlende Helle. Der britische Schriftsteller Aldous Huxley gewahrte unter Meskalin einen langsamen Reigen goldener Lichter. Dann sah er helle Knoten von Energie, die von immerzu wechselndem, Muster bildendem Leben vibrierten. In weiten Kreisen bekannt wurden vor dreißig Jahren die Beschreibungen von Carlos Castaneda über die Peyote-Droge in dem Kultbuch "Die Lehren des Don Juan": "Während ich trank, sah ich die Flüssigkeit durch meine Adern rinnen, in roten, gelben und grünen Schattierungen ... bis ich in Flammen aufging; ich war ein einziges Glühen." Dann "erleuchtete ein langes, glänzendes Objekt den ganzen Himmel", sodass "ich dachte, ich würde erblinden, wenn ich es weiter ansah".

Helle Lichterscheinungen, so genannte Photopsien, kommen oft auch bei Migräne vor, ebenfalls mitunter vor einem epileptischen Anfall. Viele Migräne-Patienten sehen Flimmerskotome, die von einer Seite des Gesichtsfeldes zur anderen ziehen, wobei Form und Größe variieren können. Den Beschreibungen nach ähneln sie der epileptischen "Aura". Mediziner meinen heute, dass manche göttlichen Visionen, etwa die Erscheinungen der Hildegard von Bingen, durch Migräneanfälle verursacht waren.

Visuelle Halluzinationen können bei den verschiedensten Hirndefekten und Krankheiten auftreten. Ihre Form – etwa ob Lichteffekte, Muster oder Bilder von Objekten und Personen erscheinen – variiert mit Art und Ausdehnung der Schädigung. Allerdings sind die individuellen Schwankungen selbst bei anatomisch ähnlichen Läsionen beträchtlich.

Nicht selten erleben Patienten Trugbilder in der ersten Zeit nach einem Schädel-Hirn-Trauma, nach einem Schlaganfall oder einer Tumoroperation. Recht häufig kommen sie bei krankhaftem Abbau von Hirnsubstanz vor, so bei etwa zehn Prozent der Patienten in bestimmten Phasen der Multiplen Sklerose. Vorübergehend halluziniert auch jeder dritte Alzheimer-Kranke. Kinder und ältere Menschen reagieren auf hohes Fieber oft mit einem Delir, das mit Halluzinationen einhergehen kann. Ebenso können Gehirn- und Hirnhautentzündungen sowie Bauchspeicheldrüsenentzündungen visuelle Trugbilder hervorrufen.

Seit hundert Jahren ist bekannt, dass hohe Dosen des Schwermetalls Mangan Nervenschäden mit Halluzinationen verursachen. Auch viele Medikamente, darunter Kortison, können solche Nebenwirkungen haben. Krebskranke berichten von visuellen Erscheinungen während der Bestrahlung, ebenso Patienten, bei denen ein Angiogramm (die Darstellung der Hirngefäße durch ein Kontrastmittel) vorgenommen wird. Selbst Lebensangst oder Panikanfälle können Halluzinationen hervorrufen. Des Weiteren treten Wahnbilder manchmal bei Vergiftungen auf, etwa infolge Nierenversagens.

Vielen Patienten erscheinen nur Lichtpunkte oder Lichtblitze, die durch das Sehfeld ziehen. Einige glauben einfache geometrische Figuren, etwa Dreiecke, Kreise oder Ellipsen zu sehen. Komplexe lebendige Bilder sind seltener – wie im Fall einer Japanerin, die unter Gefäßwandkrämpfen im Gehirn litt und an der Zimmerdecke Maden kriechen sah oder vor sich einen Soldaten erblickte.

Obwohl einzelne Formen von Halluzinationen sich nicht immer schlüssig Schäden in bestimmten Hirnregionen zuordnen lassen, so zeichnen sich doch in vielen Fällen bestimmte Zusammenhänge ab. Einfachen Lichterscheinungen liegt meist eine Störung des so genannten primären Sehzentrums im Hinterhauptslappen zu Grunde. Dies kann zum Beispiel bei Migräne der Fall sein oder auch bei einer epileptischen "Aura", wenn der Epilepsie-Herd in diesem Gebiet liegt.

Bei welchen Defekten Muster, geometrische Figuren oder komplexere Bilder entstehen, war lange Zeit nicht klar. Schon 1929 stellte der Breslauer Nervenarzt Otfried Foerster fest, dass Menschen Punkte, Striche und Kreise wahrnahmen, wenn er das Sehzentrum (die "Area 17") elektrisch reizte. Stimulierte er dagegen ein bestimmtes benachbartes Areal ( die "Area 19"), in dem visuelle Wahrnehmungen weiter verarbeitet werden, so sahen sie komplexere Bilder.

Mit kortikaler Magnetstimulation (einem nicht-invasiven Verfahren der Gehirnreizung von außen) führte Janna Gothe, eine Mitarbeiterin unserer Arbeitsgruppe in Magdeburg, zusammen mit Bernd Meyer von der Universität Berlin ähnliche Reizungen am Hinterhaupt durch. Die Mehrzahl der gesunden und spät erblindeten Versuchspersonen nahm dabei unspezifische helle Flecken wahr. Die Sehrinde ist auch fälschlich aktiv, wenn wir nach einem Schlag auf den Schädel "Sterne" sehen, weil dann Nervenzellen durch die Erschütterung gereizt sind und das visuelle System dies als Signal aus dem Auge versteht.

Eine erworbene Teilblindheit beruht meistens auf einem Defekt in der primären Sehrinde. Annähernd jeder zweite dieser Patienten, die ein blindes Feld auf beiden Augen haben, leidet vorübergehend unter visuellen Phänomenen. Dies fand der Mediziner Hans W. Kölmel von der Universität Erfurt heraus, der solche Halluzinationen bei Hirngeschädigten schon seit mehr als zwanzig Jahren erforscht. Die visuellen Phänomene dauern gewöhnlich wenige Sekunden, maximal einige Minuten. Die Betroffenen nehmen die Erscheinungen in der Regel nur im blinden Halbfeld wahr, also bei einer linksseitigen Schädigung im rechten Sehfeld. Je ausgedehnter die Schädigung, stellte Kölmel fest, umso kompliziertere Lichtphänomene und geometrischen Figuren sehen die Kranken.

Ursachen komplexer Halluzinationen

Irreale Wahrnehmungen nach einer Hirnläsion setzen rasch ein, dauern aber selten länger als zwei Wochen an. Kölmel hält dies für Begleiterscheinungen eines Selbstheilungsversuchs des Gehirns: Nach einer Schädigung muss sich die Interaktion einzelner Hirnteile auf einem neuen Niveau einpendeln, denn auf die Aktivitätsminderung in einem Gebiet können andere Hirnbereiche überschießend reagieren. Gelingt es dem Gehirn allerdings nicht, die Balance wiederherzustellen, etwa wenn zu viele Hirnteile geschädigt sind, werden die Trugwahrnehmungen chronisch wie bei dem "Picasso-Bilder"-Patienten, der jahrelang darunter litt. Bei unserem speziellen Training an einem Computer-Monitor lernte er nur sehr langsam, diese störenden Fehlbilder zu unterdrücken.

Es liegt nahe, dass bei komplexeren halluzinierten Wahrnehmungen auch eine Störung im Stirnhirn vorliegt, also in der vorderen Hirnrinde, beziehungsweise auch im Schläfenlappen. Zum Beispiel wies der Mann, der "Picasso-Bilder" sah, neben der Teilblindheit infolge des Schlaganfalls – was sich auf die Sehrinde im Hinterhauptslappen auswirkte – auch im Stirnhirn einen Defekt unbekannter Herkunft auf. Meines Erachtens trug diese Läsion zu seinen lebhaften Halluzinationen bei.

Wahrscheinlich setzen sich komplexe Halluzinationen fast durchweg aus Gedächtnisinhalten zusammen. Nur sind sie nicht "sortiert" und erscheinen deswegen so wirr. Dies postulierte schon 1928 der Wiener Psychologe Otto Plötzl. Nur wenige Jahre später erkannte der Neurochirurg Wilder Penfield, dass unser Gehirn viel mehr Informationen speichert als seinerzeit vermutet. Während Operationen reizte er erstmals das freiliegende Gehirn wacher Personen. Da dieses selbst schmerzfrei ist, kann man bei geöffnetem Schädel die Narkose soweit reduzieren, dass der Patient wieder ansprechbar wird. Penfield stimulierte die Hirnoberfläche elektrisch und ließ sich die wahrgenommenen Veränderungen beschreiben. Auf eine solche Reizung hin erfolgten oft lebhafte Halluzinationen. Sie beinhalteten häufig vergessen geglaubte früher erlebte Situationen, welche die Patienten als äußerst real erlebten. Penfield vermutete deswegen, dass das Gehirn praktisch eine vollständige Erinnerung an alle Ereignisse des Lebens aufbewahrt.

Wieso halluzinieren wir dennoch normalerweise nicht? Dafür sorgt nach heutiger Kenntnis der so genannte Assoziationscortex im Stirnhirn. Dieser Bereich ist bei geistiger Tätigkeit, beim "Denken", stets aktiv. Er steuert, was ins Bewusstsein strömen darf und was unterdrückt werden muss. Wenn wir zum Beispiel ein Problem lösen müssen, fischt der Assoziationscortex die relevanten Gedächtnisinhalte und Assoziationen heraus und unterdrückt den Rest.

Ständig wollen nämlich die verschiedensten Erinnerungen und Gedankenfetzen, auch unsinnige Assoziationen, zum Bewusstsein vordringen. Denn immerfort entstehen vielerorts im Gehirn spontan Impulse, weil Nervenzellen manchmal auch von allein aktiv werden, besonders wenn sie länger nicht angeregt wurden. Sie aktivieren dann leicht andere Nervenzellen. Wenn alle diese Erregungen unkontrollierten Zugang zum Bewusstsein hätten, wären wir bald handlungsunfähig.

Die Ausbreitung von Spontanimpulsen hemmen normalerweise schon nahe Neuronen, die gerade mit der Verarbeitung echter Informationen befasst sind. Fehlt solch eine Hemmung etwa für das visuelle System, entstehen je nach Anzahl der feuernden Neuronen im einfachsten Fall Trugwahrnehmungen von kleinen hellen Punkten bis zu überwältigend strahlendem Licht. Entstehen solche Signale in Bereichen des Sehzentrums, in denen Formen erkannt werden, erscheinen dem Patienten geometrische Muster. Und falls Nervenzellverbünde ungehindert aktiv werden, die beim Erkennen von Personen mitwirken, können vor dem inneren Auge menschliche Figuren herumgeistern.

Wenn also wirre Bilder, Gedanken und Erinnerungsfetzen in Erscheinung treten, versagt vermutlich der Assoziationscortex. Menschen mit einer Schädigung in diesem Bereich der vorderen Hirnrinde vermögen oft nicht mehr folgerichtig zu handeln, einfache Probleme zu lösen oder sich flexibel auf veränderte Situationen einzustellen. Es gibt noch einen weiteren Mechanismus, der hierbei eine Rolle spielt: die Aufmerksamkeit. Die normale Selektion durch den Assoziationscortex, die wir als Aufmerksamkeit erleben, stellt einen der wichtigsten Mechanismen in unserem Gehirn dar. Nur durch gezielte Aufmerksamkeitslenkung kann sich die begrenzte geistige Kapazität des Bewusstseins schnell und optimal auf relevante Ereignisse ausrichten. Erst dies ermöglicht angepasstes Verhalten in einer sich ständig verändernden Umwelt.

Isolation und Reizdeprivation

Da Schizophrene vielfach Wichtiges nicht von Unwichtigem unterscheiden, nehmen die Mediziner an, dass auch sie dann unter einer Störung im Stirnhirn leiden. Diejenigen Patienten, bei denen als Symptome Apathie und sozialer Rückzug überwiegen, weisen besonders oft anatomische Anzeichen auf, dass dort Hirngewebe beschädigt ist. Aber auch bei solchen Formen von Schizophrenie, bei denen Wahnvorstellungen und Halluzinationen vorherrschen, sind während eines schizophrenen Schubs anscheinend Stirn- und wohl auch Schläfenhirn weniger aktiv als sonst. Das Stirnhirn ist dann schlechter durchblutet, und die Nervenzellen nehmen weniger Glukose auf.

Damit unser Gehirn halluziniert, muss allerdings weder eine Hirnläsion noch eine Psychose vorliegen, noch muss die Person Drogen nehmen. Dazu genügen bereits ein nicht einmal besonders langer Reizentzug oder soziale Isolation. Angesichts dessen erscheint es heute geradezu widersinnig, dass "Wahnsinnige" früher in Isolationszellen gesteckt wurden.

Wie Reizentzug wirkt, kann jeder in einem einfachen kleinen Experiment selbst ausprobieren, auch wenn dabei noch keine wirkliche Halluzination aufkommt. Man zwinge sich, länger völlig starr ohne zu blinzeln auf einen Punkt zu blicken. Damit die Sinneszellen immer wieder frisch ansprechen können, vollführt das Auge normalerweise unablässig winzigste Zuckungen. Unterdrückt man diese Mikrosakkaden, engt sich das Gesichtsfeld bald tunnelförmig ein. Später zeigen sich wolkenartige Flecken und Muster.

Obwohl die folgenden Maßnahmen binnen weniger Stunden erste Halluzinationen garantieren: Nicht an sich selbst ausprobieren sollte man einen totalen Reizentzug, wie ihn der Münchener Psychologe Jürgen Aschoff mit Freiwilligen durchführte oder Ronald Siegel von der Universität von Kalifornien in San Francisco am eigenen Leibe unternahm. Denn dabei treten schon nach Stunden nicht nur Schwierigkeiten beim logischen Denken, Konzentrationsschwäche und Depressionen auf, sondern oft auch Angst und Panik. Aschoffs Probanden lagen wach weich gebettet in einem schalltoten Raum. Siegel legte sich gar in einem finsteren Tank stundenlang in körperwarm temperiertes Salzwasser, was praktisch keinerlei sensorische Empfindungen mehr zuließ. Er nahm schon bald kleine sonderbare Objekte mit leuchtenden Rändern wahr, dann futuristische Wolkenkratzer aus Licht; später schaute er in einen Tunnel, dem eine pulsierende blaue Helle entströmte, und schließlich sah er einen lachenden Buddha, der dann in einer grellweißen Wolke explodierte.

Längeres Alleinsein in karger Umgebung – etwa von Polarforschern oder Bergsteigern – scheint ebenfalls zwangsläufig Trugbilder herbeizurufen. Der italienische Forscher Maurizio verbrachte sieben Monate allein in einer Höhle. Nach zwei Wochen glaubte er, einen Vogel fliegen zu sehen, später entfernte Hilfeschreie zu hören. Dann gewahrte er an der grauen Höhlendecke bunte Farbflächen. Nach zwei Monaten tauchten Gestalten auf, die zunächst flüsterten, aber bald laut auf ihn einredeten. Schließlich begrüßte er sogar diese Personen, von denen einige keinen Kopf hatten.

Viele Erblindete erleben vergleichbare Halluzinationen auf Grund der erzwungenen sensorischen Deprivation. Die Sehrinde, die ja nun gar keine neuen Eindrücke mehr empfängt, erzeugt dann selbst Erregungen. Die Blinden empfinden die Lichtspiele und lebendigen Bilder oft durchaus als angenehm. Nachweislich gehen diese Wahrnehmungen, nach dem Entdecker "Charles-Bonnet-Syndrom" genannt, mit einer Aktivitätssteigerung in einem Gebiet unterhalb der primären Sehrinde einher. Da das Phänomen bei älteren erblindeten Menschen häufiger auftritt, dürften altersbedingte Einschränkungen der Hirnfunktionen seine Entstehung begünstigen.


Chemische Gleichgewichtsstörungen bei Wahnkrankheiten

Trugbilder treten auch auf, wenn jemand einige Nächte hintereinander am Träumen gehindert wurde. Barbiturate, die Ärzte früher oft zur Beruhigung als "Schlafmittel" verschrieben, wie auch Alkohol unterdrücken den Traumschlaf. Beides kann nach einiger Zeit imaginäre Bilder hervorrufen. So versuchte eine barbituratabhängige Frau aus einem imaginären Glas zu trinken und nicht existente Objekte aufzuheben. Sie glaubte, auf dem Baum vor dem Fenster Menschen zu erblicken. Auch Narkoleptiker, die ein völlig gestörtes Schlafverhalten aufweisen, kennen äußerst lebhafte, wie wirklich empfundene Halluzinationen. Beim Suchtentzug kann dergleichen ebenfalls vorkommen. Und selbst robuste Menschen halluzinieren, nachdem sie mehrere Nächte nicht geschlafen haben.

Sogar Träume selbst gehören zu den Halluzinationen, wenngleich dies manchen überraschen mag. Denn diese Bilder erzeugt das Gehirn ganz allein. Sie entstehen, wenn die Überwachungsinstanz im Stirnhirn gerade schläft. Auch sie erleben wir zu dem Zeitpunkt als Wirklichkeit; und sie setzen sich wohl ebenfalls überwiegend aus unsortierten Erinnerungsfetzen zusammen. Eine wirklich halluzinogene Praktik dagegen ist die tiefe meditative Versenkung. Unter völliger Stille, bei geschlossenen Augen und der Reduzierung des Denkens zum Beispiel auf ein "Mantra" – also mangels aktueller Information – kann das Gehirn unter anderem strahlend helle Erscheinungen hervorbringen.

All diese Befunde zusammen lassen sich so deuten, dass bei visuellen Halluzinationen vor allem drei Hirngebiete interagieren: das visuelle System, der Assoziationscortex und am Gedächtnis beteiligte Strukturen.

Weswegen sich unter bestimmten Umständen unpassende Bilder aus dem Gedächtnis hervordrängen, lässt sich bereits ansatzweise erklären. Nervenzellen kommunizieren untereinander mit Hilfe einer Anzahl von Signalstoffen, den neuronalen Botenstoffen oder "Neurotransmittern". Unter anderem von der Art des Botenstoffs hängt ab, ob die andere Nervenzelle an der Kontaktstelle, der "Synapse", ein erregendes oder ein hemmendes Signal erhält. In einem komplizierten Zusammenspiel vieler solcher Ereignisse regelt das Gehirn seine Aktivität. Es balanciert gewissermaßen die gerade angemessenen Gleichgewichtszustände ein. Hierfür erregen oder hemmen die verschiedenen Gehirngebiete einander mit Hilfe von Neurotransmittern.

Im Zusammenhang mit Halluzinationen dürften nach heutigen Kenntnissen besonders vier solche Botenstoffe im Gehirn Bedeutung haben: Dopamin, Serotonin und Noradrenalin (die zu den "aminergen" Botenstoffen gehören), die auf Nervenzellen meist hemmend wirken, sowie Acetylcholin, ein erregender ("cholinerger") Transmitter. Immer mehr wissenschaftliche Befunde deuten darauf hin, dass letztlich eine gestörte Balance zwischen dem cholinergen und dem aminergen System die Schuld an Halluzinationen trägt.

Dabei erweisen sich insbesondere Noradrenalin und auch Dopamin als Gegenspieler des Acetylcholins. Letzteres ist offenbar für Aufmerksamkeit und wahrscheinlich auch für Lernen und Gedächtnisfunktionen verantwortlich. Dopamin scheint eine Rolle zu spielen, um Wichtiges von Unwichtigem zu trennen.

Acetylcholin hilft uns auch zu träumen. Im Schlaf fehlen Noradrenalin und Serotonin fast völlig. Relativ geringe Mengen von Acetylcholin genügen dann, um unser Gehirn hin und wieder aus dem Tiefschlaf zu holen und im Traum breit gefächert verschiedene Gehirnregionen, auch das visuelle System, zu erregen. Im Wachzustand produziert das Gehirn mehr Acetylcholin als im Schlaf. Doch nun sind auch seine Gegenspieler wieder aktiv und verhindern überschießende Reaktionen.

Die starke Wirkung von Drogen beruht auf ihrer Ähnlichkeit zu bestimmten Neurotransmittern. Sie imitieren gewissermaßen die natürlichen Botenstoffe und lagern sich an deren Stelle an den Synapsen an. Wahnbilder fördern vor allem Substanzen, die Acetylcholin hemmen beziehungsweise die an aminerge Rezeptoren andocken. Manche Drogen blockieren die Rezeptoren sogar für längere Zeit, wie LSD, das sich für mehrere Stunden anbindet. LSD ist dem Serotonin verwandt, ebenso das aus mexikanischen Pilzen gewonnene Psilocybin. Meskalin ähnelt chemisch dem Noradrenalin und dem Dopamin.

Vieles deutet darauf hin, dass sich das Gehirn durch Hallozinogene verändert, dass beispielsweise häufiger LSD-Konsum Schizophrenie begünstigt. Erwiesen ist, dass bei früherer LSD-Einnahme manchmal "Flashbacks" unvermutet auftreten können: Rauschzustände ohne vorherige Drogeneinnahme Monate oder Jahre später. Auch Kokain, im eigentlichen Sinne kein Halluzinogen, und die Modedroge "Ecstasy" können anhaltende psychische Störungen auslösen. Die Wirkung von "Ecstasy" beruht unter anderem darauf, dass es sich an Serotonin-Rezeptoren festsetzt. Wahrscheinlich schädigt es sie dadurch, was mitunter auftretende dauerhafte Persönlichkeitsveränderungen erklären könnte.

Psychosen und dabei auftretende Halluzinationen lassen sich trotz zahlreicher aufschlussreicher Studien noch immer nur teilweise erklären. Hierbei zeigt sich das komplizierte Wechselspiel der Neurotransmitter besonders eindringlich. Wenigstens so viel steht fest: Bei Schizophrenie oder manischer Depression sind Neurotransmitter-Systeme entgleist. Ei-ne Psychose entsteht freilich nicht, weil ein einzelner Botenstoff aus der Rolle fällt. Vielmehr geraten mehrere dieser Systeme aus der Balance. Die wichtigsten Erkenntnisse kann ich hier nur sehr grob zusammenfassen.

Vor rund fünfzig Jahren entdeckten Ärzte, dass bei Schizophrenie bestimmte Wirkstoffe vorübergehend die Halluzinationen – und auch die Wahnvorstellungen – unterbinden können. Diese "Antipsychotika" oder "Neuroleptika" blockieren im Gehirn die Rezeptoren für Dopamin. So kam die These auf, dass bei Schizophrenie eine Störung im Dopaminangebot vorliegt. Bei gesunden Menschen rufen Drogen, die dem Dopamin chemisch ähneln, etwa Amphetamine ("Speed") oder Kokain, in hoher Dosis Verwirrtheit, Angst, Schwindel, epileptische Anfälle und auch Halluzinationen hervor. Allerdings ließ sich bei schizophrenen Patienten ein erhöhter Dopaminspiegel nicht eindeutig nachweisen. Vielmehr kam heraus, dass ihr Gehirn besonders viele Dopamin-Rezeptoren aufweist. Dies könnte aber auch eine Gegenreaktion auf die Medikamentenblockade durch Antipsychotika darstellen. Nach allen Erkenntnissen ist im Gehirn Schizophrener der Dopamin-Stoffwechsel gestört. Die eigentliche Ursache dafür ließ sich bisher aber nicht genau feststellen.

Bei Schizophrenie gerät nicht nur Dopamin außer Kontrolle. Anscheinend entgleisen auch die Systeme für Serotonin und Noradrenalin. Manche Forscher vermuten, dass die Wahnvorstellungen teilweise auf eine beständige mangelhafte Hemmung von Acetylcholin zurückgehen. Über die Auswirkungen von Störungen beim Serotonin und Noradrenalin geben Befunde an Manisch-Depressiven Auskunft. Auch diese Patienten halluzinieren manchmal.

Serotonin scheint bei ihnen generell zu wenig vorhanden zu sein, und zwar sowohl in der manischen wie in der depressiven Phase. Lithiumhaltige Medikamente helfen in beiden Zuständen, wohl weil sie die Serotonin-Aktivität steigern. Einige Wissenschaftler vermuten, dass ein niedriger Serotonin-Spiegel die Voraussetzung für die manisch-depressive Erkrankung schafft, während der Noradrenalinspiegel die Phase bestimmt. Wahrscheinlich herrscht im manischen Zustand ein Übermaß an Noradrenalin und im depressiven ein Mangel. Auch bei krankhaften Angststörungen, die mit eingebildeten Bedrohungen einhergehen können, spielt zu viel Noradrenalin eine Rolle. Für die Beteiligung von Noradrenalin an psychotischen Halluzinationen spricht auch, dass Kokain, das Gesunde in niedriger Dosis wach und aktiv macht, bei ihnen den Abbau von Noradrenalin verlangsamt.

Vielleicht wirkt bei Schizophrenie auch ein gestörtes Gleichgewicht zwischen subkortikalen Strukturen und dem Neocortex mit, also zwischen entwicklungsgeschichtlich alten Anteilen des Gehirns und der jüngsten, am stärksten differenzierten Schicht der Großhirnrinde. A. Breier von der Universität von Maryland in Baltimore nimmt an, dass ein Anstieg der Serotonin-Funktion im subkortikalen Bereich Halluzinationen und Wahn induziere, während ihre Verringerung im Vorderlappen des Gehirns den sozialen Rückzug vieler Schizophrener bewirke.

Die These, dass bei psychotischen Halluzinationen Neurotransmitter aus der Balance geraten sind, unterstützen verschiedene Befunde zu anderen Krankheiten. Bei Migräne kommt Serotonin aus dem Gleichgewicht. Wahrscheinlich wird unter anderem bei Stress, Wetterumschwüngen und Nahrungsmittelallergien zu viel von dem Botenstoff freigesetzt. Die einzelnen Phasen der Kopfschmerzattacke gehen darauf zurück, dass sich Blutgefäße im Gehirn zunächst unter dem Einfluss von zu viel Serotonin zu sehr verengen. Als Folge davon wird der zunächst im Überfluss vorhandene Botenstoff anschließend so stark abgebaut, dass sich die Arterien nun übermäßig weiten.

Bei Alzheimerpatienten hingegen lässt die Kontrolle durch Endhirngebiete nach, die für Aufmerksamkeit und Bewusstsein sorgen, sodass nun aus anderen Regionen Impulse vordringen können, die vorher gehemmt wurden. Die Demenz könnte unter anderem auf einen Mangel an Acetylcholin zurückgehen. Mediziner fanden bei Autopsien dieses Personenkreises in der Großhirnrinde eklatante Defizite dieses Neurotransmitters. Das würde nicht nur die Gedächtniseinbußen und Konzentrationsschwierigkeiten erklären, sondern auch die Halluzinationen, die manche der Patienten erleben. Eine alte Frau etwa erblickte Verwandte, die gar nicht anwesend waren, und unterhielt sich mit ihnen. Eine andere Patientin störte sich an einem Hund, der angeblich in ihrem Bett schlief. Immer wieder verlangte sie, die Tochter solle ihn hinausbringen.

Ein besonderer Fall entgleisender und überschießender Neurotransmitter stellt wahrscheinlich dar, was manche Menschen erleben, die dem Tod im letzten Augenblick entrissen wurden. Einhellig berichten sie von gleißendem Licht. Meist haben sie vorher das Gefühl, ihren Körper zu verlassen und sich selbst aus großer Höhe zu sehen. Dann ziehen rasend schnell vergessen geglaubte Szenen aus dem Leben vorbei. Manche dieser Menschen sehen schließlich noch Landschaften oder filigrane Muster.

In seinem Buch "Leben nach dem Tod" beschrieb der amerikanische Arzt Raymond A. Moody erstmals diesen typischen – allerdings noch umstrittenen – Ablauf. Er führt dazu zahlreiche Beispiele an. "Es war alles pechschwarz, nur ganz weit in der Ferne konnte ich dieses Licht sehen, dieses unglaublich helle Licht", heißt es da beispielsweise. Oder: "(Das Licht) war wunderschön und so hell, so strahlend, aber es tat den Augen nicht weh. So ein Licht kann man hier auf der Erde überhaupt nicht beschreiben." Solche Schilderungen erinnern frappant an Erlebnisse unter halluzinogenen Drogen.

Neurophysiologen diskutieren denn auch seit Anfang der achtziger Jahre, ob beim Sterben im Gehirn nicht eine Katastrophenreaktion mit übermäßiger Transmitter-Ausschüttung ablaufe. Ohne den Berichten Reanimierter ihre Mystik nehmen zu wollen, könnte man das gleißende Licht als globale Photopsie infolge dieser Überfunktion deuten und die übrigen Eindrücke als komplexe visuelle Halluzinationen. Das Auftauchen vergessen geglaubter Episoden aus der Lebensgeschichte dürfte durch totale Aufhebung der Gedächtnisfilter bedingt sein. Offenbar werden zudem Endorphine, körpereigene Opiate, in großen Mengen frei, was den friedlichen Gesichtsausdruck vieler Toter erklärte.

Halluzinationen: Entgleisung der Fantasie

Für das zunächst rätselhaft anmutende Gefühl Sterbender, sich von ihrem Körper zu lösen, gibt es gleichfalls eine nüchterne Erklärung. Eine sehr seltene Fehlwahrnehmung sind autoskopische Phänomene, bei denen die Betroffenen eine Verdoppelung ihres Körpers empfinden oder – im Falle der Heautoskopie – sich dabei selbst sehen. Bei einem Patienten mit Hypophysentumor wurde dies zum Dauerzustand: Sein Doppelgänger imitierte seine Bewegungen und vor allem seine Mimik spiegelbildlich. Das gleiche Symptom tritt gelegentlich auch bei Migräne, Epilepsie, Schizophrenie, Depression und Drogenmissbrauch auf. Bei all diesen Zuständen dürfte das Hirnareal, das für das optische Selbstbild zuständig ist, eine Überfunktion aufweisen. Dasselbe könnte im Sterben geschehen. Ein ketamin-ähnlicher Botenstoff lässt dabei offenbar die Person sich selbst aus der Ferne sehen – als unbeteiligter Zuschauer des eigenen Todes.

Auf den ersten Blick scheinen Halluzinationen grob gesehen unter zwei gegensätzlichen Bedingungen zu entstehen: entweder, wenn das Gehirn offenbar zu stark erregt wird – bei den Symptomen einer Schizophrenie oder unter bestimmten Drogen, auch bei Manisch-Depressiven, während einer Migräne-Attacke oder der epileptischen Aura; oder, wenn das Gehirn zu wenig von außen stimuliert wird – auf Grund von Reizdeprivation infolge einer Hirnläsion oder bei Isolation, bei degenerativen Erkrankungen wie der Alzheimerschen Demenz, desgleichen im Schlaf.

Nach meiner Ansicht herrscht aber immer Überaktivität in dem Hirngebiet, das die Bilder hervorbringt. Nur entsteht diese manchmal durch direkte starke Anregung, manchmal durch Wegfall von Hemmungen.

Dies erklärt, warum auch Gesunde unter Reizentzug halluzinieren, bei denen weder eine Hirnschädigung vorliegt noch ein Transmittersystem überaktiv ist. Ich vermute, das Gehirn ist dann unterbeschäftigt und sorgt deswegen selbst für seine Unterhaltung. Der Mensch empfindet einen bestimmten Aktivierungsgrad des Gehirns als angenehm. Der aus dem Englischen kommende Fachbegriff dafür, "Arousal", bezeichnet ein "helles Wachbewusstsein". Jede stärkere Abweichung davon empfinden wir subjektiv als unangenehm: Ein Mangel an Stimulation erzeugt Langeweile, ein Übermaß Stress. Bei wieviel Außenreizen jemand gerade zufrieden ist, kann individuell sehr verschieden sein und hängt vom Temperament ab. Extravertierte Menschen benötigen, um sich wohl zu fühlen, viel mehr Eindrücke als introvertierte. Unterschreitet der Informationsfluss von außen einen unteren Grenzwert, greift das Bewusstsein auf Gedächtnisinhalte zurück, um der Langeweile zu entgehen. Dies geschieht zunächst in Form von Gedanken und Vorstellungen; doch bei längerem totalem Reizentzug treten (Tag-)Träume und schließlich Trugwahrnehmungen auf.

Visuelle und andere Halluzinationen beruhen im Grunde auf unserer faszinierenden Vorstellungskraft. Dass unser Gehirn bildhafte Fantasien hervorbringen kann, hilft uns nicht nur im täglichen Leben dabei, Aufgaben zu planen und Entscheidungen zu treffen. Diese Fähigkeit des menschlichen Geistes ist auch eine Quelle der Kunst. Maler "sehen" schon auf der leeren Leinwand das spätere Bild; Architekten stellen sich das Gebäude plastisch vor, das sie erst entwerfen werden. Die inneren Bilder entstehen mittels einer der kreativsten Funktionen unseres Verstandes. Aber sobald diese Vorstellungsfähigkeit außer Kontrolle gerät, setzt das Gaukelspiel der Halluzinationen ein.

Alles in allem haben Halluzinationen mittlerweile viel von ihrem unheimlichen Flair verloren. Sie sind in mancher Hinsicht als Störung der Interaktion zwischen verschiedenen Hirnbereichen erklärbar geworden. Zwar empfinden viele Betroffene diese Trugbilder als unangenehm und belastend. Wären sie aber nur von Nachteil, hätte der evolutionäre Selektionsprozess sie wahrscheinlich längst ausgerottet. Allein ihr Auftreten bei etlichen recht unterschiedlichen Störungen zeigt, dass es auch positive Aspekte geben muss.

"Denken Sie jetzt auf gar keinen Fall an ein Krokodil!" – Ein simpler Trick, aber es gibt wohl keinen Menschen, bei dem nun nicht zumindest für Bruchteile einer Sekunde das Bild eines Krokodils vor dem inneren Auge erscheint. Diese Aufforderung zeigt uns eine der faszinierendsten Fähigkeiten des menschlichen Gehirns: Wir können uns Dinge, Tiere oder Personen vorstellen, die gar nicht anwesend sind. Und, wie das Beispiel zeigt: Es kann schwer sein, diese Vorstellungen zu unterdrücken. Vielleicht liegt oft nur ein winziger Schritt zwischen normaler Fantasie und Halluzinationen.

Literaturhinweise


Halluzinationen – Expeditionen in eine andere Wirklichkeit. Von Ronald K. Siegel. Rowohlt, Reinbeck 1998.

Chronische visuelle Halluzinationen und Illusionen nach Hirnschädigung. Von Erich Kasten et al. in: Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie, Bd. 66, S. 49, 1998.

Moleküle und Psychosen. Der biologische Ansatz in der Psychiatrie. Von Samuel H. Barondes. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1995.


Überschießende Aktivität von Hirngebieten


Halluzinationen beruhen, verein-facht gesagt, auf Störungen der Wechselwirkungen zwischen mehreren Gehirnteilen. Bei komplexen visuellen Halluzinationen dürften vor allem drei Hirngebiete in nicht regulärer Weise interagieren: das visuelle System mit der "Sehrinde" im Hinterhauptslappen, der mit Aufmerksamkeit befasste "Assoziationscortex" im Stirnhirn und Strukturen, die für das Gedächtnis zuständig sind.

Nach allen Anzeichen ist das Hirngebiet, aus dem die halluzinierten Wahrnehmungen jeweils stammen, überaktiv – die Balance mit anderen Regionen ist aus dem Gleichgewicht geraten. Dies scheint für alle Formen solcher Halluzinationen zu gelten, ob eine Hirnläsion vorliegt, Drogeneinnahme oder eine Psychose.

Wesentlich für die Balance der Gehirnfunktionen sind so genannte neuronale Botenstoffe oder "Neurotransmitter". Sie vermitteln zwischen Nervenzellen aktivierende oder hemmende Signale. Besonders vier Neurotransmitter können beim Entstehen von Halluzinationen entgleist sein: Dopamin, Noradrenalin, Serotonin und Acetylcholin. Alle vier beeinflussen unter anderem die Aktivitäten von Nervenzellen im Stirnhirn. Teilweise wirken sie auch in anderen Hirngebieten, etwa in Strukturen des "limbischen Systems".

Dopamin ist für die Bewegungssteue-rung besonders wichtig. Ein Mangel erzeugt Bewegungsarmut, ein Überschuss unwillkürliche, ausfahrende Bewegungen. Der Botenstoff wirkt als Gegenspieler von Acetylcholin, das bei Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnis eine große Rolle spielt – vielleicht sogar beim Bewusstsein selbst.

Der wichtigste Gegenspieler von Acetylcholin aber ist Noradrenalin. Ein Hauptzentrum dieses Transmitters (der Locus coeruleus) im Hirnstamm integriert möglicherweise Eingänge von den verschiedenen Sinnesorganen. Die Grenzen zwischen den Sinneskanälen verwischen bei übermäßiger Stimulation dieses Zentrums.

Viele halluzinogene Drogen besetzen bevorzugt Rezeptoren von Serotonin, das unter anderem das Noradrenalin-System hemmt.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2000, Seite 64
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