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Kryptozoologie: Auf der Suche nach dem Unbekannten

Biologen suchen eine verschollene Affenart in Brasiliens Wildnis. Sie lernen dabei, dass Karten manchmal nur den kleinsten Teil einer Geschichte erzählen. Eine Reportage.
Im Boot durch den überfluteten Wald

An einem der seltenen sonnigen Morgen während des Höhepunkts der Regenzeit am Amazonas legt ein zweistöckiges, zu einer schwimmenden Forschungsstation umgerüstetes Hausboot in Deus é Pai an. Die kleine Gemeinde am Ufer des Rio Eiru liegt im Wassereinzugsgebiet des Alto Rio Juruá in Brasilien, ganz in der Nähe der peruanischen Grenze. Hinter dem Hausboot kommt ein kleineres Boot zum Vorschein, das mit 8000 Litern Dieseltreibstoff beladen ist und die für eine dreimonatige Expedition erforderliche Begleitmannschaft transportiert.

Unter den neugierigen Blicken der Dorfbewohner, die das Treiben durch ihre geöffneten Fenster beobachten, springen drei Wissenschaftler an Land und erklimmen mühsam die steile, schlammige Uferböschung. Nachdem sie einer Frau und ihren Kindern, die auf einer Veranda sitzen, zur Begrüßung die Hände geschüttelt haben, stellen sich die Neuankömmlinge vor: Felipe Ennes, ein barfüßiger Doktorand mit dichtem, bereits ergrautem Bart, der an kahlköpfigen Uakaris forscht, Lísley Lemos, eine Wissenschaftlerin in Flipflops, die den Einfluss des Jagddrucks auf Brüllaffen untersucht, und Laura Marsh, Leiterin der Expedition und Expertin für Sakiaffen.

© bioGraphic
Drohnenflug über den Regenwald

Mit einer ausladenden Bewegung ihres Arms deutet Lemos auf die weiteren 15 Personen an Bord der Boote und erklärt auf Portugiesisch, sie alle seien Teilnehmer einer wissenschaftlichen Expedition, die sich »Houseboat Amazon« nennt. Unter den aus den USA, Brasilien, Mexiko, Kolumbien und dem Vereinigten Königreich stammenden Teammitgliedern befinden sich Naturschutzbiologen, Tiermediziner, Drohnenflieger und Fotografen sowie Köche, Mechaniker und ein Bootskapitän. Lemos bittet die Einheimischen, ihnen das Anlegen mit dem Hausboot entlang des Flussufers, das Fotografieren und den Einsatz von Drohnen zu erlauben. »Wir sind nämlich auf der Suche nach einem verschollenen Sakiaffen mit goldfarbenen Armen und Beinen«, ergänzt die Wissenschaftlerin.

Das Dorf Deus é Pai befindet sich etwa 40 Kilometer von der abgeschieden gelegenen Stadt Eirunepé entfernt, direkt an der Grenze zum Reservat des indigenen Volkes der Kulina. Es ist die erste von vielen Gemeinden, in der sich die Forscher auf der Suche nach dem vermissten Primaten – Vanzolinis Kahlgesichtigem Saki (Pithecia vanzolinii) – die Hilfe lokaler Führer zu Nutze machen möchten. In den kommenden drei Monaten werden die Wissenschaftler in dem etwa 111 000 Quadratkilometer umfassenden Wassereinzugsgebiet des Rio Juruá fünf Flüsse eingehend untersuchen, denn frühere Aufzeichnungen und andere Indizien deuten darauf hin, dass der verschwundene Affe möglicherweise auch heute noch in dieser Gegend zu finden ist.

Houseboat Amazon | Das Hausboot diente den Forschern als mobile Basisstation, mit der sie im Westen des brasilianischen Amazonasgebiets nach dem verschollenen Vanzolinis Kahlgesichtigem Saki suchten.

Atemberaubende Artenvielfalt

Der Juruá ist einer der längsten und windungsreichsten Nebenflüsse des Amazonas. Von seinem Quellgebiet nahe dem Nationalpark Serra do Divisor an der peruanischen Grenze schlängelt er sich auf einer Strecke von rund 3200 Kilometern durch dichten Dschungel, bis er weiter nordöstlich in den Rio Solimões, den brasilianischen Oberlauf des Amazonas, mündet. Da die Biodiversität in der Amazonasregion natürlicherweise von Osten nach Westen zunimmt, zählt der weit im Westen des Landes dahinfließende Rio Juruá zu den bedeutendsten Biodiversitätshotspots der Welt.

Jedes Jahr verwandelt sich diese Landschaft in das größte Überschwemmungswaldgebiet der Erde, das die Brasilianer »Várzea« nennen. Mit Beginn der Regenzeit strömt sedimenthaltiges Wasser aus den Anden in die tiefer liegenden Ebenen, mischt sich mit den Schwarzwassersümpfen der Wälder und dringt in unzählige Seitenkanäle. Bei Hochwasser kann es durchaus passieren, dass die Regenwälder bis in Höhen von 50 Metern überflutet werden. Dies beschränkt nicht nur den Lebensraum der Waldtiere auf den Bereich der Baumkronen, sondern bringt auch die Wissenschaftler näher an die Tiere heran, so dass nun sogar die besonders scheuen Waldbewohner leichter von den Forschern entdeckt werden können.

In den kommenden Wochen werden sich die Expeditionsteilnehmer jeden Morgen zu Fuß oder in ihren Kanus zu einer genauen Bestandsaufnahme der Region auf den Weg machen und das Vorkommen von Primaten- und anderen Säugetierarten sowie deren Verbreitung im Einzugsgebiet des Rio Juruá dokumentieren. Sie werden also Daten erfassen, die noch nie zuvor in diesem Gebiet erhoben worden waren – mit dem Ziel, den genauen Lebensraum der einzelnen Arten, ihren Zustand sowie eventuell erforderliche Schutzmaßnahmen zu bestimmen.

Obwohl es Forschern bisher gelang, 16 endemische Arten von Sakiaffen in Südamerika zu identifizieren, beschränkt sich das Wissen über diese Lebewesen doch im Allgemeinen auf das Wenige, was Wissenschaftler aus ihren äußerst flüchtigen Begegnungen mit den Tieren zusammengetragen haben. Mit etwas mehr als 90 Zentimeter sind die Sakiaffen zwar kleiner als Brüll- und Klammeraffen, doch größer als die Titis und Tamarine, mit denen sie sich häufig ihren Lebensraum teilen.

Laura Marsh sucht nach den Affen | Die Biologin Laura Marsh sucht nach dem Kahlgesichtigen Saki. Selbst fern der Zivilisation muss der Regenwald für Landwirtschaft weichen, wie das Maniokfeld zeigt.

Bei ihren atemberaubend weiten Sprüngen in den Baumwipfeln benutzen Sakis ihren langen, flauschigen, etwa die Hälfte ihrer Körperlänge messenden Schwanz zum Lenken. Dies hat ihnen den Spitznamen »macacos que voo« – die fliegenden Affen – eingebracht. Fühlen sie sich von einem Angreifer bedroht, plustern die Sakis ihre langen Haare auf; manchmal tun sie dies aber auch nur, um sich nach einem heftigen Regenschauer wieder zu trocknen.

In freier Wildbahn verhalten sich Sakis eher sanftmütig und ruhig. Ihr leises Klicken, Zirpen und Gurren ist in der Kakophonie der anderen Geräusche des Regenwalds kaum hörbar. Und im Gegensatz zu den mutigeren Klammeraffen, die sich bei Gefahr durch lautes Kreischen und Werfen von Stöcken verteidigen, ziehen sich Sakis meist zurück oder suchen in einem Versteck Schutz.

Der Affe der Begierde

Vanzolinis Kahlgesichtiger Saki, der nach dem brasilianischen Wissenschaftler und Musiker Paulo Emilio Vanzolini benannt wurde, unterscheidet sich deutlich von seinen näheren Verwandten, denn er besitzt als einziger unter den Sakis goldfarbene Arme und Beine und einen ebenso gefärbten Nacken. Das schwarze Gesicht mit dem weißen Streifen um die hundeartige Schnauze wird von einer struppigen Mähne umrahmt, die an ein locker sitzendes Toupet erinnert. Mit Ausnahme der kahlen Brust ist der Rest des Körpers von schwarz-weiß gesprenkelten Haaren bedeckt. Wegen seiner zotteligen Gestalt und des dicken Schwanzes ist der Vanzolini-Saki leicht zu identifizieren, auch wenn er nur als Schatten in einem entfernten Baum zu erkennen ist.

Trotz seiner markanten Erscheinung wurde der letzte Vanzolini-Saki in der Umgebung des Rio Eiru im Jahr 1936 gesichtet, als der ecuadorianische Naturforscher Alfonso Olalla 35 Exemplare als Ausstellungsstücke für die Sammlungen verschiedener Museen schoss. Nach diesem Ereignis haben Wissenschaftler den Primaten aus den Augen verloren, und laut Marsh ist Vanzolinis Kahlgesichtiger Saki bereits seit mehr als 80 Jahren von der biologischen Landkarte verschwunden.

Das Wiederfinden einer verlorenen Art wie dieser ist keine leichte Aufgabe. Die einheimischen Bewohner der entlegenen Gebiete unserer Erde, die regelmäßig die Dschungelpfade entlangwandern, in Flüssen fischen und in Wäldern jagen, mögen vielleicht die Aufenthaltsorte der Tiere kennen, doch nur selten dringen solche Informationen auch zu Wissenschaftlern durch – es sei denn, Letztere führen in den Regionen eigene Feldstudien durch. Und aus ebendiesem Grund sind die Naturschutzbiologen von Houseboat Amazon in jenen entlegenen Winkel des Amazonasgebiets gereist – denn um eine Art zu schützen, muss man zunächst einmal wissen, wo sie eigentlich lebt.

Befragung der Bevölkerung | Um mehr über die Fauna der Region zu erfahren, spricht Alejandra Duarte mit Familien in den Dörfern. Die Riberinhos leben hier seit Jahrzehnten und ernähren sich auch von Produkten aus dem Wald.

Wichtige Glieder des Ökosystems

Ähnlich wie Bienen und andere Bestäuber stellen auch Affen einen unentbehrlichen Bestandteil eines gesunden, funktionierenden Regenwalds dar. Auf ihren Streifzügen durch das Ökosystem verzehren die Tiere Früchte, deren Samen sie durch Absetzen von Kot verbreiten; auch Pflanzenpollen transportieren die Affen bei ihren Wanderungen. Trotz ihrer ökologischen Bedeutung verschwinden jedoch die Primaten mit geradezu alarmierender Geschwindigkeit aus ihren heimatlichen Wäldern. Im Januar 2017, nur wenige Wochen bevor Marsh mit ihrer Expedition nach Brasilien aufbrach, verkündete ein Primatologenteam unter der Leitung von Anthony Rylands von Conservation International, dass derzeit drei Viertel der auf der Welt lebenden Primaten im Rückgang begriffen seien; zu den Hauptursachen zählen im Wesentlichen Habitatverlust und übermäßige Bejagung. Einige Spezies sind bereits im Verlauf der letzten Jahrzehnte verschwunden, und man nimmt an, dass sie höchstwahrscheinlich ausgestorben sind.

»Und genau deshalb führen wir jetzt eine umfassende Bestandsaufnahme in Brasilien durch«, schrieb Marsh kurz vor ihrer Abreise auf der Facebookseite von Houseboat Amazon. Die systematische Erkundung des Juruá-Einzugsgebiets ist der erste Schritt zur Bestimmung der Gesundheit des Walds und des Erhaltungszustands der dort lebenden Arten. Dies verschafft den Forschern eine Informationsgrundlage, die für das Verfolgen von Bestandsentwicklungen unverzichtbar ist und maßgeblich dazu beiträgt, zukünftige Maßnahmen zum Schutz der Tiere zu entwickeln.

Die Untersuchungsergebnisse können möglicherweise auch Aufschlüsse über den allgemeinen Gesundheitszustand der Amazonaswälder geben. Laut Marsh ist der Schutz des Regenwalds heutzutage »vergleichbar mit dem Geschicklichkeitsspiel Jenga. Entfernt man eine Art, wird das System nicht beeinträchtigt. Nimmt man eine weitere Spezies heraus, ist vielleicht immer noch alles in Ordnung, aber wenn man schließlich noch eine Art entfernt, bricht alles zusammen. Das Problem ist, dass wir dieses letzte Teil einfach nicht kennen.«

Sternenhimmel über dem Regenwald | Entschädigt für die Mühen werden die Mitarbeiter auch durch Anblicke wie diesen: fern der Lichtverschmutzung aus den Metropolen erblicken sie die Milchstraße über dem Wald.

Wenn also ein Affe verschwindet, fragen sich Forscher: War dies vielleicht die entscheidende Art? Haben wir jetzt etwas verloren, das für das Funktionieren des Regenwalds als gesundes Ökosystem unerlässlich ist? Denn bei einer so riesigen Region wie dem Amazonasbecken kann es durchaus passieren, dass wir den kritischen Punkt erst dann erkennen, wenn das System bereits am Kippen ist.

Mit Hilfe der Einheimischen

Zurück im Dorf Deus é Pai geht die mexikanische Forscherin Alejandra Duarte gerade auf einen etwa siebenjährigen Jungen zu, der barfüßig in einem abgetragenen Baumwollshirt und blauen Shorts auf einer Veranda sitzt. Duarte schlägt ein leeres Notizbuch auf, reicht dem Kind eine Tüte mit Buntstiften und beginnt, das Hausboot zu zeichnen. Dann fordert sie den Jungen auf, sein Haus zu malen, während sie sich mit seiner Mutter über die Lieblingsspeisen der Familie unterhält. Nach einigen Minuten holt Duarte verschiedene laminierte Tierfotos hervor und bittet die Frau, die Bilder jener Tiere auszuwählen, die von der Familie als Nahrung gejagt werden. Anschließend zeigt die Forscherin der Frau ausschließlich Fotos von Affen, mit der Aufforderung, diese nach ihrer Schmackhaftigkeit zu sortieren. Die Dorfbewohnerin wählt die größeren Klammeraffen als am wohlschmeckendsten aus, gefolgt von Brüllaffen, Kapuzineraffen und gegen Ende den Sakis. Allerdings, so berichtet die Frau der Wissenschaftlerin, sei keiner dieser Affen besonders häufig in den Wäldern anzutreffen.

In ihrer Tätigkeit als Dozentin an der Escuela Nacional de Antropología e Historia in Mexico City untersucht Alejandra Duarte nach eigener Auskunft den Menschen »als einen weiteren Primaten innerhalb des Ökosystems«. Besonders interessiert sich die Forscherin dafür, wie sich die Nutzung natürlicher Ressourcen durch den Menschen auf andere Primaten auswirkt. In den folgenden Tagen, während ihre Kollegen den Wald auf der Suche nach Affen durchstreifen, hilft Duarte den Dorfbewohnern bei der Ernte und dem Schälen von Maniok, der Zubereitung von Açaí, einer Art Brei aus den Früchten der gleichnamigen Palmenart, sowie beim Kochen von Pupunha, den essbaren Früchten der Pfirsichpalme. Durch ihre Teilnahme am Alltagsleben der Einheimischen sammelt die Wissenschaftlerin Daten über die Art und Weise, in der die Menschen die Ressourcen des Regenwalds verwerten. Zudem stattet die Forscherin jeder Familie, die einen Affen als Haustier hält, einen Besuch ab, um Haare für spätere DNA-Analysen zu sammeln, die Körper der Tiere zu vermessen und Näheres über die Herkunft der Affen sowie den Preis, den die Besitzer dafür bezahlten, zu erfahren.

Gemeinsam mit den Ortsansässigen erstellt Duarte Karten, die den Forschern wertvolle Informationen liefern, etwa hinsichtlich der Lage von Salzlecken, an denen sie Kamerafallen aufstellen können, über Pfade, die es sich eventuell zu überwachen lohnt und gelegentlich auch bezüglich der Schauplätze des Drogenhandels, um die man tunlichst einen Bogen machen sollte.

Dreizehen-Faultier | Der Artenreichtum des Regenwaldes ist trotz der lokalen Jagd immer noch überwältigend. Zu den regelmäßigen Sichtungen gehören beispielsweise Faultiere, die in den Baumwipfeln eine ruhige Kugel schieben.

Nach sechs Tagen hat das Hausboot die nächste, flussabwärts am Rio Eiru gelegene Gemeinde erreicht. Während sich drei Forscherteams in Kanus auf den Weg ins Untersuchungsgebiet machen, folgt Marsh zusammen mit einer kleinen Gruppe einem einheimischen Führer zu Fuß in den Regenwald. Der Morgen hatte nicht besonders gut angefangen. Der frisch angeworbene Dschungelführer war tatsächlich mit einem Jagdgewehr in der Hand erschienen, wohl in der Hoffnung, seine neue Tätigkeit würde ihm eine günstige Möglichkeit verschaffen, genau jene Affen zu jagen, die die Wissenschaftler zu schützen versuchten. Als in der vorherigen Gemeinde zwei ortskundige Führer mit Schrotflinten aufgetaucht waren, hatten die Forscher noch gehofft, es würde sich um eine Ausnahme handeln, doch das Mitführen von Schusswaffen schien in dieser Gegend allgemein üblich zu sein. Auch wenn die Wissenschaftler billigend zur Kenntnis nehmen, dass die Einheimischen mit Hilfe der Jagd ihre Familien ernähren, verspürt Marsh dennoch das Bedürfnis, eine deutliche Grenze zu ziehen.

Spagat zwischen Naturschutz und Jagd

»So geht das nicht«, erklärt die Wissenschaftlerin sichtbar frustriert. »Wenn wir weg sind, sollen sie meinetwegen losziehen und auf all das schießen, was sie zusammen mit uns gesehen haben. Schließlich ist es ihr Wald. Wir können sie nicht aufhalten. Aber wenn sie mit uns arbeiten, können sie doch nicht einfach ein Gewehr mitbringen.«

Leider ist es nicht ganz ungewöhnlich, dass sich Jäger die Untersuchungsobjekte von Naturschutzbiologen als Zielscheibe auswählen. Vor Manaus mussten Forscher etwa mit dem Markieren und Verfolgen gefährdeter Rundschwanzseekühe aufhören, da Jäger ihnen nachstellten und die Manatis töteten. Und in New Mexico und Arizona halten Wissenschaftler mittlerweile die GPS- und Funksignale von mit entsprechenden Halsbändern ausgestatteten Wölfen geheim, denn Wilderer hatten sich diese zu Nutze gemacht, um die genauen Aufenthaltsorte der Tiere zu bestimmen. »Dies ist überall ein großes Problem«, berichtet Marsh verärgert. »Wo auch immer ich bisher gearbeitet habe, ob in Belize, Ecuador oder Vietnam – in all diesen Ländern ist mir Ähnliches passiert.«

Der einheimische Führer hat sein Gewehr zu Hause gelassen und leitet uns jetzt einen Pfad entlang, der kaum sichtbar mit abgeknickten Ästen und auf Schienbeinhöhe abgeschlagenen Schösslingen markiert ist. Schrotpatronen hängen in den Zweigen der Bäume, um abgehende Seitenpfade kenntlich zu machen. Auf dem Weg zu einer Salzlecke, an der das Aufstellen von Kamerafallen geplant ist, halten die Wissenschaftler Augen und Ohren nach etwaigen Anzeichen von Sakis offen.

Während der ersten fünf Stunden ihrer Wanderung bahnt sich Marsh von Zeit zu Zeit abseits des Pfades einen Weg durch das Unterholz und folgt dem Geräusch herunterfallender Früchte oder raschelnder Blätter in den Baumkronen – Zeichen einer möglichen Anwesenheit von Affen. »Wenn du all deine Sinne auf vollen Empfang gestellt hast, führt jede kleinste Bewegung dazu, dass dein Herz vor Aufregung einen Sprung macht«, beschreibt die Forscherin ihre Empfindungen. Bislang haben die Wissenschaftler folgende Tiere gesichtet: einen Ameisenbären (Tamandua tetradactyla), ein Dreifinger-Faultier (Bradypus variegatus), einen Tayra (Eira barbara – eine Art Marder, Anm. d. Red.), einen Rotkopfpipra (Pipra rubrocapilla – eine Vogelart, Anm. d. Red.) sowie eine schwarze Vogelspinne, die ungefähr so groß war wie das GPS-Gerät in Marshs Hand – jedoch keinen einzigen Affen.

Im Wald | Der brasilianische Primatenforscher Felipe Ennes folgt einem ortskundigen Führer auf einem langsam zuwuchernden Pfad im Regenwald. Sie sind auf der Suche nach Sakis.

Ganz plötzlich lässt ein Vogel direkt über ihren Köpfen seinen außergewöhnlich lauten »whet-whew«-Ruf ertönen, der eher wie das Hinterherpfeifen eines ungehobelten Mannes klingt. »Das ist ein Schreipiha«, erläutert Marsh. »Normalerweise gilt er als Indikator eines ungestörten Walds.« Auf die erfahrene Tropenökologin macht der Regenwald einen gesunden Eindruck. Die Bäume zu beiden Seiten des Pfads messen etwa 60 Zentimeter oder mehr im Durchmesser; einige ragen vom Boden aus kerzengerade in das Blätterdach, während andere sich mit Hilfe schräger Stelzwurzeln von dem zeitweilig überschwemmten Gelände abstützen. Und wieder andere breiten sich fächerartig mit ihren charakteristisch gefalteten Brettwurzeln aus, die jeden neuen Besucher des Regenwalds besonders beeindrucken und den Bäumen ausreichend Stütze bieten, um Höhen von 40 Metern oder mehr zu erreichen. Kleine Farne und Pflanzen in glänzendem Pink und Grün bedecken den Waldboden.

Wo sind die Tiere

Für einen gesunden Wald ist dieser allerdings außerordentlich still. Marsh hebt eine Hand voll unversehrter gelber Früchte auf, die in Massen verstreut auf dem Boden liegen. Die Wissenschaftlerin hat bereits ähnliche Waldgebiete in ecuadorianischen und peruanischen Nationalparks besucht. »In diesen Wäldern gab es wahre Tornados von Affen«, versichert Marsh, was in etwa heißt, dass dort ein breites Spektrum an Regenwaldprimaten zu finden war – von den größeren Brüll- und Klammeraffen bis hin zu den winzigen Marmosetten. Während die Affen in großen Gruppen die Wälder durchstreifen, sammelt jede Art üblicherweise Früchte aus unterschiedlichen Wuchshöhen und verbreitet beim Weiterziehen deren Samen. »Das hier ist ein sehr schöner Wald und es gibt offensichtlich Früchte im Überfluss, doch wo sind bloß all die Affen?«

Zurück auf dem Hausboot berichtet Ennes am Abend, dass ihr einheimischer Führer ihnen geraten habe, sich in diesem Gebiet niemals abseits der gekennzeichneten Pfade zu bewegen. Die Dorfbewohner hätten nämlich mit Gewehren ausgestattete Tierfallen errichtet, die durch Stolperdrähte ausgelöst würden und dazu dienten, Pakas und Tapire auf Augenhöhe zu töten, so die Begründung.

Die meisten Primatologen können eine Geschichte von jenem besonderen Augenblick erzählen, in dem sie sich in ihre Studienobjekte verliebten. Bei Marsh geschah es im Jahr 2001, als sie die frisch angelegten Transekte an der Tiputini Biodiversity Station im Biosphärenreservat Yasuní in Ecuador entlangwanderte, an der sie als Doktorandin arbeitete. Über mehrere Jahre hatte die Wissenschaftlerin in diesem Gebiet die ersten Bestandsaufnahmen von Primaten durchgeführt – eine Tätigkeit, die im Allgemeinen mit einem angestrengten Starren hinauf in die Baumkronen verbunden war. Doch eines Tages warf Marsh einen kurzen Blick nach unten und sah einem Affen direkt in die Augen, der auf einem herabhängenden Ast oberhalb des Weges saß.

Lebend in der Speisekammer | Eine Waldschildkröte hängt vor der Hütte eines Dorfes. Buschfleisch aus dem Regenwald ist eine der wichtigsten Proteinquellen für die Bewohner vor Ort. Schlimmer für die Bestände wirkt sich die Jagd für die Restaurants und Märkte von Großstädten aus.

»Fast hätte ich ihn übersehen«, gesteht die Forscherin, »und ich hatte keine Ahnung, um welche Affenart es sich handelte.« Mit Hilfe von Bestimmungsbüchern ordnete sie den Primaten in die Gattung der Sakis ein, doch es gelang ihr nicht, die Spezies zu bestimmen. Marsh durchforstete sämtliche Literatur, die sie zur Beschreibung von Sakis finden konnte, wurde jedoch angesichts des vagen, verwirrenden und sich wiederholenden Inhalts der Publikationen zunehmend frustriert.

Als die Forscherin einige Primatologen in einer informellen E-Mail um Hilfe bat, schlugen diese ihr vor, sie solle sich doch selbst der Taxonomie jener Primaten annehmen. »Das war praktisch der Beginn dieser Reise«, erinnert sich Marsh bei einem Kaffee im heimatlichen Santa Fe in New Mexico.

Sakis sind Neuland

Zehn Jahre benötigte die Wissenschaftlerin, um die Klassifizierung der Sakiaffen, die im Wesentlichen aus Aufzeichnungen über die Anzahl der Arten, ihre Verwandtschaftsbeziehungen und Lebensräume bestand, zu klären und auf den neuesten Stand zu bringen. Marsh schaute sich jedes einzelne konservierte Exemplar in Museen auf der ganzen Welt an und reiste mehrmals nach Südamerika, um lebende Sakis in Gefangenschaft und freier Wildbahn zu studieren. In Verlauf ihrer Untersuchungen gelang es der Forscherin, 16 Sakiarten (darunter fünf neue) zu beschreiben und voneinander abzugrenzen, und ihre Ergebnisse wurden im Jahr 2014 in zwei Ausgaben der Zeitschrift »Neotropical Primates« veröffentlicht.

Fell einer Raubkatze | Bis der Handel mit Fellen verboten wurde, schossen Jäger zehntausende Raubkatzen in Amazonien. Vielerorts verschwanden die Tiere deshalb aus den leicht zugänglichen Regionen.

Für jede der von ihr beschriebenen Arten konnte Marsh die Existenz lebender Individuen nachweisen – mit Ausnahme von Vanzolinis Kahlgesichtigem Saki. Die Primatologin korrespondierte mit Wissenschaftlern und Feldforschern im gesamten Amazonasgebiet, doch niemand konnte ihr Fotos oder sonstige Hinweise auf das Vorkommen dieses speziellen Sakis liefern. Schließlich beschloss Marsh, sich selbst auf die Suche nach dem Primaten zu machen.

Eine Durchsicht der wissenschaftlichen Fachliteratur über das Einzugsgebiet des Alto Rio Juruá, den vermeintlichen Lebensraum des Vanzolini-Sakis, lieferte nur wenig nützliche Informationen in Bezug auf die Region. Aus dem vorhandenen Kartenmaterial wurde deutlich, dass Cruzeiro do Sul und Eirunepé, zwei kleinere, an den Rändern des Untersuchungsgebiets gelegene Städte, von weiten Streifen entwaldeter Landflächen und landwirtschaftlich genutzter Felder umgeben waren. Doch davon abgesehen machte die Ansicht auf Google Earth einen viel versprechenden Eindruck: Der Regenwald schien intakt zu sein und wies nur sehr wenige menschliche Siedlungen auf. Entlang der Ufer des Rio Eiru zeigten einige kleine Punkte die Anwesenheit von »Ribeirinhos« an – jene traditionellen Gemeinschaften Amazoniens, die an den Flüssen leben und sich vom Fischfang und den natürlichen Ressourcen des Walds ernähren – eingebettet in das dichte Grün eines riesigen, unberührten Regenwaldgebiets.

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Mit dem Kanu durch den Sumpf

Nach den Erwartungen Marshs und ihrer Kollegen würde die Gegend nahezu wie in den frühen 1930er Jahren aussehen, als der ecuadorianische Sammler Olalla dort sein Lager aufschlug. Alles deutete darauf hin, dass der Vanzolini-Saki in diesem Gebiet noch immer optimale Lebensbedingungen vorfinden würde. »Es sah nach einem wahren Affenparadies aus«, bestätigt Marsh. Doch meistens wissen Forscher erst nach ihrer Ankunft, was sie in einem Untersuchungsgebiet tatsächlich erwartet.

Am Abend des neunten Tages verwandelt der Sonnenuntergang die bauschigen Wolken in neonfarbene Zuckerwatte, während sich die Feldforscher auf dem unteren Deck des Hausboots zum Abendessen versammeln. Der Koch, ein ehemaliger Dschungelkämpfer der brasilianischen Armee, serviert großzügige Portionen eines Hühnereintopfs aus der schrankgroßen Küche, in der man nicht einmal aufrecht stehen kann.

Die Gespräche kreisen um die Beobachtungen des Tages. Ein von Primatologen verwendetes Maß zur Bestimmung der Häufigkeit von Arten ist der zur Lokalisierung der Tiere erforderliche Arbeitsaufwand. An jenem Tag hatten acht Augenpaare den Regenwald elf Stunden lang aufmerksam durchsucht und waren zu folgendem Ergebnis gekommen: ein Kapuzineraffe, ein Totenkopfaffe und die mögliche Sichtung eines Sakis, der sich jedoch in einer zu großen Entfernung befand, um eindeutig identifiziert werden zu können. »Das ist ein ziemlich hoher Aufwand für eine magere Ausbeute«, stellt Marsh fest.

Leerer Wald

Mehr und mehr kristallisiert sich heraus, dass das Gebiet um den Rio Eiru weitaus stärker durch menschliche Siedlungen und Jagdaktivitäten beeinträchtigt ist, als die Wissenschaftler bisher angenommen hatten. Obwohl der Wald größtenteils relativ intakt erscheint, sind Tiere nur spärlich vorhanden. »Es ist bei Weitem nicht das Affenparadies, das wir uns vorgestellt hatten«, bemerkt Marsh.

Skelett eines Klammeraffens | Dieses Skelett eines jungen Klammeraffens entdeckten die Biologen im Wald – Opfer eines Raubtiers, Unfalls oder einer Krankheit. Die Überreste wurden eingesammelt und sollen später im Labor eingehend untersucht werden.

Die allabendlichen Treffen der Forscher im Verlauf ihres einmonatigen Aufenthalts am Rio Eiru spiegeln eine weitaus umfassendere Debatte wider, die sich in Naturschutzkreisen gerade um die folgende Frage dreht: Ist das Ökosystem des Amazonas tatsächlich derartig durch menschliche Jagdaktivitäten gefährdet, dass es sich zu einem »leeren Wald« entwickelt? 1992 prägte der für die US-amerikanische Wildlife Conservation Society tätige Biologe Kent Redford diesen Begriff, um Wälder zu beschreiben, die zwar exzellente Habitate darstellen, in denen aber fast keine großen Säugetiere leben. Fehlen diese Tiere, verliert ein Wald nämlich entscheidende ökologische Funktionen.

An einem durchschnittlichen Tag der Bestandsaufnahme entlang des Rio Eiru gelingt es vier Forschergruppen, insgesamt etwa zwei bis drei Arten von Affen zu erfassen; dies ergibt in einer Woche rund zehn verschiedene Spezies, die allerdings nur mit geringen Individuenzahlen vertreten sind. Im peruanischen Nationalpark Manú oder in ecuadorianischen Wäldern, in denen der Jagddruck sehr gering bis gar nicht vorhanden sei, könne dagegen ein einzelner Beobachter an nur einem Vormittag fünf verschiedene Affenarten entdecken, gibt Marsh zu bedenken.

Lísley Lemos, die am brasilianischen Instituto Mamirauá tätig ist, hat die Jagdaufzeichnungen zweier Waldschutzgebiete im nördlichen Bundesstaat Amazonas, die einen Zeitraum von 14 Jahren umfassen, eingehend studiert. In dieser Region arbeiten Wissenschaftler und einheimische Bevölkerung eng zusammen, um Aktivitäten im Bereich Jagd, Fischerei und Holzeinschlag zu verfolgen und die Wildtierbestände zu bewirtschaften. Da Affen nur geringe Reproduktionsraten aufweisen, kann eine Bejagung überdimensionale Auswirkungen auf ihre Bestände haben. Lemos Untersuchungsergebnisse zeigen allerdings, dass – zumindest im Fall der Brüllaffenpopulationen – die Reproduktions- und Rekrutierungsraten aus den umgebenden Wäldern hoch genug sind, um durch Jagd bedingte Verluste auszugleichen.

Momentan stehen diese Naturreservate noch mit riesigen Flächen intakten Regenwalds in Verbindung. Doch in den Nachbarstaaten Rondônia und Pará hat der so genannte Bogen der Entwaldung bereits zu einer deutlich sichtbaren Fragmentierung des Ökosystems in isolierte Waldflächen geführt, und die dort lebenden Affenpopulationen sind mittlerweile stark im Rückgang begriffen. Sollte sich dieser Entwaldungsbogen weiter in Richtung Nordwesten ausbreiten, könne auch im brasilianischen Bundesstaat Amazonas Ähnliches passieren, befürchtet Lemos. »Im Augenblick befinden sich die Brüllaffenpopulationen zwar in einem stabilen Zustand, doch können wir keine Vorhersagen über zukünftige Entwicklungen treffen«, gibt die Forscherin zu bedenken. »Denn wenn sich eine Variable ändert, verschiebt sich möglicherweise das gesamte Ökosystem.«

Baumfrosch | Der Schwerpunkt der Expedition lag auf der Suche nach Säugetieren. Doch die Biologen erfassten auch andere Tiergruppen, um einen Überblick über die regionale Artenvielfalt zu erhalten.

Bei ihrem Studium der Landkarten vor Beginn der Expedition hatte Marsh eines nicht erkennen können: die Tatsache, dass der Jagddruck entlang des Rio Eiru und in weiten Teilen des Juruá-Einzugsgebiets weit über das gesetzlich erlaubte Maß hinausgeht. Unter dem dichten Blätterdach der Bäume und für die Satelliten unsichtbar, sind die Tiere des Walds nämlich schon seit geraumer Zeit weiteren Bedrohungen ausgesetzt als nur der Gefahr durch einheimische Dorfbewohner, die etwas zu Essen auf den Tisch bringen möchten.

Wer jagt hier?

Die Jagdpfade, die das Wassereinzugsgebiet des Rio Juruá kreuz und quer durchziehen, wurden ursprünglich von Kautschukpflanzern, den »Seringueiros«, während des ersten Kautschukbooms im späten 19. Jahrhundert und in der Zeit des Zweiten Weltkriegs angelegt. Als die Nachfrage nach Naturkautschuk zurückging, entwickelte sich ein internationaler Handel mit Fellen aus dem Amazonasgebiet, der in den darauf folgenden 80 Jahren florierte. Am begehrtesten waren die Pelze gefleckter Raubkatzen, aber auch Riesenotter, Wasserschweine, Kaimane, Rotwild und Nabelschweine standen wegen ihrer Häute auf der Abschussliste. Durch Auswertung von Daten aus Geschäftsbüchern des kommerziellen Fellhandels kamen Wissenschaftler zu dem Schluss, dass die Populationen landlebender Tiere und Fische entlang der Wasserwege des Amazonasbeckens während des 20. Jahrhunderts stark dezimiert wurden. Zwar schossen die Jäger Affen und andere Säuger, wie zum Beispiel Tapire, nicht wegen ihrer Felle oder Häute, doch auch diese Tiere fielen regelmäßig dem Nahrungserwerb der einheimischen Bevölkerung zum Opfer.

Buschfleischhandel macht den Wald leise

Da die Kautschukgewinnung inzwischen weitgehend der Vergangenheit angehört, sind auch die im Juruá-Gebiet ansässigen Gemeinschaften der Seringueiros im Aussterben begriffen. Die Kinder vieler Kautschukzapfer sind entweder fortgezogen oder leben als Maniokbauern, Fischer oder Holzfäller, die für den Eigenbedarf jagen und ihre Waren in der Stadt zum Verkauf anbieten. Fisch, Açaí, Haustiere, Früchte und so genanntes Buschfleisch – die Grundnahrungsmittel der Menschen in der Amazonasregion werden in einem stetig dahingleitenden Strom von Einbäumen aus den Dörfern in die größeren Städte transportiert.

Offiziell gilt die Jagd in ganz Brasilien als verboten, mit Ausnahme der Aktivitäten traditioneller Gemeinschaften und indigener Völker. Da zwar viele Angehörige ehemaliger Kautschukpflanzer in die Städte abgewandert sind, jedoch über weitläufige Verwandtschaftsbeziehungen noch immer Kontakte zu Ribeirinhos pflegen, spielt sich manches in einer rechtlichen Grauzone ab. »Ein Großteil unserer Jagdgesetze hängt sehr stark von der Auslegungsweise der Person ab, die diese Rechtsvorschriften durchsetzt«, macht Lemos deutlich. »Das, was im Gesetz geschrieben steht, ist häufig nicht besonders eindeutig formuliert.«

Endlich ein Affe | Dieser Tamarin-Affe der Art Leontocebus weddelli melanoleucus wird nicht gejagt, weil er schlecht schmeckt. Deshalb kommen sie noch häufig vor.

In einer Dorfgemeinschaft berichtet man uns, dass illegale Jäger – also jene ohne regionale familiäre Bindungen – vor ein paar Tagen aus der Stadt kamen und einen großen Baum fällten, um eine Familie von Brüllaffen zu töten. »Für Jäger ist das ein ziemlicher Arbeitsaufwand«, erklärt Marsh, die ebenfalls den Jagddruck auf Affenarten, die auf der Roten Liste der Weltnaturschutzorganisation stehen, untersucht. »Es deutet auf den massiven Jagddruck hin, dem dieses Gebiet von Menschen außerhalb der Ribeirinho-Gemeinschaften ausgesetzt ist.«

Die Kombination aus der permanenten Eigenbedarfsjagd durch die Ribeirinhos, der Jagd der Dorfbevölkerung für den Verkauf auf den Märkten in der Stadt und der illegalen Bejagung entlang der Wasserwege durch Stadtbewohner hat also insgesamt zu einer drastischen Verringerung der Tierdichte in der Region geführt.

Dennoch leben, wie die Wissenschaftler bald herausfinden sollten, auch in diesen Wäldern noch immer einige Sakis – zumindest bis jetzt.

Wo steckt der Saki?

Am zehnten Tag der Expedition erwachen wir morgens um halb sechs in dem Dorf Santa Lucia, der letzten Gemeinde unseres Untersuchungsgebiets am Rio Eiru. Der Ort liegt ganz in der Nähe der Stelle, an der die Brüder Olalla in den 1930er Jahren die zahlreichen Vanzolini-Sakis jagten.

Laura Marsh auf dem Fluss | Von einem Kanu aus sucht Laura Marsh die umgebenden Wälder nach den Sakis ab.

Langsam erhellt das Morgenlicht den bedeckten Himmel, während wir uns zu viert vom Hausboot in ein rot gestreiftes Kanu herunterlassen. Drei weitere Gruppen machen sich ebenfalls zu Fuß oder in Kanus auf den Weg, ausgestattet mit GPS, Notizbüchern und schussbereiten Kameras. Mit Hilfe unseres motorgetriebenen Kanus verlassen wir die am Fluss gelegene Ortschaft und fahren einen Kanal entlang, der uns direkt in den Überschwemmungswald führt. Das inzwischen vertraute Kreischen der Totenkopfaffen übertönt sogar das Dröhnen des Motors.

Paddelnd und unter Motoreinsatz durchqueren wir einen Wald, der durch menschliches Tun stark in Mitleidenschaft gezogen ist. In einiger Entfernung kreischen Kettensägen, Hähne krähen und Akkordeonklänge des Forró, der brasilianischen Volksmusik, dringen aus unsichtbaren Siedlungen zu uns herüber. Wir kommen an ausgedehnten Maniok- und Bananenplantagen vorbei, für die erst kürzlich große Regenwaldflächen der Brandrodung zum Opfer fielen, um die nahe gelegene Stadt zu ernähren. Unvermittelt hallt ein lauter Schuss durch den Dschungel. Am vergangenen Abend berichteten uns die Dorfbewohner, eine Jagdgesellschaft habe erst vor Kurzem 14 Uakaris (eine rotköpfige Affenart, Anm. d. Red.) getötet.

Nach einigen Stunden Kanufahrt sind Totenkopfaffen noch immer die einzigen Tiere, denen wir begegnen. Wir entscheiden uns, den Kurs zu ändern und in Richtung der Seen zu fahren, an denen die Brüder Olalla einst ihre Vanzolini-Sakis fanden. Der Fahrer unseres Kanus nimmt den langen »Rabeta«-Motor, befestigt ihn am hinteren Ende des Boots, und wir brausen davon.

Je näher wir dem Rio Juruá kommen, desto ausladender werden die Stämme der Bäume, die üppig mit Bromelien, gelben Orchideen, konisch geformten violetten Blumen und Flor-de-Maracuja, der charakteristischen roten Blüte des amazonischen Überschwemmungswalds, bewachsen sind. Als wir den Juruá erreichen, öffnet sich die Landschaft für einen kurzen Moment, ehe wir wieder in das Dickicht eines Seitenarms eintauchen. Die Spitzen überfluteter Ameisenbäume bilden ein kaum zu durchdringendes Wirrwarr im Wasser; mit violetten Prunkwinden bewachsene Lianen verweben die Stämme der Bäume zu einem dichten Wandteppich. Schwimmende Wiesen und blühende Wasserhyazinthen säumen den Kanal zu beiden Seiten. Duftmoleküle sinken, schwer mit Feuchtigkeit beladen, aus Blüten in den Baumkronen herab; alle paar Meter bade ich förmlich in Düften, die in der feuchten, schwülen Luft noch intensiver werden: Jasmin, frisch geschnittene, rosafarbene Rosen, Dattelpflaume.

Wenig später schwenken wir in einen zweiten Kanal, und unser Fahrer verlangsamt den Motor. Weit oben auf einen kahlen Ast kratzt sich ein Dreifinger-Faultier. Wir halten an, um ein Foto zu machen und die Position in unser GPS einzugeben. Ich wechsele die Sitzposition, denn mein Gesäß schmerzt von den Acht-Stunden-Tagen auf harten, hölzernen Kanubänken.

Ist dies das Ziel der Suche? | Endlich turnt ein Saki durch das Geäst. Handelt es sich um den lange verschollenen Vanzolinis Kahlgesichtigen Saki?

Endlich!

Auf einmal schaltet der Fahrer den Motor abrupt aus und flüstert: »Parauacu! Parauacu!« (Saki!). In einiger Entfernung erkennen wir die Konturen eines schwarzen Affen mit langem, flauschigem Schwanz, der auf einem über dem Wasser hängenden Zweig sitzt und uns aufmerksam beobachtet. Als wir uns nähern, erhebt sich der Affe, dessen Extremitäten von dem unverwechselbaren goldenen Fell bedeckt sind, läuft wie eine Katze auf allen vieren über den Ast zum Rand des Kanals und verschwindet mit einem Satz in den dunklen Wald. »É bem diferente, o parauacu«, sagt unser Begleiter und meint das besondere Aussehen des Vanzolini-Sakis, der sich deutlich von den Affen, die wir bisher gesehen haben, unterscheidet.

»Folgen wir ihm doch«, schlage ich vor. Schnell schwingt der Fahrer den langen Schaft des Motors zurück ins Boot, schnappt sich ein Paddel und steuert uns lautlos in das Dickicht des Überschwemmungswalds. Ich zucke zusammen, als wir gegen einen Baumstamm stoßen und eine Tarantel direkt vor meine Füße fällt. Schnell huscht das Tier unter die Sitzbank und verschwindet aus meinem Blickfeld. Ich stecke mein Hemd in die Hose und hoffe das Beste, während wir weiter den Kanal entlangfahren.

© bioGraphic
Drohnenflug über den Überschwemmungswald

Unmittelbar hinter dem Boot weckt ein lautes Schnauben meine Aufmerksamkeit. Ein rosafarbener Amazonas-Flussdelfin (Inia geoffrensis) ist dem Kanu in den Wald gefolgt und bewegt sich dank seines beweglichen Halses im Gewirr der unter Wasser aufragenden Baumstämme und Zweige fort. Zwei Gelbbrustaras (Ara ararauna), die eindeutig an ihren langen Schwanzfedern und dem lauten Krächzen zu erkennen sind, fliegen über uns hinweg. Es scheint, als würde uns der Regenwald auf einen Schlag all seine Geheimnisse enthüllen, und ich weiß nicht, wohin ich zuerst schauen oder meine Kamera richten soll. Als ich mich dem Geräusch knackender Zweige zuwende, sehe ich sie: drei Vanzolini-Sakis direkt über unseren Köpfen. Einer von ihnen schleicht langsam einen dicken Ast oberhalb des Kanus entlang und stützt sich dann in eine Astgabel, um auf uns herunterzustarren. Ein weiterer springt in einem weiten Kreis um uns herum von Baum zu Baum, gefolgt von einem kleineren Jungtier, das sich sehr anstrengen muss, um mit dem ausgewachsenen Saki Schritt zu halten.

Wir ziehen die Köpfe unter den herabhängenden Schlingpflanzen ein und bahnen uns rudernd einen Weg zwischen den Baumstämmen. Ganz in der Nähe hören wir leises Klicken und Geschnatter, und plötzlich tauchen zwei weitere Sakis über uns auf. Wieder sucht sich das Weibchen einen hoch gelegenen Sitzplatz, während das Männchen versucht, uns durch sein Davonlaufen fortzulocken. Mein Herz klopft und ich halte den Atem an, um meine Fotos nicht zu verwackeln. Mir gelingen ein paar gute Aufnahmen, bevor sich die Sakis mit großen Sprüngen in den Wald entfernen, dessen Vegetation jedoch zu dicht ist, um den Affen mit unserem langen Kanu zu folgen.

Vanzolinis Kahlgesichtiger Saki | Tatsächlich: Vanzolinis Kahlgesichtiger Saki hat überlebt und existiert noch im Westen Amazoniens. Die Expedition hat ihr wichtigstes Ziel erreicht und die Art wiederentdeckt.

Voller Euphorie über diese Begegnung aus nächster Nähe klatschen wir uns ab und geben die Position in unser GPS ein. Die Sonne steht bereits tief am Himmel, als unser Kanufahrer den Motor ins Wasser lässt und wir uns mit Höchstgeschwindigkeit auf den Rückweg zum Hausboot machen. Am nächsten Morgen, als sich die Wissenschaftler in der Nähe der Schiffsküche zum Frühstück treffen, sagt Marsh unvermittelt: »Falls ihr die Neuigkeit noch nicht gehört habt – über Satellit erreichte uns letzte Nacht die Nachricht, dass ein Doktorand von der Universidade de São Paulo eine Publikation mit dem Titel ›Rediscovery of Vanzolini’s Bald-Faced Saki' veröffentlicht hat.‹« Auf einmal scheint die schwüle Luft angesichts der Schwere der Enttäuschung noch drückender zu werden.

Glücklich, aber doch nur Zweiter

Während seiner Feldstudien im südlichen Juruá-Wassereinzugsgebiet, die nicht mit der Erforschung von Affen in Zusammenhang standen, war ein Doktorand an das Fell und den Schädel eines von einem Jäger geschossenen Vanzolini-Sakis gekommen. Als der Student von Marshs Expedition und ihrer Suche nach dem verschollenen Saki erfuhr, setzte er alles in Bewegung, um seine Entdeckung so schnell wie möglich zu veröffentlichen und kam den Wissenschaftlern von Houseboat Amazon mit einem Artikel zuvor, der denselben Titel trug wie die von ihnen geplante Publikation.

In den ersten Wochen ihrer dreimonatigen Expedition hatten Marsh und ihre Mitstreiter Ameisenschauer, die von Bäumen regneten, Stiche von Hornissen, die sich in ihren Hosen versteckt hatten, und Märsche, bei denen sie bis zu den Hüften in schlammigen Sümpfen versanken, durchgestanden; sie hatten ihre Kanus bei Niedrigwasser über Sandbänke gezogen, waren beim Überqueren der Wasserläufe von Baumstämmen gestürzt, hatten auf engstem Raum mit 18 Personen auf einem kleinen Schiff gelebt und waren übersät von Sandmückenbissen und Moskitostichen – nur um sich ihre Entdeckung von einem Kerl wegschnappen zu lassen, der zufällig einen toten Vanzolini-Saki von einem Jäger erhalten hatte.

Ihre Enttäuschung ist riesengroß. Doch nachdem die Expeditionsteilnehmer einige Tage lang ihrem Ärger Luft gemacht und mehrmals auf das berühmt-berüchtigte Gerangel zwischen Charles Darwin und Alfred Wallace um die Veröffentlichung der Evolutionstheorie angespielt haben, beschließen sie, sich ihre Expedition nicht durch die Wiederentdeckung eines einzelnen Vanzolini-Sakis sabotieren zu lassen. Denn schließlich ist ein weiteres Ziel ihrer Reise, im gesamten Verbreitungsgebiet des Affen so viele Sakis und andere Säugetiere wie möglich zu finden. Und ihr Ruhm wird letztlich darin bestehen, dem Ruf des Vanzolini-Sakis als einer den Forschern nahezu unbekannten Art ein Ende zu bereiten.

Nach 21 Tagen am Rio Eiru haben Marsh und ihre Kollegen die Sichtung von 20 Sakigruppen dokumentiert, verglichen mit lediglich acht Gemeinschaften von Brüll- beziehungsweise Klammeraffen. Zur Rettung von Vanzolinis Kahlgesichtigem Saki – dem größten Primaten, der noch in den Regenwaldgebieten um den Rio Eiru zu finden ist – trägt möglicherweise die Tatsache bei, dass Sakis schwierig zu jagen sind und die Einheimischen den Geschmack ihres Fleischs nicht sonderlich schätzen.

Wie kann die Heimat des Sakis bewahrt werden?

Es gibt gute Gründe, diese Art der Feldforschung im Heimatgebiet des Vanzolini-Saki fortzusetzen. »Die Arbeit hier ist, als würde man ein Puzzle zusammensetzen«, erklärt Ennes. »Wir bemühen uns immer noch, herauszufinden, welche Arten von Primaten hier eigentlich leben und ob sie sich eventuell von ihren Artgenossen in anderen Gegenden des Amazonasbeckens unterscheiden.« Augenblicklich arbeiten March und Ennes daran, die Existenz von mindestens zwei potenziellen neuen Arten, die sie während ihrer Expedition entdeckten, durch weitere Nachweise zu belegen.

Im Verlauf ihres dreimonatigen Aufenthalts in der Region des Rio Juruá und seiner Zuflüsse enthüllen die Wissenschaftler deutliche Unterschiede zwischen dem Einfluss der Jagd in der Umgebung des Rio Eiru und des Rio Liberdade, die beide in der Nähe größerer Städte fließen, und am Rio Gregório, der durch ein Naturschutzgebiet führt. An allen drei Flüssen findet Duarte Hinweise auf den illegalen Handel mit Wildtieren sowie auf menschliche Jagdaktivitäten. Im Gegensatz zu den nicht geschützten Flüssen lassen sich allerdings am Rio Gregorio signifikant höhere Zahlen an Primaten und anderen Säugetieren feststellen. Auch wenn es noch nicht perfekt funktioniert, scheint das System der Naturschutzreservate doch Wirkung zu zeigen.

Frau mit Totenkopfäffchen | Für die Zukunft des Sakis und anderer Affenarten muss der Regenwald erhalten werden – und die Jagd zurückgehen. Das geht nur zusammen mit der lokalen Bevölkerung.

Nach dem erfolgreichen Auffinden von Vanzolinis Kahlgesichtigem Saki hoffen die Forscher, der Affe werde künftig als Modellart in der Naturschutzplanung fungieren. Im Wassereinzugsgebiet des Rio Juruá möchten sie ein so genanntes Citizen-Science-Programm ins Leben rufen, in dessen Rahmen Wissenschaftler und einheimische Bevölkerung gemeinsam an der Erforschung wild lebender Tiere und der nachhaltigen Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen arbeiten.

Marsh wünscht sich zudem, eines Tages am Aufbau einer Feldforschungsstation tief im Inneren des brasilianischen Amazonasgebiets mitzuwirken. »Wir Wissenschaftler gehen immer dorthin, wo die Flüsse sind, denn in diese Gebiete können wir ohne Probleme gelangen. Unsere Version der Realität wird also dadurch beeinträchtigt, dass sie sich auf Regionen bezieht, die einfach zu erreichen sind. Wir müssen eine Möglichkeit finden, in die Gebiete jenseits der Flüsse, fernab der menschlichen Zivilisation vorzudringen und herausfinden, was es dort gibt – bevor es für immer verloren ist.«

Der Artikel erschien unter dem Titel »In Search of the Lost« zuerst bei »bioGraphic«, einem digitalen Magazin, das von der »California Academy of Sciences« publiziert wird.

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