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Medikamentenentwicklung: Aus alt mach neu

"Repositioning" - die Suche nach neuen Anwendungsmöglichkeiten für altbekannte Wirkstoffe - wird immer mehr zum Trend in der pharmazeutischen Forschung. Der Grund liegt auf der Hand: Forschung und Entwicklung werden immer teurer und zeitaufwändiger. Wenn man also bereits erschlossene Erkenntnisse zweitverwerten kann, erweitert man finanzielle Spielräume für Innovationen Am Ende steigt auch die Hoffnung auf Medikamente gegen seltene Krankheiten, die sonst als unrentabel gelten.
Repositioning

Wie wird aus einem alten Medikament gegen Arthritis ein neues gegen Amöbenruhr oder aus einem Wirkstoff gegen Angina ein Kassenschlager der Pharmabranche im Kampf gegen Impotenz? Und wieso wird ein Skandalmedikament wie Contergan nach Jahrzehnten zu einem wertvollen Heilmittel? Das Prinzip hinter dieser Art von Recycling nennt sich Repositioning.

Forscher um Sharon Reed von der University of California in San Diego liefern ein Beispiel: Ein bereits seit 25 Jahren zugelassenes Arthritismedikament, das sehr effektiv gegen Entamoeba histolytica eingesetzt werden kann. Der einzellige Parasit löst die jährlich etwa 70 000 Todesfälle verursachende Amöbenruhr aus. Die nun entdeckte Zusatzwirkung bemerkte das Forscherteam, nachdem es ein bestimmtes Enzym des Erregers – das diesen vor Teilen der Immunantwort schützt – als potentielle Zielstruktur für eine medikamentöse Bekämpfung identifiziert hatte. Anschließend testeten die Wissenschaftler verschiedene bekannte Wirkstoffe gegen diese Eiweißstruktur und landeten den erfreulichen Treffer.

Zehntausende Komponenten im High-Throughput-Screening

Was Reed und ihr Team im Kleinen an der Universität praktizieren findet in der industriellen Forschung auf ähnliche Weise in ganz anderen Dimensionen statt. In Hochdurchsatzverfahren, sogenannten High-Throughput-Screenings, werden mehrere zehntausend Komponenten pro Tag getestet. Aus einer riesigen Wirkstoffbibliothek kann der Forscher vom Computer aus die gewünschten Substanzen ins Labor befördern. Auch dort läuft der Screeningprozess vollautomatisiert ab. Ein Scanner erkennt Bindungen zwischen dem ausgesuchten Wirkstoff und einem Zielmolekül und meldet das positive Ergebniss – den "Hit". "Hits" können durch völlig neue Substanzen erzielt werden, aber eben auch bereits bekannte Wirkstoffe sein. Gerade letzteres ist spannend und erwünscht – denn Forscher versuchen zunehmend neue oder weiterentwickelte Anwendungsgebiete für alte Wirksubstanzen zu finden.

Wirkstoffbibliothek | Mehrere Millionen potenzielle Wirkstoffe befinden sich in einer typischen Library. Der auf Schienen gelagerte Roboter entnimmt die Komponenten und transportiert sie zu einem Gate, wo der Austausch mit der Außenwelt stattfindet. Aufgrund des immensen Werts für das Pharmaunternehmen gleicht das Gebäude einem Hochsicherheitstrakt und ist so konzipiert, dass es selbst Naturkatastrophen standhalten würde.

Auch Viagra ist ein Hit – eine neue Aufgabe für den zunächst gescheiterten Wirkstoff Sildenafil, besser bekannt unter seinem Vertriebsnamen. Ursprünglich als Angina-Medikament entwickelt, war die Forschung an diesem Wirkstoff schon eingestellt worden, weil die Nebenwirkungen zu stark und seine Effizienz unbefriedigend waren. Eine der Nebenwirkungen stellte sich in Folgestudien dann aber als durchaus wünschenswert für Patienten mit Erektionsstörungen heraus.

Solche zunächst nicht gewollte Effekte, aber auch völlig neue Wirkzusammenhänge bekannter Substanzen finden aus nahe liegenden Gründen verstärkt Beachtung seitens der Industrie und den Universitäten. Schließlich besitzen bereits untersuchte oder zugelassene Wirkstoffe bekannte und erwünschte pharmakologische Eigenschaften, sie sind also biologisch aktiv und weisen keine toxikologischen Nebeneffekte auf. Unangenehme Überraschungen bei weiteren Forschungsvorhaben lassen sich so reduzieren. Durch den Rückgriff auf Daten, die während der ersten Erforschung angefallen sind, wird die Entwicklung effizienter und weniger zeitaufwändig.

Auf diese Weise lohnt es sich womöglich auch Medikamente für seltene Krankheiten auf den Markt zu bringen, die bislang wegen der geringen Auftrittshäufigkeit in der Bevölkerung als nicht profitabel genug galten. So etwa geschehen bei Canakinumab: Der Wirkstoff war ursprünglich gegen rheumatoide Arthritis entwickelt worden, wurde dann aber wegen nicht zufriedenstellender Ergebnisse vorzeitig eingestellt. Im gleichen Haus wusste ein anderes Entwicklerteam um eine seltene Autoimmunkrankheit namens Muckle-Wells Syndrom, das symptomatisch ähnliche Entzündungsreaktionen wie rheumatoide Arthritis hervorruft. Tatsächlich linderte der eigentlich aufgegebene Wirkstoff gegen Arthritis bei 97 Prozent der Patienten innerhalb kürzester Zeit die Symptome.

Ohne Bioinformatik kein Repositioning

Erfolgsgeschichten wie diese haben dazu geführt, dass es mittlerweile einen ganzen Industriezweig gibt, der sich auf das Repositioning spezialisiert hat. Ohne Bioinformatik geht es dabei nicht mehr. Pharmafirmen haben in ihren Datenbanken Informationen über Wirkstoffe und Zielstrukturen, Targets genannt, aus eigener und öffentlich zugänglicher Forschung gespeichert. Zwischen 5000 und 6000 Strukturen wie zum Beispiel Proteasen, Kinasen oder G-Protein-gekoppelte Rezeptoren sind dort mit einigen Millionen Datenpunkten assoziiert. Wichtig sind etwa Interaktionen zwischen Wirkstoffen und Targets, die Wirkstärke, Lipophilie und Löslichkeit der Verbindung.

Auch das Wissen um Wirkmechanismus und eventuelle Inhibitoren ist essenziell. Manche Stoffe wirken beispielsweise nur auf eine bestimmte Untergruppe von Proteasen, andere auf eine ganze Reihe unterschiedlicher Enzyme. Mithilfe der gesammelten Informationen erstellen Bioinformatiker zu erwartende Wirkprofile, die dann als Ausgangspunkt für die anschließende "Wet-Work", also die Arbeit im Labor dienen. Kristallstrukturbasierte 3D-Modelle werden verwendet, um am Bildschirm die Passform oder Selektivität eines Wirkstoffs speziell auf die räumliche Struktur eines Targets hin zu optimieren.So können die Wirkstoffoptimierer zum Beispiel funktionelle Gruppen entfernen, und so eine bessere Passgenauigkeit in aktiven Zentren von Enzymen erreichen. Mithilfe theoretischer Überlegungen und einer guten Datenlage zu Wirkstoffen und Zielstrukturen lassen sich so recht gute Vorhersagen über die tatsächliche Wirkweise einzelner Substanzen treffen.

Kristallstruktur eines Proteins mit gebundenem Wirkstoff | Solche Modelle werden von Bioinformatikern entworfen, um die Passgenauigkeit eines Wirkstoffs zu optimieren. Im Computerlabor nutzt man 3D-Technik um die räumliche Struktur von Zielmolekül und Wirkstoff bestmöglich erfassen zu können. Per Mausklick lassen sich verschiedenste Eigenschaften wie Lipophilie oder die zugrunde liegende Molekülstruktur anzeigen.

Die Identifizierung einer Zielstruktur ist also der vorausgehende Schritt für die Laborarbeit, die mit den High-Throughput-Screenings beginnt. Beim Repositioning sind ein oder mehrere Wirkstoffe allerdings bekannt und es muss die Wirksamkeit auf ein alternatives Target nachgewiesen werden. Nebenwirkungen die man in vorausgegangenen Studie festgestellt hat, können dafür zum Beispiel Anhaltspunkte liefern. Ähnlich war es beim Repositioning des anfänglich furchtbar fehlgeschlagenen Thalidomids. Bekanntermaßen verursacht Contergan schlimme Fehlbildungen bei Neugeborenen, wenn Mütter das Präparat während der Schwangerschaft einnehmen. Zwar dürfen Schwangere noch immer unter keinen Umständen mit Thalidomid behandelt werden, seine pharmakologischen Eigenschaften werden mittlerweile allerdings mit großem Erfolg zur Behandlung von Lepra, Tuberkulose und bestimmten Krebsarten eingesetzt. Darüber hinaus werden von Fachleuten inzwischen über 30 zusätzliche Indikationen debattiert.

Zeit, ein entscheidender Faktor

Selbst die besten bioinformatischen Vorhersagemodelle treffen in der Realität auf ihre Grenzen. So müssen Wirkstoffe nach vielen Tests oft noch weiter modifiziert werden, bis die Vorversuche im Tiermodell auf klinische Forschung im Patienten übertragen werden kann. Auch hier ist es wieder hilfreich, auf die Daten von Vorgängerstudien zurückgreifen zu können – etwa um bestimmte Patientengruppen, wie im Falle von Thalidomid, von vorne herein auszuschließen. Am Ende dieses Prozesses steht bei der herkömmlichen Medikamentenentwicklung nach durchschnittlich 13 Jahren die Zulassung eines neuen Medikaments. Ein Zeitspanne, die das Repositioning erheblich verkürzen kann.

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