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Migräne: Neue Wege gegen das Gewitter im Kopf

Bahnt sich in der Migräneforschung gerade eine kleine therapeutische Revolution an? In ersten klinischen Studien mit Antikörpern verringerte sich bei Migränepatienten die Zahl der Kopfschmerzattacken deutlich.
Migräne

Es sind die schlimmen Tage in jedem Monat, Tage, an denen nichts mehr geht: Manchmal zieht der Kopfschmerz von den Schläfen herauf, um sich wie ein Nervengewitter im Kopf in alle Richtungen zu entladen. Migränegeplagte leiden nicht nur unter einem pulsierenden Schmerz, sondern kämpfen auch mit Übelkeit und Erbrechen und vielfach mit einer Überempfindlichkeit gegenüber Licht. Die Patienten sind oft dazu verdammt, im Bett liegen zu bleiben, bis sich die Gewitter wieder verziehen. Wie die Migräneattacken genau entstehen, ist bis heute nicht klar. Insofern verwundert es auch nicht, dass viele der klassischen Medikamente wie Betablocker, Epilepsiemittel oder Antidepressiva nicht spezifisch auf die Erkrankung abzielen. Ein Teil der Patienten bekommt mit ihrer Hilfe die Anfälle nicht in den Griff, oder es treten unerwünschte Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme oder Müdigkeit auf. Doch nun zeichnet sich eine Entwicklung ab, die große Teile der Forschergemeinde derzeit in Euphorie versetzt. Speziell auf die Migräne zugeschnittene Antikörper versprechen eine schlagkräftige Waffe im Arsenal der Mediziner zu werden.

Rückblende in die 1990er Jahre: Der Mediziner Lars Edvinsson von der Universität Lund in Schweden untersucht Patienten, die wegen starker Migräne in der Notfallambulanz Hilfe suchen. Edvinsson prüft in der Drosselvene, im Blutabfluss des Gehirns der Betroffenen, welche Substanzen sich während eines Anfalls im Kopf neu gebildet hatten. Zu seiner eigenen Überraschung stößt er nur auf eine einzige Substanz: das so genannte Calcitonin Gene-Related Peptid (CGRP). Dieses Neuropeptid wird von Fasern des Trigeminusnervs ausgeschüttet, der Berührungs- und Schmerzempfindungen von Gesicht und Stirn ans Gehirn weiterleitet. Zunächst glaubt Edvinsson, CGRP stoße die Migräneattacken an, indem es die Blutgefäße im Gehirn erweitert. Doch nach und nach stellt sich heraus, dass das Peptid nicht nur Blutgefäße weitet, sondern auch ein Botenstoff ist, der an der Schmerzweiterleitung beteiligt ist.

Als Forscher später das Peptid in das Blut von Migränepatienten spritzen und dadurch bei ihnen innerhalb von Stunden migräneähnliche Kopfschmerzen auslösen, ist CGRP endgültig als Übeltäter überführt. Eine Vermutung ist, dass die übermäßige Ausschüttung des Botenstoffs den Trigeminusnerv für Signale empfindlich macht, die normalerweise harmlos sind. Es kommt in der Folge zu einer Entzündung in den Nerven, die an das Gehirn als Schmerzsignal weitergegeben wird. Bald nach dieser Entdeckung gelingt es Forschern, mit Hilfe von Antagonisten die Andockstellen für den "Migränebotenstoff" zu blockieren. Die Therapie ist zwar ein Erfolg. Den Patienten geht es besser. Doch da die Wirkstoffe die Leber von so manchem Patienten schädigen, verschwinden sie schnell wieder von der therapeutischen Bildfläche.

Nun starten Forscher weltweit einen neuen Versuch. Mit Antikörpern, die man den Patienten intravenös verabreicht, möchten sie den Übeltäter außer Gefecht setzen. Das Ziel: Die Antikörper sollen je nach Ansatz entweder an den Botenstoff selbst binden und ihn neutralisieren oder seinen Rezeptor blockieren. Da es sich bei den Antikörpern um große Moleküle handelt, können sie nicht die Blut-Hirn-Schranke überwinden, die das Gehirn vor potenziellen Giftstoffen aus dem Blutkreislauf abschirmt. Sie wirken daher in erster Linie an Stellen des Trigeminusnervs außerhalb des Gehirns, die gleichwohl an der Entstehung der Migräne beteiligt sind. Die Therapie ist prophylaktisch ausgelegt, soll also Anfällen vorbeugen, bevor sie auftreten.

Kopf-an-Kopf-Rennen um das erste Medikament

Derzeit testen gleich vier Pharmaunternehmen verschiedene Antikörper und liefern sich dabei ein regelrechtes Kopf-an-Kopf-Rennen um das erste zugelassene Medikament. 2016 haben Forscher um Paolo Martelletti von der Universität Rom I die bisherigen Ergebnisse dieses Wettrennens in einer Übersichtsarbeit zusammengetragen. Diese ersten klinischen Studien haben bislang an noch relativ kleinen Patientengruppen von jeweils einigen hundert Personen die Verträglichkeit und Wirksamkeit der Antikörper geprüft. In zwei Studien mit einem Wirkstoff des israelischen Pharmaunternehmens Teva Pharmaceuticals etwa haben Forscher rund 300 Patienten mit episodischer und mehr als 250 Patienten mit chronischer Migräne unter die Lupe genommen. Über drei Monate hinweg injizierten sie den beiden Gruppen einmal monatlich Antikörper gegen CGRP. Bei den Patienten mit episodischer Migräne ging die Zahl der Kopfschmerzattacken bei mehr als 50 Prozent der Probanden um die Hälfte zurück. In einer Kontrollgruppe, die nur ein Placebo bekommen hatte, erreichten dagegen nur 28 Prozent einen vergleichbar positiven Effekt. Unter den chronisch Migränegeplagten fiel das Ergebnis ähnlich aus. Und vergleichbar ist auch die Bilanz bei einem Antikörper, der von dem amerikanischen Biotechnologieunternehmen Amgen entwickelt wurde, wie eine Studie von 2016 im Fachblatt "The Lancet Neurology" zeigt.

Antikörper | Da es sich bei den Antikörpern um große Moleküle handelt, können sie nicht die Blut-Hirn-Schranke überwinden, die das Gehirn vor potenziellen Giftstoffen aus dem Blutkreislauf abschirmt. Sie wirken daher in erster Linie an Stellen des Trigeminusnervs außerhalb des Gehirns, die gleichwohl an der Entstehung der Migräne beteiligt sind.

"Die Spanne der Reduktion von Kopfschmerzen ist insgesamt relativ groß", sagt Volker Limmroth, Direktor der Klinik für Neurologie und Palliativmedizin in Köln-Merheim. "Es gibt Patienten, bei denen verringern sich die Kopfschmerztage um 50 bis 70 Prozent." Das sei beeindruckend – und für Patienten, bei denen sonst wenig helfe, ein Segen. Bei anderen Betroffenen hingegen reduzierten sich die Attacken nur um wenige Stunden pro Monat. Letzteres höre sich nicht gerade viel an. "Die meisten betroffenen Patienten sehen das allerdings anders", betont Limmroth. "Für sie ist jede Stunde Kopfschmerz mit Übelkeit und Erbrechen zu viel." Allerdings macht er eine Einschränkung: "Die Antikörper werden nicht bei allen Patienten wirken, sondern nur bei einer bestimmten Gruppe." Leider könne man nicht vorhersagen, wer von den Medikamenten profitiere und wer nicht. "Möglicherweise werden wir Patienten finden, bei denen GCRP in der Entstehung der Migräne eine zentrale Rolle spielt und welche, bei denen vielleicht ein anderer Botenstoff wichtiger ist." Dennoch sei diese Medikamentengruppe ein großer Fortschritt.

Ernsthafte Nebenwirkungen traten in den bisherigen Studien nicht auf. Am häufigsten klagten Patienten über Schmerzen und Jucken an der Injektionsstelle, manche Teilnehmer gaben Rückenschmerzen an. "Die Antikörper gegen CGRP sind sehr gut verträglich", sagt Volker Limmroth. "Die Langzeitsicherheitsdaten und die Verträglichkeit waren in allen Studien aller Präparate ausgesprochen gut." Und auch wenn es noch keine direkten Vergleichsstudien gebe, sei die Verträglichkeit offensichtlich besser als bei herkömmlichen Präparaten wie etwa Betablockern. Auch Hans-Christoph Diener von der Universitätsklinik Essen, der an Wirkstofftests der Firma Teva Pharmaceuticals beteiligt ist, bestätigt die insgesamt sehr gute Verträglichkeit. Er sieht allerdings ein mögliches Problem, das derzeit auch in der Fachliteratur diskutiert wird: Es könne genau dann auftreten, wenn es bei einem Patienten, der mit einem Antikörper behandelt werde, zu einer Hirnhautentzündung kommen sollte. "Normalerweise können die Antikörper die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden", sagt Diener. Bei einer Hirnhautentzündung werde aber die Blut-Hirn-Schranke undicht, und die Antikörper könnten ins Gehirn gelangen. "Was sie dort anrichten könnten, ist bisher nicht bekannt."

Um die Wirksamkeit, aber auch die Sicherheit und Verträglichkeit noch besser unter die Lupe nehmen zu können, laufen gerade weltweit Phase III-Studien an größeren Patientengruppen. Auf diesem Weg lassen sich auch mögliche seltenere Nebenwirkungen erfassen. Sollten sich die Medikamente hier ebenfalls bewähren und später auf den Markt kommen, müssen Patienten eines in Kauf nehmen: Die Wirkstoffe müssen per Spritze verabreicht werden, dafür aber nur ungefähr einmal im Monat – für viele Patienten aber wahrscheinlich ein geringer Preis für weniger Gewittertage im Monat.

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