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Biografie: Ausbruch aus "Schloss Langweil"

Er war Weltreisender in Sachen Wissenschaft, Universalgelehrter, Humanist und eine der Geistesgrößen der deutschen Geschichte: Am 6. Mai jährt sich der Todestag von Alexander von Humboldt zum 150. Mal.
Alexander von Humboldt
Es ist ein beeindruckender Zug, der sich am 10. Mai 1859 in Richtung des Berliner Doms in Bewegung setzt: Vorneweg vier königliche Kammerherrn, dahinter ein Sechsspänner mit dem Sarg, gefolgt von den Staatsministern, dem Diplomatischen Korps, den Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Künste, den Trägern des Ordens Pour le Mérite, den Professoren der Berliner Universitäten, den Lehrern der Berliner Schulen und den Beamten der königlichen Verwaltung. Unzählbar die Menge, die sich diesem offiziellen Zug anschließt oder ihn am Wegesrand an sich vorüberziehen lässt. Seit der Beisetzung der Märzgefallenen von 1848 hat Berlin keinen derartigen Leichenzug mehr gesehen: Die Stadt nimmt Abschied von einem, den sie kaum drei Jahre zuvor zu ihrem Ehrenbürger gemacht hat – und der doch viel lieber in der Fremde gestorben wäre.

Alexander von Humboldt | Julius Schrader malte 1859 dieses letzte Porträt des Universalgelehrten Alexander von Humboldt.
Nein, heimatliche Gefühle hat Alexander von Humboldt seiner Geburtsstadt nicht unbedingt entgegengebracht. Hier steht "Schloss Langweil", wie er das elterliche Gut in Tegel nennt, Symbol einer als freudlos empfundenen Jugendzeit, welcher der 1769 geborene Humboldt nur zu gern entfliehen wollte. Und hierhin zurückkehren muss der mittlerweile zum königlich-preußischen Kammerherrn aufgestiegene Humboldt 1827, nach zwei Jahrzehnten wissenschaftlicher Arbeit in Paris: zurückgerufen von Friedrich Wilhelm III., der seinen berühmtesten Wissenschaftler fortan als geistvollen Gesprächspartner an der königlichen Tafel sehen möchte.

Wider dem Feudalsystem

Dazwischen liegt jene Reise, die Humboldts Weltruf als Wissenschaftler begründen sollte – und deren Auswertung ihn bis an sein Lebensende beschäftigen wird. Schon als Jugendlicher hat sich Humboldt für die Entdeckungsfahrten eines James Cook begeistert. Während des Studiums in Göttingen lernt er Georg Forster kennen, der Cook auf dessen zweiter Weltreise begleitet hatte. Mit Forster, dem "hellsten Stern meiner Jugend", reist Humboldt 1790 nach England und ins revolutionäre Paris.

Die kurze Reise ist für den jungen Studenten in doppelter Hinsicht prägend: Politisch, indem sie seine bereits latent vorhandene Ablehnung des Feudalsystems festigt ("Nur eine Wohltat, die Ausrottung des Feudalsystems und aller aristokratischen Vorurteile […] wird schon gegenwärtig genossen"). Wissenschaftlich, indem sie einem seit früher Jugend vorherrschenden Gefühl Humboldts nach Aufbruch, nach Ausbruch aus der Enge der Berliner Existenz in eine Richtung lenkt: Forsters Vorbild folgend, will er als Forschungsreisender ferne Länder erkunden.

Nach dem Tod der Mutter 1796 gelangt Humboldt in den Besitz der Finanzmittel, dieses Ziel zu verwirklichen. Seine Stellung als Beamter im preußischen Bergdepartement gibt er trotz glänzender Karriereaussichten auf, um sich ganz der Vorbereitung seiner großen Reise nach Mittel- und Südamerika zu widmen: "Ich präpariere mich noch einige Jahre und sammle Instrumente. Ein bis anderthalb Jahre bleibe ich in Italien, um mich mit Vulkanen genau bekannt zu machen, dann geht es über Paris nach England […] und dann mit englischen Schiffen nach Westindien."

"Glücklichster Zufall meines Lebens"

Zwar machen die Feldzüge eines gewissen Napoleon Bonaparte eine exakte Umsetzung dieser Planungen unmöglich, doch als Humboldt im Juni 1799 an Bord der spanischen Fregatte "Pizarro" von La Coruña aus nach Amerika aufbricht, hat er immerhin eine Wagenladung der modernsten Messinstrumente im Gepäck. Dazu einen vom spanischen König ausgestellten Pass, der ihm buchstäblich alle Türen in Übersee öffnet ("Nie war einem Reisenden eine umfassendere Erlaubnis zugestanden worden, nie hatte die spanische Regierung einem Fremden größeres Vertrauen bewiesen."). Und die Gesellschaft von Aimé Bonpland, der sich als ebenso unerschrockener und belastbarer Reisegefährte sowie als kongenialer Forschungskollege erweisen sollte: "Diese Bekanntschaft war einer der glücklichsten Zufälle meines Lebens."

Gemeinsam erkunden Humboldt und Bonpland in den folgenden fünf Jahren den halben Kontinent. Sie bereisen den Orinoco und widerlegen die zeitgenössische Annahme, wonach die großen Flüsse der Erde untereinander nicht verbunden sein können, indem sie eine Verbindung zwischen Orinoco und Amazonas nachweisen. Sie erkunden die Andenvulkane und stellen mit der Besteigung des mehr als 6000 Meter hohen Chimborazo einen neuen Höhenweltrekord auf, auch wenn sie den Gipfel nicht ganz erreichten. Sie bereisen Kuba und Mexiko, erforschen die Lebensverhältnisse der indianischen Bevölkerung in den Anden, beobachten astronomische Phänomene wie die Leoniden, vermessen die Gebirgsriesen und den Golfstrom, sammeln, präparieren und werten aus, immer wieder angespornt von jener Rastlosigkeit, die Humboldt schon seit frühester Jugend in sich spürt (ein "inneres Treiben […] als wären es 10 000 Säue"). Als sie, nach einem Abstecher zu Präsident Thomas Jefferson in Washington, im August 1804 in Bordeaux wieder europäischen Boden betreten, umfasst allein ihre Ausbeute an Pflanzen gut 60 000 Präparate, darunter mehr als 6000 von bis dahin unbekannten Arten.

Die nahezu ausschließlich privat finanzierte Reise, so ertragreich sie wissenschaftlich war, bedeutete für Humboldt finanziell eine immense Belastung. Eine jährliche Leibrente des preußischen Königs, unmittelbar nach Humboldts Rückkehr bewilligt, brachte da eine willkommene Entlastung, auch wenn sie den eigentlich nach Unabhängigkeit strebenden Forscher an den Hof band. In den folgenden Jahren dient Humboldt, den seine Sprachkenntnisse ebenso wie seine gewandte, weltläufige Art zum geborenen Diplomaten machen, dem Monarchen mehrfach bei Gesandtschaften in die französische Hauptstadt – gute Gelegenheiten, sich dem ungeliebten Berlin zu entziehen. 1807 schließlich siedelt er mit königlicher Einwilligung ganz nach Paris über, widmet sich fortan ausschließlich der Auswertung seiner Forschungsreise und der Veröffentlichung ihrer Ergebnisse. Seine 1808 erschienen "Ansichten der Natur" werden zum Bestseller, in den folgenden Jahren erscheinenen zunächst in französischer Sprache seine "Ansichten der Kordilleren" sowie die "Monumente der eingeborenen Völker Amerikas".

Vision universeller Wissenschaft

Zwischendurch feilt der Rastlose an neuen Reiseplänen. Asien will er erkunden, gewissermaßen als Gegenpol zur Erforschung des Westens nun den Osten bereisen. Doch trotz aller Bemühungen kann sich Humboldt diesen Traum lange nicht verwirklichen, erst 1829 erhält er die Gelegenheit für eine Forschungsreise nach Russland. Auf Einladung des Zaren bereist der inzwischen 60-Jährige Sibirien, per Kutsche, mit Leibdiener und wissenschaftlichem Assistentenstab – eine vom Zarenhof durchgeplante Exkursion, der nichts vom Abenteuer der Amerikareise anhaftet. Immerhin, die gesammelten Erkenntnisse verwertet Humboldt in seinem Werk "Asie Centrale" (1843/44).

In Berlin, wohin der König seinen Kammerherrn 1827 aus Paris zurückgerufen hat, macht sich Humboldt einen Namen durch eine Reihe von Vorträgen, die er im Winter 1828 zunächst an der Universität, dann wegen des hohen Publikumsandrangs in der Singakademie hält. Die halbe Stadt, vom Höfling bis zum Handwerker, lauscht den in anschaulicher Sprache gehaltenen Vorträgen, die den Grundstock für jenes Monumentalwerk bilden, das Humboldt bis zu seinem Tod beschäftigen wird: den "Kosmos".

Mit dem "Kosmos" setzt Humboldt seiner Vision von universeller Wissenschaft das passende Monument. "Ich habe den tollen Einfall, die ganze materielle Welt, alles was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume, von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose auf den Granitfelsen wissen, alles in einem Werke darzustellen, und in einem Werke, das zugleich in lebendiger Sprache anregt und das Gemüt ergötzt. Jede große und wichtige Idee, die irgendwo aufglimmt, muss neben den Tatsachen hier verzeichnet sein", schreibt er 1834 an Varnhagen van Ense. Bis zu seinem Tod arbeitet er an dem Mammutprojekt, dessen erster Band 1845 erscheint. Die Fertigstellung der insgesamt fünfbändigen Ausgabe erlebt er nicht mehr – das Werk, das die für damalige Verhältnisse ungewöhnlich hohe Auflage von mehr als 80 000 erreicht, wird zu seinem Vermächtnis.

Seine Arbeit bedeutet für Humboldt willkommene Ablenkung von den Verpflichtungen bei Hof, denen der republikanisch gesinnte Forscher nur wenig abgewinnen kann. Immerhin, seine weltweite Anerkennung als Wissenschaftler und die Gunst zweier Herrscher – Friedrich Wilhelm III. und dessen Nachfolger Friedrich Wilhelm IV. – bewahren ihn vor den Nachstellungen einer reaktionären Hofgesellschaft. Im Verlauf der Berliner Märzrevolution von 1848 verlangt das Volk, das sich vor dem Berliner Stadtschloss versammelt hat, lautstark nach Humboldt. Doch zum Volkstribun taugt der Gelehrte nicht: Als er sich auf dem Balkon zeigt, hält er keine Rede, sondern verneigt sich nur stumm vor der Menge. Am nächsten Tag, als die Gefallenen der Straßenkämpfe zu Grabe getragen werden, folgt Humboldt dem Leichenzug – so wie Berlin etwas mehr als ein Jahrzehnt später seinem Sarg folgen wird.

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