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Langzeitforschung: Keine Daten mehr aus der Ostsee

Wegen der Corona-Krise wurden viele Forschungsfahrten in der Ostsee abgesagt. Dadurch entstehen empfindliche Lücken in jahrzehntealten Messreihen, auf die Meeres- und Klimaforscher weltweit zurückgreifen müssen.
Forschungsschiff Littorina am Geomar-Anleger

Einmal im Monat fährt das Forschungsschiff Littorina raus in die Eckernförder Bucht nördlich von Kiel und erhebt Daten. Die wissenschaftliche Besatzung misst Wassertemperatur, Salz- sowie Sauerstoffgehalt, Nährstoffmengen im Wasser und andere Werte, um sie später sorgfältig in Datenreihen einzupflegen, die den Zustand der westlichen Ostsee kontinuierlich beschreiben.

Seit 1957 laufen die Forschungen dort, am so genannten »Boknis Eck« – jeden Monat, fast ohne Unterbrechung. Normalerweise. Jetzt aber bleibt die Littorina gezwungenermaßen im Hafen. Sowohl die Christian-Albrechts-Universität Kiel als auch das Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel, die das Schiff gemeinsam betreiben, müssen ihre Arbeit wegen der Corona-Pandemie einschränken. »Die Fahrten nach Boknis Eck finden bis auf Weiteres nicht statt. Die März- und Aprilausfahrten sind der Krise schon zum Opfer gefallen. Mal schauen, ob wir im Mai wieder fahren können«, teilt Hermann Bange vom Geomar mit, der die Fahrten zu Boknis Eck koordiniert.

Auch am Leibniz-Institut für Ostseeforschung in Warnemünde musste bedingt durch das Corona-Virus schon eine zweiwöchige Messfahrt ausfallen, die den Zustand der Ostsee für dieses Frühjahr dokumentieren sollte. Die zugehörige Messreihe mit aktuell fünf Fahrten pro Jahr geht bis ins Jahr 1969 zurück – ausgefallen ist eine Messung zuletzt im Jahr 2006.

Langzeitmessungen sind eine wertvolle Ressource

Solche Lücken sind für die Forschung problematisch, besonders wenn sie in langen Datenreihen entstehen – und gerade in der Meeresforschung. »Meeresökosysteme hängen eng mit Faktoren wie Wetter und Klima zusammen und unterliegen deshalb vielen Schwankungen«, erklärt Thorsten Reusch, Leiter des Forschungsbereichs Marine Ökologie am Geomar. »Um diese Systeme verstehen zu können und Trends zu erkennen, muss man sehr weit zurückgehen. Mit Daten über einen Zeitraum von zehn Jahren kann man eigentlich gar nichts aussagen«, sagt er. Ein Grund dafür ist die Nordatlantische Oszillation, eine regelmäßige Druckschwankung über dem Atlantik zwischen Islandtief und Azorenhoch, die sich alle zehn bis zwölf Jahren wiederholt und die marinen Ökosysteme beeinflusst.

Die Ostsee unterliegt aber nicht nur natürlichen Einflüssen, sondern wird auch von menschlichen Aktivitäten – gewollt oder ungewollt – verändert. Um diese Eingriffe zu verstehen, sind Langzeitdaten wichtig. So sorgten Schadstoffe und Düngemittel aus der Landwirtschaft im Lauf des vergangenen Jahrhunderts dafür, dass sich der Zustand der Ostsee immer mehr verschlechterte.

»Nur durch Langzeitdaten wie die Zeitserie vor Boknis Eck können wir sehen, ob Interventionen Erfolg haben«Thorsten Reusch, Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel

»Ziemlich zeitgleich in den 1970er Jahren haben alle Anrainerstaaten gemerkt, dass sie etwas tun müssen«, erzählt Thorsten Reusch. Es wurden Kläranlagen gebaut und die Düngemitteleinträge aus der Landwirtschaft gedrosselt. »Nur durch Langzeitdaten wie die Serie vor Boknis Eck können wir erkennen, ob solche Interventionen Erfolg haben«, betont Reusch. Tatsächlich zeigten die Daten von Boknis Eck, dass die Nährstoffkonzentration bis etwa Mitte der 1980er Jahre konstant zunahm, sich danach aber verringerte. Heute ist sie ungefähr auf dem Stand der 1960er Jahre, dennoch ist die Nährstoffbelastung noch zu hoch.

Lücken von ein oder zwei Monaten in der Datenreihe an Boknis Eck seien allerdings nicht ungewöhnlich, erklärt Koordinator Hermann Bange. Die gäbe es bisweilen auch durch schlechte Windverhältnisse oder, weil das Schiff gewartet werden muss. In den frühen 1980er Jahren hatte es zwei längere Messpausen gegeben – warum, weiß Bange nicht. Diese Lücken werden heute mit Modellberechnungen aufgefüllt.

»Wir simulieren damit die Zeitserie. Wenn wir das auch für die restliche Zeit gut hinkriegen, können wir mit gutem Gewissen davon ausgehen, dass sich die Daten in den Lücken ebenso verhalten hätten«, erklärt Bange und fügt hinzu: »Das ist das Einzige, was wir machen können.« Abgesehen von solchen statistischen Methoden lassen sich Lücken manchmal mit den Daten anderer, ungestörter Messstationen rekonstruieren.

Auch die Back-up-Lösung entfällt

Diese Möglichkeit gäbe es an Boknis Eck eigentlich ebenfalls, wäre da nicht jener Vorfall im vergangenen Herbst gewesen. Um die monatlich erhobenen Daten des Forschungsschiffes mit enger getakteten Messungen zu ergänzen, hatte das Geomar 2016 ein Unterwasserobservatorium in der Eckernförder Bucht fest im Meeresboden verankert. Die Sensoren maßen Wassertemperatur, Salzgehalt und andere Daten kontinuierlich und schickten sie automatisch im Sekundentakt ans Geomar.

Doch im August 2019 riss der Datenstrom plötzlich ab. Hermann Bange und seine Kollegen gingen von einer gewöhnlichen Störung aus, ausgelöst etwa durch Schmutz auf den Sensoren. Als ein paar Tage später Taucher zum Observatorium schwammen, um das Problem zu beheben, fanden sie allerdings: nichts. Das gesamte Observatorium, schwer wie ein Kleinwagen, war verschwunden. Einzig das abgerissene Stromkabel lag auf dem Meeresgrund, die dicken Kupferfasern ragten offen ins trübe Ostseewasser.

Was genau passiert war, ist bis heute unklar. Der Teil der Bucht rund um die Forschungsstation ist Sperrgebiet, weder Hobbysegler noch Fischer dürfen dort einfahren. Es wurden auch keine Schiffe registriert. Diese sind nämlich verpflichtet, ihre Position ständig über das so genannte Automatische Identifikationssystem (AIS) durchzugeben. Aber zum fraglichen Zeitpunkt gab es keine Bewegungen auf dem Gebiet. Schiffe können ihr AIS allerdings deaktivieren – widerrechtlich. Doch Zeugen hatten ebenfalls nichts gesehen. Im Netz kursieren diverse Theorien, die von illegalen U-Booten und Torpedotests bis hin zu einem großen Meeresungeheuer in der Ostsee reichen. »Wahrscheinlich«, sagt Bange, »war es ein illegaler Fischer, der mit einem Schleppnetz das Observatorium mitgerissen hat.«

Tourismus und Fischerei profitieren von den Messungen

Zweck des Observatoriums war es gewesen, mehr über die westliche Ostsee herauszufinden, als es mit den monatlichen Ausfahrten möglich ist. »Die Messungen vom Schiff aus sind wichtig, um die langfristigen Trends zu sehen. Aber kurzfristige Ereignisse sieht man damit weniger gut, außer man hat großes Glück«, erklärt Bange.

Beispielsweise wird in der Eckernförder Bucht immer wieder durch bestimmte Windlagen sauerstoffarmes Wasser an die Oberfläche gedrückt. Das führt zu einem kurzfristigen, lokalen Fischsterben. »Eines unserer Ziele war es, diese Ereignisse besser zu verstehen, indem wir die monatlichen und täglichen Zeitserien zusammenführen und so ein Vorhersagesystem entwickeln«, berichtet Bange. Ein solches System wäre für Fischer interessant und ebenso für die Tourismusbranche, die tote Fische am Strand wenig schätzt.

Das Observatorium sollte zehn Jahre arbeiten. Jetzt entsteht aber erst einmal ein Loch in der geplanten Zeitreihe von mindestens anderthalb Jahren. Und die bisher erfassten Daten reichen für eine Modellberechnung nicht aus, um die große Lücke statistisch zu füllen. »Die Daten sind sicher nicht komplett nutzlos, aber der Vorfall ist einfach maximal ärgerlich«, sagt Meeresökologe Reusch.

Die Ostsee als Zeitmaschine

Dass der Wissenschaftler sich ärgert, liegt auch an der großen Bedeutung der Ostsee für die internationale Meeresforschung. Wenn es um menschliche Einflüsse und die Auswirkungen des Klimawandels geht, liefert die Ostsee ein Modell für die Weltmeere. Reusch und einige Kollegen bezeichneten sie in einer Studie in »Science Advances« von 2018 sogar als »Zeitmaschine«.

Der Meeresökologe erklärt, warum: »Die Ostsee nimmt wie ein Brennglas viele Einflüsse durch den Menschen vorweg, die in anderen Bereichen erst im Entstehen sind. Überdüngung und Überfischung hat es hier alles schon gegeben.« Außerdem laufe die klimabedingte Erwärmung in der Ostsee – im Mittelwert gemessen – dreimal so schnell ab wie im globalen Ozean. »Zusammen mit einem chronischen Sauerstoffmangel addiert sich das zu extremen Versauerungswerten, die für den Weltozean erst weit im nächsten Jahrhundert vorhergesagt werden«, erklärt Reusch noch. »Derart geballt entstehen vielfache Stressfaktoren gleichzeitig, die für die Ostsee einzigartig sind«, fasst er zusammen. Zu beobachten, wie sich die Ökosysteme der Ostsee entwickeln, liefert also wertvolles Wissen darüber, womit Küstenregionen an anderen Orten der Erde noch zu rechnen haben – und was man dagegen tun kann.

»Die Messungen vom Schiff aus sind wichtig, um die langfristigen Trends zu sehen«Hermann Bange, Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel

Denn die Ostsee ist auch dafür beispielhaft, wie Meere unter diesen Bedingungen geschützt werden können. Schon 1974 schlossen sich die neun Anrainerstaaten des kleinen Binnenmeeres zusammen und gründeten die so genannte Helsinki-Kommission (Helcom), die gemeinsame Schutzmaßnahmen für die Ostsee garantierte – trotz der politisch herausfordernden Situation während des Kalten Kriegs.

Die Helcom überlebte den Fall des Eisernen Vorhangs ebenso wie die EU-Osterweiterung im Jahr 2004, und sie besteht heute noch – neben den verbindlichen Richtlinien, die innerhalb der EU gelten. Und sie sorgt dafür, dass auch Russland mit an Bord bleibt. »Unter komplett schwierigen Bedingungen hat man es geschafft, ein Management zu etablieren. Hätte man nichts getan, hätten wir heute vermutlich eine Kloake vor der Haustür«, sagt Reusch.

Der Klimawandel macht die Maßnahmen zunichte

Dass die ergriffenen Maßnahmen funktioniert haben, ist an den Datenreihen von Boknis Eck deutlich abzulesen. Gleichzeitig zeigte sich, dass klimabedingte Veränderungen einige der Schutzmaßnahmen wieder zunichtemachten. Der Sauerstoffgehalt hätte mit sinkenden Nährstoffwerten eigentlich wieder ansteigen müssen. Bisher geschah das aber nicht, vermutlich weil die Wassertemperatur langsam, aber stetig steigt.

All diese Erkenntnisse liegen vor, weil die Ostsee schon so lange so genau erforscht wird. Datenreihen, die so weit zurückreichen wie die an Boknis Eck, gibt es nur an drei weiteren Orten auf der Erde – auf Helgoland, Hawaii und den Bermudas. »Die Ostsee ist im Grunde ein riesiges natürliches Experiment«, sagt Reusch. Was die nun entstehenden Datenlücken für die Ostseeforschung auf lange Sicht bedeuten, kann er nicht sagen. »So etwas kommt normalerweise nicht vor. Wissenschaftler sind sehr diszipliniert, und wenn eine Messung erst mal 10, 20 Jahre läuft, wissen alle, dass das ein Schatz ist. Den zu zerstören, ist eine mittelschwere Katastrophe.«

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