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Planeten: Ausbalanciert

Für Kältegeplagte hätte diese Vorstellung wohl ihren Reiz: Die Erdkugel kippt vorne über, und Deutschland läge plötzlich in den Tropen. Schlechte Science-Fiction? Nicht unbedingt - vielleicht sogar aktive Erdgeschichte.
Die Erde
Karussell- oder Autofahrer kennen das Phänomen zur Genüge: In der Kurve trägt es einen nach außen, und die Fliehkräfte werden umso stärker, je schneller die Biegung genommen wird. Oft genug kippt in diesen Situationen beispielsweise ein schlecht eingeräumter Lieferwagen um, weil der Ladungsschwerpunkt zu hoch lag und die Flieh- die Reibungskräfte, die das Fahrzeug mit in der Spur halten, überstiegen.

Gekippte Erde | Vor rund 800 Millionen Jahren kippte die Erde womöglich vorne über. Dabei blieb die Lage der Erdachse im Raum relativ zur Sonne allerdings weit gehend stabil, sodass der geographische Nordpol weiterhin oben blieb. Der magnetische hingegen bewegte sich zusammen mit den Kontinenten im Vergleich zur Achse äquatorwärts. Würde Ähnliches heute passieren, läge Deutschland plötzlich auf der Südhalbkugel und die Antarktis am Äquator – ohne dass die Plattentektonik dabei eine Rolle spielen würde.
Hierfür ist der Fahrer natürlich meist selbst verantwortlich, doch was macht ein Planet, der mit mehr als 100 000 Kilometern pro Stunde auf einer elliptischen Bahn um die Sonne rast, wenn er auf einmal eine Unwucht hat – etwa weil sich die schweren Kontinente am Pol versammeln? Wirft es ihn aus der Kurve? Kippt er um? Diese spannenden Fragen beschäftigen seit bald 140 Jahren die Wissenschaft; Adam Maloof von der Universität Princeton und seine Kollegen haben jetzt vielleicht erste Antworten.

Sie holten bei Spitzbergen 800 Millionen Jahre alte Sedimentgesteine mit einem auffälligen Inneren vom Meeresgrund. Wenn gegenwärtig eisenspanhaltige Sedimente im Nordatlantik zu Boden sinken, orientieren sich die metallischen Fragmente in Richtung kanadische Arktisinseln, wo sich zur Zeit der magnetische Nordpol befindet. Diese Einregelung ändert sich jeweils mit dem wandernden Magnetpol und kann auch in die komplette Gegenrichtung umschlagen, wenn der entsprechende Süd- mit dem Nordpol die Positionen tauscht. All diese Veränderungen im Erdmagnetfeld spiegeln sich also in den entsprechend empfänglichen Gesteinen wider.

Doch die magnetischen Partikel in Maloofs Proben wiesen eine ganz eigenartige Signatur auf, die sich zusammen mit den Ergebnissen geochemischer Untersuchungen nicht mit den gängigen Theorien zum Geomagnetismus oder der Plattentektonik in Einklang bringen ließen: Ihre Ausrichtung veränderte sich in geologisch kurzer Zeit zweimal um jeweils mehr als fünfzig Grad, was für eine in Etappen stattfindende Umkehr der beiden Magnetpole zu heftig gewesen wäre.

Schnell schlossen die Wissenschaftler verschiedene Erklärungsansätze aus. Sie hielten etwa eine schnelle Rotation der Erdplatte nebst Spitzbergen nicht für plausibel – zumal gleichzeitig noch die Sedimentation rund um die Inseln hätte aussetzen müssen, um die Lücke zwischen die beiden Orientierungen zu reißen. Stattdessen gruben Maloof und sein Team eine alte Theorie aus, die immer wieder – und bislang unbewiesen – durch die Forschungslandschaft geistert: ein Kippen des Erdballs. Die Lage der Erdachse, um die er rotiert, bleibt dabei räumlich relativ zur Sonne weit gehend stabil und damit der geographische Nordpol auch im Norden. Die Erde aber balanciert die ungleich verteilten Gewichte an ihrer Oberfläche oder in ihrem Inneren neu aus, indem sie diese von den Endpunkten der Achse entfernt.

Vor etwa 800 Millionen rotierte die Erde wohl mit einer ebensolchen beträchtlichen Unwucht am Nordpol durch das All, weil sich dort womöglich ein gigantischer Vulkan gebildet hatte, der ihren Schwerpunkt verlagerte. Die an unserem Planeten während seiner Weltraumfahrt um die Sonne zerrenden Fliehkräfte reichten nicht aus, um die Erde aus ihrer Bahn zu werfen. Sie waren aber immerhin stark genug, um sie letztlich zum Kippen zu bringen und damit das störende Gewicht in Richtung Äquator zu verlagern – eine Art echter Polwanderung, durch die der geomagnetische Nordpol ebenfalls in diese Region rutschte und damit die Eisenpartikel in diese Richtung orientierte.

Dieser Prozess vollzog sich nicht über Nacht, in geologischen Zeitmaßstäben verlief er dennoch geradezu rasend schnell. Mit einer Geschwindigkeit von mehreren Metern pro Jahr wechselten die auf der Erdkugel vergleichsweise lagestabilen Kontinente nur durch die Kippbewegung zehn- bis hundert Mal so schnell ihren Standort in Relation zur Erdachse wie bei einer gängigen geotektonischen Plattenbewegung. Nach nur fünf bis zwanzig Millionen Jahren lagen arktische Areale in tropischen Gefilden und umgekehrt – zum Vergleich: Seit der Trennung von Afrika und Südamerika vergingen ungefähr 140 Millionen Jahre, bis sie ihre heutige Position einnahmen.

Mit jener Polwanderung würden auch merkwürdige chemische Wandelungen und Meeresspiegelschwankungen in den Ozeanen erklärbar, die zu anderen Epochen von Eiszeiten bewerkstelligt wurden. Es gibt jedoch momentan keinerlei Hinweise auf eine vergleichbare Abkühlung der Erde vor rund 800 Millionen Jahren. Wenn aber relativ plötzlich Flüsse ihre gelöste und feste Fracht nicht mehr ins Nordmeer kippen, sondern in tropische Gewässer, könnte dies die entsprechenden geochemischen Fingerabdrücke in den Sedimenten hinterlassen, so die Forscher.

Um ihre These zu untermauern, suchen sie nun nach weiteren Gesteinen aus jener bewegten Zeit, was sich eher schwierig gestaltet, da diese zumeist schon verwittert sind. Erfolg versprechende Landpartien will Maloofs Team allerdings demnächst in Australien unter die Lupe nehmen. Doch gleich, ob sich die Polwanderung dann bestätigt oder nicht, gegenwärtig saust die Erde jedenfalls nicht auf einem Schlingerkurs durchs All: Die Landmassen sind ausgewogen verteilt.

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